Verletzende Ehrlichkeit, oder: Wie offen muss man sein?

Lügen und falsche Ehrlichkeit können schmerzen. © Isabella under cc

Ehrlichkeit oder Wahrheit kann auch verletzen. Manchmal trifft man auf diese herausfordernd aggressive Seite, nicht unbedingt in intimen Partnerschaften, sondern schon im oberflächlicheren Umgang mit einander. Das beginnt damit, dass man einen anderen Menschen taktvoll auf etwas hinweisen kann oder ihn öffentlich bloß stellen. Manche verstecken ihre Taktlosigkeit und Aggression dahinter, dass sie angeblich nur ehrlich sind und leugnen im Grunde auch da den Gesamtkontext. Man muss von einem Menschen erwarten dürfen, dass er einschätzen kann, wann man jemanden diskret zur Seite nimmt, statt ihn öffentlich zu demütigen.

Doch es gibt noch eine andere Haltung, nämlich die von Menschen, die der Ansicht sind, jemand sei nur richtig ehrlich, wenn er mir sagt, dass er mich für einen Drecksack hält. Wenn jemand sagt, man sei ein netter, sympathischer Mensch, so ist das eine Lüge, denn eigentlich weiß man ja, dass Menschen im allgemeinen nichts voneinander halten und sich bestenfalls ausnutzen. Wer das zugibt, ist wenigstens ehrlich, die anderen halten nichts von einem und lügen obendrein noch.

Die Grundeinstellung ist gesetzt: Menschen halten nichts von einander. Daran gibt es auch nichts zu rütteln. Diese negative Haltung zieht sich durch, wie ein roter Faden. Menschen halten nichts von einander, sie verletzen einander, wenn sie ehrlich sind oder sie belügen einander. Die Begründung schützt sich immer wieder selbst und ist zirkulär. Wer was anderes denkt, ist naiv, wer zustimmt ist Realist, stimmt aber eben zu, dass es um unser Miteinander nicht gut bestellt ist.

Wie Entwicklungslinien von einander abhängen

Wenn das alles wahr ist, gibt es keine Moral. Oder besser: Moral ist dann eine beliebige Erfindung, womöglich von Schwächlingen, ohne jedes Fundament. Man nimmt Rücksicht auf einander, weil man sich nicht zutraut, sich durchsetzen zu können. Gemeinsamkeit wird dabei unter dem Aspekt der Konkurrenz betrachtet. Oft mit dem ‚Argument‘, das Leben sei nun mal so, die Natur sei hart.

Daran stimmen gleich zwei Dinge nicht. Erstens, ist der Blick auf Aggression und Konkurrenz nur ein Aspekt der Natur. Zweitens, ist es ein naturalistischer Fehlschluss, aus dem Sein (wie es ist) ein Sollen (dass es so auch gut und richtig ist) abzuleiten. Doch die Natur kennt neben der Konkurrenz ohnehin auch eine kooperative und sorgenvolle Seite, spätestens einsetzend bei den höheren Säugetieren und den Affektdispositionen, die eine gezieltere Brutpflege ermöglichte.

Der Schutz vor Verantwortung ist nicht nur der Schutz davor für jemand anderen gerade stehen zu müssen. Die andere Seite ist die Einstellung, dass niemand für mich verantwortlich ist. Dahinter steht die narzisstische Idee niemanden zu brauchen, niemandem Dank zu schulden und alles allein hinzubekommen. Der Schutz vor wechselseitiger Verantwortung, ja die Leugnung, dass es sie wirklich gibt, ist gleichzeitig der Schutz vor Liebe. Die Liebe in intimen Paarbeziehungen besteht (mindestens) aus der Vereinigung von sexueller Leidenschaft auf der einen, sowie Zärtlichkeit und Sorge um den anderen und die gemeinsame Beziehung, auf der anderen Seite. Die Leidenschaft wird nicht geleugnet, wenn man mehrere Partner zur gleichen Zeit hat, aber dass Liebe eben auch bedeutet, dass mir ein anderer Mensch wichtig ist, auch über den Moment hinaus, dass er abhängig von mir ist und ich von ihm, ist die Einsicht, vor der man sich schützt. Diese Sicht reiht sich ein, ist eine milde Form des roten Fadens, der sich durch eine negative Grundeinstellung zieht, in der Menschen einander prinzipiell unfreundlich begegnen, sich verletzen, benutzen und unaufrichtig im Umgang miteinander sind.

Dieser Glaube an wechselseitiges Desinteresse kann in so widersprüchlichen Erscheinungen wie der Lüge, dem Wunsch nach absoluter Ehrlichkeit und Offenheit oder auch der Weigerung sich festzulegen auftreten. Was aber ebenfalls erkennbar wird, ist, wie bestimmte Denkmuster, die in aller Regel zirkulär begründet werden und damit nicht oder falsch begründet sind, ein spezifisches emotionales Erleben, was um sich selbst kreist und die eigenen Einstellungen auf andere in einer projektiven Identifikation überträgt, sowie eine damit assoziierte moralische Einstellung, dass eben alle so sind und man sich nicht vormachen soll, Hand in Hand gehen.

Wachsende Aggression und schwindende Verantwortung im Umgang mit anderen

Der Grad in dem Aggression in den wechselseitigen Umgang getröpfelt wird und der Mangel an Liebe entsprechen einander. Wer sich vor der Verantwortung für eine Beziehung schützt, schützt sich auch vor dem sorgevollen Aspekt der Liebe. Da ein gesundes, integriertes Ich aber mehr oder minder gleichbedeutend mit einem Ich ist, das überwiegend intakte Beziehungen zu anderen erlebt hat, eingehen kann und ganz einfach normal findet, hängen auch diese Bereiche zusammen.

Sich und den anderen als wirklich eigenständigen Menschen sehen und wertschätzen zu können, mit eigenen Vorstellungen, Wünschen und Sichtweisen, ist das was fehlt, wenn das eigene Ich schwach ist. Beziehungen zu anderen pendeln dann zwischen kühlem Funktionalismus und Verschmelzungswünschen hin und her. Beiden ist gemeinsam, dass der andere nicht als eigenständiger Mensch gesehen wird. Beim Funktionalismus ist er eine Art Dienstleister oder eine Figur in dem großen Strategiespiel, als das das Leben dann meist betrachtet wird. Bei den Verschmelzungen wird der andere vereinnahmt und als Kopie der eigenen Wünsche dargestellt, das höchste Ideal ist, dass der andere genauso wird, wie ich bin oder mein idealisiertes Ich zu sein scheint.

Dieser Zusammenhang existiert nicht nur in intimen Zweierbeziehungen oder engen Freundschaften, sondern in allen Bereichen des Lebens, in abgeschwächter Form. Auch Bekanntschaften oder Arbeitsbeziehungen. Diese haben einen höheren funktionalistischen Anteil, aber dieser sollte nicht alles überragen. Der andere muss immer auch noch als Mensch gesehen und gewürdigt werden.

Diese Stelle ist hochinteressant, weil es prinzipiell andere Sichtweisen gibt und die bloße Gewohnheit mit der viele von uns immer noch den Wert des Individuums hochhalten, noch kein Argument ist. Dass Kant uns ins Stammbuch geschrieben hat, man solle den anderen nicht ausschließlich als Mittel zum Zweck sehen und das Christentum auf Nächstenliebe pocht (ohne als Kirchentum besonders genial in der Umsetzung zu sein), ist die eine Sache, doch es gab auch Nietzsche und auch mitten in Europa Einstellungen, in denen das Individuum weniger gewürdigt wird.

Immerhin sieht man sich bisweilen noch genötigt sich zu rechtfertigen und auch hier sehen wir eine Ablehnung der Verantwortung, nach dem gleichen Muster, wie oben geschildert: zirkuläre Begründungen, eine lieblos-funktionalistische Emotionalität und daraus resultierend eine Korrumpierbarkeit, also ein moralischer Einbruch. Zu dem Fehlschluss, dass das Leben eben so ist, gesellt sich ein weiterer: Das machen doch alle. Man selbst ist sogar so ‚ehrlich‘ und tut nicht so, als ob es anders sei, steht also moralisch sogar noch besser da, weil man nicht so tut, als ob.

Das ist falsch, weil Verantwortung und Sorge (und weitere Empfindungen) bei der Überzahl der Menschen existieren. Nur bekommen ich-schwache Menschen diese Emotionen nicht zu fassen und denken, diese seien ein verlogenes Spiel. So übergeht und untergräbt man sein Gewissen, auch wenn es schon richtig ist, dass auch dann, wenn man gründlich nachdenkt und seine Erfahrungen rekapituliert, man findet, dass menschliches Miteinander durch die Frage geprägt ist, wer wen, wann und zu was gebrauchen kann. Wird man nicht mehr gebraucht, ist man nutzlos. Unsere Ideale sind andere, aber unser Alltag ist in vielen Fällen bereits von dieser funktionalistischen Einstellung und von Lügen und Halbwahrheiten durchdrungen.

Wenn die Lüge salonfähig wird

Die Steigerung dieser Haltung ist die zynische Einstellung, dass es nicht nur hier und da kleine Schweinereien gibt, sondern, dass immer und überall gelogen wird. Nun ist das ganze Leben nur noch Strategiespiel und Menschen, die an etwas wie Vertrauen glauben, erscheinen als naive Träumer oder Spinner. Hauptsache, man erreicht sein Ziel, das ist es, worum es im Leben angeblich geht.

Aufrichtigkeit, Vertrauen und ein echtes Interesse für einander existieren in dieser Welt nicht mehr, was einerseits eine moralische Bankrotterklärung ist, aber andererseits auf einen Mangel an eigenem Erleben verweist. Wenn diese Haltung zu einer allgemeinen Einstellung in bestimmten politischen Systemen oder gesellschaftlichen Gruppen wird, so ist dies Ausdruck einer weit fortgeschrittenen Regression der Massen und wenn sich die Überzeugung vollständig durchsetzt, sind wir auf dem Durchmarsch zu einer faschistischen Einstellung, bei der es nur noch darum geht, sich mit allen Mitteln durchzusetzen, der Kampf, die Durchsetzung, die prinzipielle Überlegenheit zu demonstrieren ist alles, worum es geht.

Dass man sich betrügt, belügt und für eine kurze Zeit als nützlich ansieht, aber aber auch nicht mehr, ist dann normal. Es spricht viel dafür, dass eine grundsätzlich aggressive Einstellung scheitern wird, aber zu dieser dann meist in der Praxis gewonnen Einsicht wird viel zerstört und viel Zeit vertan.

Ideale werden selten erreicht, aber darum geht es auch nicht. Vielmehr dienen sie uns als eine Art Leitstern, an dem wir uns orientieren können. Dass wir irgendwo auf dem Weg sind, gehört dazu. Wenn Moral, komplexere Emotionen und Räume, in denen wechselseitiges Vertrauen wachsen kann zerstört werden, machen immer weniger Menschen, die Erfahrung, dass dies eine reale Erfahrung ist, die nicht zuletzt das eigene Leben bereichert.

Man muss nichts übertreiben. Notlügen sind in der Regel moralisch okay, wenn man sich klar macht, worum es bei ihnen geht. Etwa wenn man einen andere Menschen davor schützen will, bloß gestellt zu werden. Wenn man die Zusammenhänge zwischen intakten Objektbeziehungen, einem stabilen und integrierten Ich, dessen fester Teil immer ein, Wertesystem ist, das weder zu beliebig, noch perfektionistisch überfordernd ist, erkennt, dann wird vielleicht die Gefahr bewusst, in der wir seit längerer Zeit leben. Lügen und Halbwahrheiten erleben wir nicht nur in der Doppelmoral, die uns recht offen begegnet, sondern in der fortschreitenden Funktionalisierung unserer gesellschaftlichen Beziehungen, sprich, die letztlich fiese Unterteilung in nützliche und unnütze Menschen.

Es gibt in verschiedenen Ecken der Gesellschaft immer mehr Menschen, die das auf dem Schirm haben und für die ein respektvolles und symmetrisches Miteinander eintreten. Es wir viele Wege geben, sie werden eher kleinteilig und dezentral werden, die wachsenden globalen Krisen zeigen uns, dass wir zwar nicht gleich sind, aber im selben Boot sitzen. Lügen und Halbwahrheiten sind auch bei uns verbreitet, doch die Ideale leben noch, sind mächtig und an sie können wir anknüpfen.