So stellen wir uns den Wahnsinn vor © Anno Málie under cc

Wenn man die Grenzen des Wahnsinns überschritten hat, hat man sich von der Normalität verabschiedet, aber nicht alles, was von den Kriterien des Normalen abweicht ist Wahnsinn.

Umgangsprachlich reden wir von Wahnsinn oder Irresein, technisch sind damit psychotische Episoden gemeint. Aber auch die kommen in unterschiedlichen Schweregraden daher. Manche sind so subtil, dass man eigene Tests braucht, um zu prüfen, ob sich jemand diesseits oder jenseits der Grenzen des Wahnsinns befindet.

Der harte Wahnsinn ist unmöglich zu übersehen. Wahnsinn ist für andere oft schockierend, da sich hier jemand radikal von allen Konventionen verabschiedet hat. Der andere ist für uns dann nicht mehr kontrollierbar, redet, empfindet und verhält sich auffallend fremd.

Realität als soziales Konstrukt

Wir sehen die sogenannte Realität in der Regel als etwas an, was für alle gleichermaßen vorhanden ist. Die Realität ist einfach da, die Dinge sind ganz einfach so. Bis dann ein Wahnsinniger daher kommt und uns demonstriert, dass man die Dinge auch ganz anders sehen kann.

Bei der Definition des Wahnsinns kommen zwei Aspekte zusammen, die sich miteinander verbinden, wobei der zweite Aspekt der relevantere ist. Der erste kann eine Fehlwahrnehmung sein, eine Halluzination. Im Grunde kann diese Fehlwahrnehmung all unsere Sinne erfassen, prominent sind optische und akustische Fehlwahrnehmungen.

Wobei die Fehlwahrnehmung schon gravierender Art sein muss. Wenn jemand einen Sehfehler hat und die Gegenstände in der Ferne nicht scharf erkennen kann, könnte man das auch als Fehlwahrnehmung deuten, wir kämen aber nicht auf die Idee zu sagen, da sei jemand irre. Er sieht halt nur schlecht. Der andere würde sagen, dass da schon etwas ist, das er es aber einfach nicht genau erkennen kann. Das Gleiche gilt, wenn jemand schwerhörig ist. Wir würden daraus keine Psychose ableiten.

Eine andere Kategorie kommt dann ins Spiel, wenn jemand etwas sieht, was nicht ist. Die berühmten weißen Mäuse der Trinker, die sich bis in die Halluzination saufen. Wahrnehmungen im Fieberwahn. Oder eben auch die zunächst nicht zu erklärende Halluzination, wenn auf einmal die Jungfrau Maria in der Zimmerecke oder ein Löwe mitten im Zimmer steht.

Ebenso bekannt sind innere Stimmen, die man hört, obwohl niemand da ist, der spricht. Besonders, wenn es imperative, also befehlende Stimmen sind. Es gibt auch Wahrnehmungsstörungen, die sich auf das Körperinnere oder bestimmte Körperteile beziehen, wenn jemand das Gefühl hat, er hätte Tiere in sich oder eine fremde Macht hätte Einfluss über seinen Körper oder bestimmte Teile davon.

Wobei Letzteres schon in den wichtigeren zweiten Aspekt übergeht, die Interpretation. Wahrnehmung und ihre Interpretation, die stark von der gewöhnlichen abweicht, das sind die Grenzen des Wahnsinns, an denen man sich bewegt. Die Grenze ist überschritten, wenn man mit der Fehlwahrnehmung, die man hat, völlig identifiziert ist. Was leicht fällt, schließlich sieht und hört man die Dinge ja tatsächlich. Aber es geht auch anders: Man kann einen Fieberwahn haben und eine kritische Distanz zu seinen eigenen Wahrnehmungen behalten. Etwa, wenn man eine Person im Raum sieht und andere, die im Raum sind fragt, ob da wirklich jemand in der Ecke sitzt oder ob das sich das nur einbildet. Dann ist man mit der Realität seiner Wahrnehmung nicht identifiziert, was man Pseudohalluzination nennt.

Gleiches gilt für innere Stimmen oder Geräusche. Es ist nicht mehr automatisch ein Zeichen von Wahnsinn, wenn man Stimmen hört, die Frage ist auch hier, ob man seine Wahrnehmungen kritisch reflektieren kann.

‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘ und dann erst wird es interessant. Wie gehe ich damit um, dass der andere es nicht sieht? Wahnsinnige sind davon überzeugt, dass das, was sie erleben genau so ist und dass andere dies bezweifeln, übergehen sie einfach. Sie sind für die Mitwelt nicht mehr erreichbar, es findet kein echter Austausch auf Augenhöhe mehr statt. Die anderen denken dann gewöhnlich, dass der mit den Sonderwahrnehmungen spinnt, doch der denkt es von den ‚Normalen‘ auch. Wer liegt nun richtig? Man könnte erst mal feststellen, dass man abweichende Wahrnehmungen hat. Wie geht man nun weiter vor? Im Grunde ist es eine Mehrheitsentscheidung.

Wenn einer einen Engel sieht, aber 100 andere nicht, hat der eine schlechte Karten. Nun könnte es aber dennoch sein, dass der eine eben besonders feine Sinne hat und etwas kann, was andere nicht können. Die Chancen stehen gut, dass von 100 Menschen auch keiner ein Liszt-Sonate spielen oder einen Doppel-Axel springen kann.

Also geht man so vor: Gesetzt den Fall, jemand könnte etwas wahrnehmen, was der andere nicht wahrnehmen kann, dann müsste der, der mehr wahrnimmt verstehen, dass der, der anderes wahrnimmt, die Ausführungen dessen, der mehr wahrnimmt, zunächst merkwürdig findet. Der Fokus liegt hier also auf der Fähigkeit zur Empathie. Nicht auf der Wahrnehmung. Kann man verstehen, dass der andere nicht ohne weitere Erklärung verstehen kann, warum man seine Welt so sieht, wie man sie sieht (im doppelten Sinne der Sinneswahrnehmung und der Interpretation), ist alles in Ordnung, die Fähigkeit zur Empathie ist erhalten. Kann man nicht verstehen, warum anderen die eigene Sicht seltsam finden, so ist eine der Grenzen des Wahnsinns überschritten. Man versteht die Welt nicht mehr und die versteht einen auch nicht. Das Band der Kommunikation reißt.

Wie wahnsinnig ist die Normalität?

Es gibt immer wieder mal Variationen der Ansicht, nicht der Wahnsinn sei das Problem, sondern die Normalität. Unser Verhalten sei so irrational und verrückt, dass wahnsinnig zu werden gewissermaßen eine ganz normale und folgerichtige Reaktion auf den Zustand unserer Welt sei. Darum müsse sich auch nicht der Wahnsinnige ändern, sondern die restliche Welt. Der Wahnsinn sei nur die sensible, manchmal auch supergesunde Reaktion auf auf eine verrückte Welt.

Es gibt zwar gute Gründe dafür eine, mitunter drastische Veränderung unserer Lebensweise einzufordern, aber gleichzeitig entzieht diese Einstellung den Betroffenen jede Möglichkeit sich helfen zu lassen, denn mit ihnen ist ja scheinbar alles in Ordnung, die Welt spinnt ja. Es muss sich ‚einfach nur‘ die Welt ändern und das heißt für Betroffene, dass ihnen so lange nicht zu helfen ist.

Ähnlich, aber noch verschärfter wird das Argument, wenn man es, politisch motiviert, als Fehler ansieht, jemanden zu behandeln oder sich behandeln zu lassen, da hier eigentlich politischer Widerstand geboten wäre. Jede gelungene Behandlung kommt dann einer herrschaftsstabilisierenden Kapitulation vor dem System gleich. Anders gesagt, man ist bereit Leidende für seine politischen Überzeugungen zu opfern. Auch hier wäre der Betroffene wieder fremd bestimmt.

Doch ist die Beziehung zwischen dem Betroffenen und seinem Umfeld eng, so dass systemische Ansätze in der Therapie sehr effektiv sind. Das System Familie und seine Kommunikationsstruktur wurde als Ursache für den Wahnsinn zwar vermutlich überschätzt – hier vor allem die Doppelbindungstheorie – aber dennoch sind Therapieansätze, die systemisch ansetzen oft erfolgreich und stabilisierend.

Da die Doppelbindungstheorie überschätzt ist, kann man auch aus weiteren Szenarien die Luft lassen. Mythos von der Einsicht in die Krankheit ist so eines. Damit wird behauptet, dass man auch an sich normale Menschen dadurch in die Zwickmühle der Doppelbindung bringt, indem man sagt, dass sie auf dem Weg der Besserung seien, wenn sie über eine Einsicht verfügen, dass sie krank, also in dem Fall psychotisch sind. Aber dann anerkennen sie, dass sie krank sind. Erkennen sie das nicht an, steht es um ihre psychische Gesundheit jedoch noch schlimmer, so dass man tun und lassen kann, was man will, man gesteht den eigenen Wahnsinn immer ein.

Diese Sicht fällt sofort in sich zusammen, wenn wir uns vor Augen führen, dass die Fähigkeit zur Empathie der entscheidende Punkt ist: Kann ich verstehen, dass meine Schilderung dem anderen seltsam vorkommt? Hier braucht man keine inhaltlichen Bekenntnisse abzulegen, sondern nur zu zeigen, dass man zur Empathie fähig ist.

Dennoch ist die Frage nach dem Wahnsinn unserer Normalität gerechtfertigt. Wir ahnen oder wissen, dass unsere Lebensweise uns und andere in den Abgrund reißt, ändern aber wenig daran, sondern schlittern sehenden Auges in eine Katastrophe, da so gut wie alles, was wir jetzt ‚ganz plötzlich‘ als problematisch ansehen, seit Jahrzehnten bekannt ist. Man kann das ziemlich irre finden, im landläufigen Sinne, aber es ist nicht psychotisch, da vieles kühl kalkuliert ist. Es ist oft verantwortungslos, aber nicht wahnsinnig.

Genie und Wahn

Willkommen in der Normalität © Lucíola Correia under cc

Die soziale Konstruktion der Normalität hat mehrere Aspekte. Einerseits stabilisiert sie die Welt, indem die Abläufe immer weiter gehen, doch andererseits ist diese Unbeirrbarkeit auch das Problem der Gegenwart. Viele Menschen fühlen sich heute schon von der Welt überfordert, die immer komplexer wird immer näher zusammenrückt, in dem Sinne, dass wir in einer globalisierten Welt immer weniger Ereignisse kennen, die wir ignorieren können.

Der oft stabilisierende Effekt der Normalität verkehrt sich in sein Gegenteil, wenn er immer mehr Menschen stresst und verunsichert. Man weiß, dass eine einfache, verlässliche und klar strukturierte Umgebung sehr stabilisierend auf die Psyche wirkt, doch wird unsere Lebenswirklichkeit immer komplexer. Damit verliert sie ihre schützende Funktion für immer mehr Menschen.

Gleichzeitig ist die Interpretation aber für viele andere zu unterkomplex und ihre Ideen werden ausgebremst. Die eine breite intellektuelle Mittelschicht haben wir nicht mehr, der Mainstream bröckelt. Den Wahn können wir schlechter stabilisieren, die Genies werden dennoch ausgebremst.

Auch Genies haben abweichende Sichtweisen. Auch sie werden nicht verstanden und man könnte meinen, dass sie spinnen. Bei den meisten Genies sollten wir jedoch erwarten dürfen, dass sie verstehen können, dass ihre Sicht als sonderbar angesehen wird. Wer die Sicht der Scientific Community überragt, wird diese dennoch verstehen und erklären können, wo sie zu kurz springt.

Durch die Maschen fallen könnte jedoch ein genialer Autodidakt, der eine brillante Idee hat, die von der Wissenschaftsgemeinde jedoch ignoriert wird. Vielleicht spricht er die Sprache der Community nicht, weil ihn oder sie die handelsüblichen Ideen nie interessiert haben. Bei dieser Art von Genies sind die Grenzen des Wahnsinns in anderer Hinsicht erreicht.

Magisches Denken und Wahn

Der Wahn hat eine enge Beziehung zum magischen Denken. Vom magischen Denken kann man zum einen sprechen, wenn man glaubt, dass alles was passiert eine spezielle Bedeutung für mich hat, zum anderen, wenn ich glaube, dass ich kraft meiner Gedanken die Welt beeinflussen kann oder andere, durch Gedanken, Verhexung oder vermeintliche, technische Mittel meine Gedanken, Gefühle oder Handlungen steuern können.

Es gilt aus diesem magischen Weltbild mit seinem Denken in wechselseitiger Möglichkeit der Beeinflussung durch den Willen auszusteigen. Andererseits gibt es eben auch die Möglichkeit in diesem Weltbild zu bleiben und vom Schamanen oder Voodoo Priester seine bösen Geister vertreiben zu lassen. Das klingt für uns schräg und antiquiert, hat aber Erfolg. Deutlich weniger als unsere wissenschaftlichen Ansätze könnte man meinen, aber leider schneiden die bei Untersuchungen (falls man diese überhaupt durchführt) kaum besser ab, als die magischen Methoden.

Es ist die Frage, ob man solche Methoden aus einer Kultur exportieren kann oder ob es möglich ist, magische Anteile in ein komplexes Weltbild einzubauen oder ob man sich, wie man manchmal auch hört eindeutig zwischen dem einen oder anderen Weltbild entscheiden muss, weil es ansonsten zu Verwirrungen kommt, mit denen man es ohnehin schon zu tun hat.

Wortmagie begegnet uns jedoch heute noch in anderen Bereichen. Wenn wir denken, dass die Vermeidung böser Wörter böses Denken verhindert, dann ist das ziemlich nahe an der Wortmagie und wenn davon geredet wird, dass die Verwendung ‚toxischer Begriffe‘ bewirken können, wie durch ein trojanisches Pferd eine ganz Ideologie ins Bewusstsein zu hieven, dann ist das ganz einfach weder psychologisch noch philosophisch auf dem Stand von Wittgenstein und Quine für die Philosophie der Sprache und Kernberg und anderen, für die Psychologie. Sie alle wissen, dass die Bedeutung eines Wortes in seinem Gebrauch liegt. Paartherapeuten können ein Lied davon singen, dass nämlich der Begriff des einen, etwas ziemlich anderes zum Inhalt haben kann, als der des Partners.

Anders gesagt, man meint mit einem Begriff, das was man damit meint und dass benutzte Begriffe, die man nicht versteht sich zu ganzen Ideologien entfalten (oder ihre Vermeidung böses Denken verunmöglicht), ist ganz einfach Unsinn.

Philosophie, Sinnsuche und ihre Beziehung zum Wahn

Bei der Diskussion um den Wahn kommt es immer wieder zu seltsamen Verkürzungen. Unlängst hörte ich eine Radiosendung über psychische Probleme, in der ein Mädchen auftrat, das unter Ängsten litt und sich länger schon mit existentiellen und philosophischen Fragen nach dem Sinn beschäftigte. Man konnte den Eindruck gewinnen, als sei die Beschäftigung mit Philosophie irgendwie bedenklich oder gar Pathologien befördernd.

Das Gegenteil ist der Fall. Philosophie und Psychotherapie sind enge Verwandte, weil sie das endlose Kreisen in fruchtlosen Gedanken beenden können, indem sie das Denken wirklich weiter bringen. Das Denken reicht von endlosen und zermürbenden Schleifen von Grübelzwängen bis zur reifen Reflexion und Philosophie hat rein gar nichts mit fruchtlosem Grübeln zu tun, aber sehr viel mit der Möglichkeit sein Denken reflexiv zu ordnen. Man muss sich nur an den Gedanken gewöhnen, dass Philosophie auch Antworten parat hat und die Frage, was das alles zu bedeuten hat, alles andere als bedeutungsschwer ist.

Klarheit und Struktur durch rationale Begründungen sind das Wesen der Philosophie, die helfen kann große Ordnungen in das Denken zu bringen. Es schadet nichts, dabei auch Themen von Sinn und Tod ins Spiel zu bringen und existentielle Psychologen (der bekannteste war sicher Irvin D. Yalom) flechten das ganz bewusst sein. Die Gefahr ist, auf der Stelle zu treten und das Persönliche, um das es in einer Therapie geht, zugunsten des Allgemeinen zu verlassen, gute Therapeuten können die Themen aber immer auch die individuelle Situation zurück führen.

Spiritualität und die Grenzen des Wahnsinns

Die Spiritualität ist noch mal ein besonderes Kapitel, weil sie vielen Menschen ebenso fremd ist, wie der Wahn selbst. Manche sehen zwischen beiden keinen Unterschied und spirituelle Erfahrungen werden oft mit einer besonderen Lust attackiert. Eine dieser Attacken besteht darin, vermeintlich spirituellen Sonderleistungen Pathologien zuzuordnen, gerne jene, die aus dem Reich des Wahns stammen.

Der Narzisst hat den Wunsch mit der Welt zu verschmelzen, aber in dem Sinne, dass er meint, die Welt solle so werden, wie er. Bezogen auf die wesentlichen Ansichten und Einstellungen. Im Wahn geht es noch ein Stück weiter, da werden die Verschmelzungen körperlicher. Jemand aus der Ferne lähmt meine Beine und hindert mich weiter zu gehen. Bei spirituellen Erfahrungen der ist es ähnlich, die Grenzen zwischen dem anderen und mit lösen sich auf. Spirituelle Erfahrungen sind sehr oft, vielleicht immer, Einheitserfahrungen.

Das ist sicher befremdlich, weil es nicht unseren Alltagswahrnehmungen entspricht, aber es wird immer wieder beschrieben. Wir haben gelernt, wo das Ich beginnt und endet, über sinnliche Erfahrungen und Konventionen, aber manchmal machen wir eben die Erfahrung, dass diese Grenzen verschoben werden können. Da diese Erfahrungen selten sind, prägen sie nicht unsere alltäglichen Sprachspiele. Aber sie sind häufig genug und immer ähnlich beschrieben, von Wahnsinnigen und von Mystikern.

Die Frage ist dann letztlich nur noch, wie man die Erfahrungen zuordnet. Der Wahnsinnige wird im Moment seines Wahns nicht verstehen, dass dem anderen seine Erfahrung seltsam vorkommt, der Mystiker kann das verstehen. Eventuell will er dem anderen helfen seine Perspektive zu erweitern und geht deshalb nicht auf das konventionelle Spiel ein, aber viele Mystiker entwerfen geradezu Landkarten dieser inneren Wege und Welten. Wenn die Kriterien des Wahns nicht erfüllt sind, liegt kein Wahn vor und die Grenzen des Wahnsinns müssen neu und anders gezogen werden.