Dein Leben scheint komplizierter als das der anderen zu verlaufen und du weißt nicht warum? Bei dir macht sich die Befürchtung breit, du könntest anders funktionieren als »normale« Menschen? Eventuell hast du es sogar schon gesagt bekommen? Du kannst nie wirklich abschalten, bist äußerst sensibel und dir fallen Details auf, welche die meisten nicht bemerken. Vielleicht spürst du sogar zwischenmenschlich verschiedene Stimmungen und Atmosphären im Raum. Hochemotional, hypersensibel, hochbegabt (oder auch Asperger-Syndrom) hast du schon einmal in Bezug auf dein kognitives und emotionales Erleben gehört? Die Wahrnehmungs- und Denkstruktur sowie das emotionale Erleben der irgendwie Andersartigen mit ihrem Gefühl, nicht in die Welt zu passen, kann zu Problemen in der Lebensbewältigung, beim Aufrechterhalten von Beziehungen und zu großen Selbstzweifeln führen. Das Wrong-Planet-Syndrom, wie man es auch nennen kann, lässt dich teilweise mit Unverständnis auf andere Menschen blicken. So sehr du dich auch bemühst, du verstehst sie nur schwerlich. Und wirst andersherum auch von den »neurotypischen Menschen« oft nicht verstanden …

Das Konstrukt der Mentalen Hocheffizienz

Die französische Psychotherapeutin und Kommunikationstrainerin Christel Petitcollin hat in ihrem Buch Ich denke zu viel: Wie wir das Chaos im Kopf bändigen können das Konstrukt der mentalen Hocheffizienz geformt, welches bei einigen Menschen mit den eingangs aufgeführten Beschreibungen eine Rolle spielen könnte.
Was macht mentale Hocheffizienz aus? Gehörst du zu diesen Menschen und lassen sich dadurch deine Schwierigkeiten im Umgang mit dem Leben erklären?

Mentale Hocheffizienz: Ich bin nicht verrückt …!

gezeichnet Tunnel Wasser Frau Mann orange

Mentale Hocheffizienz: intensive Wahrnehmungseindrücke und gedankliche Analysen bis ins Detail © TORLEY under cc

Mentale Hocheffizienz umfasst die Bereiche der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens und Handelns. So manches Mal haben die Betroffenen die Annahme von sich, verrückt zu sein. Dabei entsprechen sie lediglich nicht der Norm. Deshalb verspüren sie Leidensdruck, weil sie als Sonderlinge gelten, anecken und nicht in die Gesellschaft zu passen scheinen. Streng genommen bewegen wir uns aus psychologischer Sicht aufgrund dieser Sachverhalte im klinischen Bereich. Denn Leidensdruck ist immer etwas, was psychologischer Aufmerksamkeit bedarf, vor allem, wenn dieser Leidensdruck auf einer psychischen Struktur beruht, welche nicht der Mehrheit – nicht der Norm – entspricht. Doch im Grunde wird es einfach Zeit, statt des individuellen Kopfes die Köpfe der Gesellschaft zurechtzurücken …

Das Gefühl, nicht in die Welt zu passen, relativieren

Neurologische Diversität verbirgt sich hinter dem noch verhältnismäßig jungen Begriff der Neurodiversität. Dieses Konzept beinhaltet mehr Toleranz gegenüber der Andersartigkeit. Frei nach dem Motto: Ich bin anders, du auch – na und?
Nach der Annahme der Neurodiversität sollten verschiedene neurobiologische Variationen bei den Menschen parallel existieren können, ohne dass man den neurobiologischen Minderheiten ein Label oder Krankheitsetikett zuordnet. Der gesellschaftliche Diskurs dazu ist noch jung und so sind die Diskussionen zu den begrifflichen Feinheiten in vollem Gange, die sich unter anderem auf die Grenzen des Konzeptes in Bezug auf real existierende Beeinträchtigungen und die Konsequenzen für die Betroffenen beziehen, wenn man sie beispielsweise nicht mit einer Diagnose versehen würde. Dies könnte durchaus zu Vor- und Nachteilen führen. Deshalb ist ein verantwortungsvoller Umgang in dieser Debatte unabdingbar.

Doch zurück zur mentalen Hocheffizienz: Wodurch zeichnet sich das Gefühl aus, nicht in die Welt zu passen?

Chaos im Kopf: Bin ich mental hocheffizient?

Bei mental Hocheffizienten steht der Geist niemals still. Ständig sind die Gedanken auf Hochtouren, kreisen im Kopf immerzu. Bis zu 30 % der Menschen sollen über eine dominantere rechte Gehirnhälfte verfügen, welche mit den andersartigen Wahrnehmungs- und Denkmustern in Zusammenhang stehen könnte. Wir haben nachfolgend einige Aspekte in Anlehnung an Petitcollins Ausführungen dargelegt, um mentale Hocheffizienz zu charakterisieren.

Sensitive, andersartige Wahrnehmung

Rennauto gelb Frontansicht

Mit einem schwer zu bändigendem Hochleistungsmotor hat man das Gefühl, nicht in die Welt zu passen © Sourav chanda under cc

  • weil an Reizen aus der Umwelt überdurchschnittlich viel wahrgenommen wird, kommt es zu einer Reizüberflutung und der Konsequenz, sich von der Welt überfordert und unfähig zu fühlen
  • Eindrücke werden intensiver erlebt und auch vermeintliche Belanglosigkeiten werden wahrgenommen
  • das Gefühl, von außen und »wie durch Glas« auf die anderen Menschen zu blicken; Gefühl der Entfremdung
  • Gerüche, Geräusche, taktile Reize stärker wahrnehmen (z.B. altersbedingte hormonelle Umstellungen bei Menschen oder kratzige Stoffe)
  • mental Hocheffiziente registrieren in Gesprächen mit anderen selbst kleine Details
  • sind sensibel hinsichtlich der eigenen Körperwahrnehmung
  • Geist ist ständig in Alarmbereitschaft
  • fühlen sich häufig gestört von Geräuschen, Licht oder Gerüchen, aber es ist ihnen oft nicht bewusst
  • können einen Song schon an den ersten paar Takten erkennen (oder die Stimme eines Synchronsprechers oder den besonderen Geschmack eines Gerichtes aus der Kindheit etc.); halten diese Fähigkeiten für selbstverständlich; denken, das ist bei allen Menschen so, schließlich hat ein mental Hocheffizienter nur diese eine Wahrnehmung von Geburt an

Unzählige Informationen brechen über ihn herein, und er registriert eine unglaubliche Fülle von Details. Anhand dieser Daten versucht er, die fehlenden Puzzleteile zu erraten, und stellt sich Tausende von Fragen. Oft ist er dabei voller Misstrauen und sehr angespannt.

Christel Petitcollin, Psychotherapeutin

Gedankenflut

  • ständig kreisen die Gedanken um irgendein Thema
  • bis ins Kleinste wird Gesagtes beleuchtet, jeder einzelne Satz gedanklich seziert
  • dabei entstehen teilweise für andere sehr abstruse Annahmen, die jedoch vom mental Hocheffizienten nur als ein mögliches gedankliches Fazit aufgemacht werden; schließlich erwägen sie in alle Richtungen und lassen jedwede Hypothese zu, denn ihre Gedanken führen sie oft auf neue, andere Wege; bildhaft: endlos verzweigtes Denken; versuchen wie ein Bachlauf kreuz und quer und mit Schlängelungen und Umwegen alle möglichen Varianten zu berücksichtigen; wollen einfach wirklich sicher sein in ihrem Fazit, sind es aber oft nicht
  • können nicht abschalten; Kopf kommt nie zur Ruhe, nicht einmal nachts
  • empfinden diese Gedankenflut hin und wieder selbst als »nervig« und dieses ewige Herumwälzen von Themen
  • die Sprache erleben sie als eingrenzend; sie bringt die Gedankenautobahnen im Gehirn nur unzureichend zum Ausdruck
  • demzufolge drucksen sie oft herum und sagen gar nichts, weil sie wissen, dass sie das, was sie im Kopf haben, nicht vollständig und angemessen ausdrücken können
  • scheitern an der Subtilität und Komplexität ihres Denkens
  • Aber: fragen sich oft, warum die anderen nicht sehen, was für sie selbst glasklar zu sein scheint; hinterfragen sich oft zweifelnd (Oder sehe ich das vielleicht komplett falsch?)

Was diesen Menschen am meisten fehlt, sind Gewissheiten, auf die sie sich stützen könnten. Da sie ständig alles infrage stellen, bewegen sie sich geistig auf Treibsand. Stabilität wäre eine wunderbare Alternative!

Christel Petitcollin, Psychotherapeutin

Neben der Überreizung in der Wahrnehmung und den klassischen Gedankenautobahnen, auf denen man nie zur Ruhe kommt, gibt es noch weitere Aspekte, welche mit der mentalen Hocheffizienz und dem Gefühl, nicht in die Welt zu passen, einhergehen. Mehr dazu lest ihr hier.