Jürgen Habermas, ein Philosoph von Rang, der auch über Kenntnisse in der Psychotherapie verfügt. © thierry ehrmann under cc

Philosophie und Psychotherapie würde man auf der ersten Blick nicht unbedingt als etwas ansehen, das viel mit einander zu tun hat. Ist Psychotherapie nicht eine Methode, um psychisch kranken Menschen zu helfen? Und um zu philosophieren, muss man ja nicht psychisch krank sein, ist es nicht sogar besser, wenn man gesund ist? Wenn hier von Psychotherapie die Rede ist, dann sind hier vornehmlich aufdeckende Therapieformen gemeint, wie die Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, psychodynamische Therapieformen und andere, bei denen es primär darum geht, über deutende Kommunikation einem Menschen zu helfen.

Reflexion: Eine Methode und der Blick in zwei Richtungen

Philosophie ist nicht einfach nur ein Nachdenken über die Welt, sondern ist im Laufe der vielen Jahrhunderte zu einer systematischen Methode geworden. Wenn man über die Welt oder sein Leben nachdenkt, so ist das prinzipiell oft gut, aber unsystematisch, in den meisten Fällen ganz einfach, weil man es nicht gewohnt ist reflexiv zu denken oder besser, das reflexive Denken konsequent durchzuhalten. In aller Regel sind beim alltäglichen Nachdenken Reflexionen, Erinnerungen, Meinungen und Vorlieben gemischt, wenn man sagt, dass das Leben früher anders war und dann mitteilt, ob man meint, es sei früher besser gewesen oder eben gerade nicht.

Für die Kommunikation im Alltag ist das genau richtig, weil es bei dieser darum geht sich selbst mitzuteilen. Das Buch, das wir selbst gelesen haben, der Film, den man auch gesehen hat, die Party, auf der man gemeinsam war, da hat man ja in etwa die gleichen Rohdaten mitbekommen und nun interessiert uns nicht die Nacherzählung, sondern, wie unser Gegenüber das, was wir ebenfalls kennen. erlebt hat. Wie fand sie das Buch, was sagt er zu dem Film oder zu den Gästen auf der Party, zur Stimmung dort und so weiter. Wir gleichen so unser Koordinatensystem ab, erstaunlicherweise dadurch, dass wir als Paar, wenn wir von einer Party kommen, auf der wir Spaß hatten, erst mal über die Gastgeber, die wir mögen, herziehen und lästern. Es geht um Meinungen, aber auch ein unbewusstes Feintuning des gemeinsamen Wertesystems.

Philosophie will etwas anderes, sie will bestimmte Einstellungen rational begründen und das bedeutet, so, dass sie jeder nachvollziehen können soll, der diesen Argumenten folgt. Es geht nicht darum der gleichen Meinung zu sein, sondern heraus zu extrahieren, dass wenn jemand dieser Meinung ist, sich für ihn, logisch folgerichtig bestimmte Verpflichtungen ergeben. Verpflichtungen im Denken und in der Praxis.

Wer etwa daran glaubt, dass es einen Schöpfergott gibt, der sich den Menschen geoffenbart hat und der es gut mit den Menschen meint, wenn sie seine Gebote befolgen, für den ist es folgerichtig gemäß dieser zu leben. Das kann man auch dann als logisch und richtig anerkennen, wenn man Atheist ist und den Menschen für ein Produkt der biologischen Evolution hält, nur teilt man dann in vielen Fällen die Prämissen des Gottgläubigen nicht. Man würde damit nicht anerkennen, dass es Gott gibt, sondern die Richtigkeit, dass, wenn jemand an eine sich offenbarenden Schöpfergott glaubt, er den Offenbarungen folgen sollte und könnte dennoch die Position einnehmen, dass man selbst nicht an einen Schöpfergott glaubt.

Im Alltag streitet man sich über manches. Ob es früher besser war oder dies nur Einbildung ist, ob etwas gerecht ist oder wie ein gutes Leben aussieht. Die Philosophie fragt prinzipieller und unpersönlicher. Sie will nicht wissen, was man gerecht findet, sondern, was Gerechtigkeit ist. Nicht, wie man selbst das Gute definiert, sondern was das Gute eigentlich im allgemeinsten Sinne ist und auch nicht, was man schön findet, sondern was Schönheit als solche eigentlich ist. Im Ritt durch die Jahrhunderte unter immer anderen Perspektiven und im Lichte neuer Erkenntnisse diverser Einzeldisziplinen, die sich bisweilen von der Philosophie abtrennten, um ihre eigenen Wege zu gehen, aber weiterhin Quelle der philosophischen Reflexion sind.

Philosophie ist alles andere als Gerede, sondern hat den Anspruch Fragen tatsächlich, bisweilen auch abschließend, zu beantworten. Philosophie heißt daher auch nicht: kann man so, kann man aber auch anders sehen, nein, wenn es gelingt Argumentationslinien bis zum Letzten zu treiben, können Fragen auch abschließend oder zwingend beantwortet werden, nur Philosophie ist fisselig, supergründlich und dreht jeder Stein im Zweifel zwei mal um. Sie muss dabei nicht stehen bleiben, es gibt daher auch die großen Weltentwürfe, die einer gewissen Architektur folgen, aber auch diese müssen in sich, in ihrer Argumentation folgerichtig und konsistent sein.

Dass aber weiterhin auch alte Fragen immer wieder neu gestellt werden, hängt damit zusammen, dass nicht jede Frage eine prinzipielle Antwort findet und sich, etwa im Zeitalter digitaler Medien neu stellt. Macht das Internet uns freier, weil es jedem von uns Möglichkeiten an die Hand gibt, von denen wir vor wenigen Jahren nur zu träumen wagten? Oder verengt sich der dramatisch erweiterte Horizont längst wieder, weil wir in nie gekanntem Ausmaß ausspioniert werden und Algorithmen uns vermeintlich die Welt präsentieren, die uns bekannt ist und zum klicken, liken und kaufen motiviert. Machen uns die Medien der Freiheit zunehmend unfrei?

Was bedeutet Freiheit in digitalen Zeiten, könnte man fragen und die Antwort geben, dass, wenn man das bekommt, was einen interessiert, dies doch super ist. Genau das will man ja, nicht gelangweilt werden, keinen unnützen Kram. Ein Hoch auf kluge Algorithmen, die einem das vom Hals halten. Oder? Aber ist Freiheit, wenn ich jederzeit bekomme, was ich will? Wenn ich tun und lassen kann, was ich will? Wenn wir dem nachgehen, sind wir mitten in der philosophischen Reflexion, nämlich bei der Frage, was Freiheit denn überhaupt ist. Im Lichte der Hirnforschung, des Internet und vielleicht demnächst effektiver Methoden zur Veränderung des Genpools. Sind wir dann Götter, die über ihr Schicksal selbst bestimmen können oder sind wir Sklaven, die sich von Algorithmen diktieren lassen, was sie essen und trinken dürfen und wie viele Schritte sie noch machen müssen und wen sie mal wieder kontaktieren sollten?

Reflexion in der Philosophie geht erst einmal vom Individuum und dessen Meinung weg, hin zum Allgemeinsten, was man findet. Dieses Allgemeinste ist die Begründung, in der Regel eine Reihe von Argumenten und Schlüssen aus diesen, die dann im besten Fall, jedem der klug genug ist, um den Argumenten zu folgen, einleuchtet. Immer verbunden mit der Möglichkeit, zu zeigen, dass man die Argumentation verstanden hat und ihr, ebenfalls wohl begründet, zu widersprechen.

Reflexion in der Psychotherapie

Wer zur Psychotherapie geht, kommt mit einem Problem, er versteht in einem oder mehreren Aspekten die Welt nicht mehr. Das ist ziemlich wörtlich gemeint, denn meistens kommt man mit der Einstellung, dass alles so einfach sein könnte oder es vielleicht sogar auch mal war, aber nun scheinen auf einmal alle verrückt geworden zu sein, in der Partnerschaft, bei der Arbeit oder gleich auf der ganzen Welt.

Damit man die Welt wieder versteht, bieten die das Unbewusste aufdeckenden Psychotherapeuten dem Patienten Deutungen an. Deutungen, die die Darstellung der Erlebensgeschichte des Patienten aufgreifen und mit dem anfüllen oder ergänzen, worauf zu achten sie gelernt haben: auf in der Darstellung verborgene unbewusste Konflikte und ausgeblendete Bereiche. Oft Variationen gesellschaftlich verdrängter Themen, die um Sex, Macht und Aggressionen – deren Übertreibungen und Hemmungen – kreisen, die in der eigenen Psyche des Patienten oft keine Bedeutung spielen, im Verhalten anderer aber überhäufig entdeckt werden.

Damit die Deutungen auch etwas bringen, ist es nötig, sie nicht einfach über sich ergehen zu lassen, sie nur blind abzuwehren oder brav und folgsam einzubauen, sondern der Patient muss aktiv mit ihnen arbeiten. Wenn eine Deutung trifft, macht sie auch betroffen. Diese Betroffenheit wird oft als Schock erlebt, aber warum ist das überhaupt ein Schock? Weil man sich selbst in der Deutung des Therapeuten erkannt hat. Man hat das unmittelbare Gefühl: „Verdammt, das stimmt.“ Da es sich um unbewusste oder Schattenthemen handelt, geht es dabei um Bereiche, Angewohnheiten, Einstellungen, die man Jahre oder Jahrzehnte lang nicht sehen wollte. Gar nicht so selten sind weite Teile des eigenen Lebens so gebaut, dass man nur ja seinem Schatten oder Unbewussten nicht begegnet.

Kann man eine Deutung, die gravierend ist annehmen, so wirkt das, wie gesagt, wie ein Schock, aber danach wird die Geschichte im Grunde erst interessant. Nun ist man mit der Einsicht konfrontiert, in der hat man sich (besser) erkannt, die nun drängende Frage ist wieder eine der Reflexion und der Rekonstruktion: Was bedeutet das jetzt eigentlich für mich? Ganz konkret, für mein Leben, meine Partnerschaft, meine Arbeit, für all das, wofür ich immer gestanden und mit dem ich mit identifiziert habe? Eine Deutung oder eine Reihe von Deutungen, die ein großes Schattenthema aufdecken, stellt oft das ganze Leben infrage, in seiner Geschichte, in der Rolle die ich ganz persönlich darin spiele. Alles muss in dem mit einer Deutung konfrontierten Menschen umgeschrieben werden, seine Welt ist nun eine andere, manchmal eine vollständig andere, auch wenn äußerlich noch alles so ist, wie gestern. Das unterschätzen viele, die so etwas noch nie erlebt haben und meinen, auch das wäre doch nur ein wenig Gerede.

Ohne böse Absichten damit zu verbinden, versucht auch der Patient selber die erschütternde Botschaft wieder abzuschütteln und so versuchen Therapeuten, in diesen, aber auch in anderen Fällen, die Patienten wieder zu sich zu bringen, indem sie ihn immer wieder genau mit den Fragen konfrontieren, die er sich selbst stellt, dann aber oft wieder vergisst oder verdrängt. Was genau das nämlich ganz konkret für ihn, seine Leben, seine Beziehungen bedeutet.

Aber das oft prompte Vergessen gilt nicht nur nach gewonnenen Einsichten in der Psychotherapie, auch unsere Alltagskonversationen sind so gestrickt, dass man sich möglichst nicht festlegen muss und ins Allgemeine flüchten kann. Wir verwenden dann Floskeln und Allgemeinplätze: Dass man ja weiß, wie die Menschen so sind und dergleichen und die wesentliche Aufgabe von Psychotherapeuten besteht darin, den Patienten immer wieder zu sich zurück zu führen, nämlich genau zu der ungewohnten, weil reflexiven Frage, was es denn nun genau für mich heißt, dass man ja weiß, wie die Menschen so sind und wie sie denn nun – nach Vorstellung des Patienten – eigentlich sind. Im Alltag sind das Türchen, durch die man entkommen kann, weil man es ’so‘ ja nun auch wieder nicht gemeint hat und vage Andeutungen helfen da weiter, alles etwas im Unscharfen zu lassen.

In der Psychotherapie wird der Nebel gelichtet, was hoch anstrengend und zunächst wie ein Verhör erscheint, aber den Sinn hat, die über die eigenen Einstellungen klar zu werden, die nämlich nicht selten unklarer sind, als man selbst meint.

In beiden Fällen ist, in Philosophie und Psychotherapie, das Mittel die Reflexion. Eine Methode, die den Blick in zwei Richtungen lenkt, in der Philosophie ins aller Allgemeinste, ins Prinzipielle von eigenen Meinungen und Vorlieben weg. In der Psychotherapie in die genau entgegen gesetzte Richtung: Zu mir hin, zu dem, was das alles nun für mich heißt und bedeutet.

Der Philosoph Jürgen Habermas sagt: „Die Psychoanalyse ist für uns als das einzige greifbare Beispiel einer methodisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Wissenschaft relevant.“[1]