Bürokratische Eskalationen

Hier wird Wohlfühlen so groß geschrieben, wie in manchem Anschreiben vom Amt. © Enno Lenze under cc
Zu diesen kommt es in der Regel, wenn die Antwort auf dysfunktionale Abläufe eine massive Verschärfung von Regeln, Zusatzegeln oder -kontrollen ist. Irgendwer hat das Gefühl, so gehe es nicht weiter und jetzt müsse mal durchgegriffen werden. In der Folge muss dann, in einer paranoiden Reaktion, jeder Vorgang protokolliert werden, jeder Fehler wird bestraft und in der Regel wird der bürokratische Apparat aufgebläht, zusätzliches Personal wird eingestellt, die Kosten gehen in die Höhe und am Ende wird das System immer schwerfälliger und ineffektiver, wie wir es im Medizinsystem sehen können, wo Ärzte und Pflegerinnen zu einem großen Teil ihrer Zeit mit der Dokumentation ihrer Arbeit zubringen. Das wechselseitige Misstrauen durchdringt jede Beziehung innerhalb Institution.
Das System zeigt seine Zähne und lähmt sich damit selbst. Denn die Asymmetrie der Machtverhältnisse, die wir teilweise verinnerlicht haben, ist längst nicht mehr so gegeben, wie es einmal war. In dem System von Angebot und Nachfrage werden nämlich inzwischen die Facharbeiter knapp. Nicht nur bei Ingenieuren, auch im Handwerk fehlen Auszubildende. 9000 Pflegekräfte haben in der Pandemie gekündigt, es wird erwartet, dass die Zahl nach der Pandemie weiter steigt. Viele wissen, dass sie ohnehin keine Rente bekommen, das wird eines der großen Themen der übernächsten Bundestagswahl.
Doch die äußere Kündigung ist noch nicht mal der worst case, die innere Kündigung ist im Grunde schlimmer. Wenn mehr Bürokratie eingesetzt wird, um einen regelgemäßen, aber oft ineffektiven bis idiotischen Ablauf durchzudrücken, so gibt es auf der Seite von Arbeitnehmern eine unterm Strich verheerende Antwort: die innere Kündigung. Diese Menschen gehen zur Arbeit, machen stur das was sie tun müssen, aber keinen Handschlag mehr. Innerlich sind sie nicht mehr mit ihrer Arbeit identifiziert, auf Engagement und Kreativität legen sie keinen Wert mehr, doch unsere Arbeit und Gesellschaft lebt davon, dass dies der Fall ist.
Denn die inneren Kündigung kann man auch dem Staat gegenüber aussprechen und wer sich nach einer Reihe von Frustrationen dann irgendwann umdreht, abwinkt und mit all dem nichts mehr zu tun haben will, der ist sehr schwer wieder zu gewinnen. Man weiß inzwischen, dass die Zufriedenheit der Bürger positiv mit der Wahlbeteiligung korreliert und auch wenn sie zuletzt auf niedrigem Niveau ansteigt (2017 war die drittschlechteste Wahlbeteiligung), von den Spitzenwerten ist man sehr weit entfernt und das heißt, die Bürger sind unzufrieden.
Bürger die sich engagieren, wie FfF, sind zwar gegen bestimmte Entscheidungen, aber immerhin noch motiviert etwas zu verändern, bei der Querdenkerszene ist die Motivlage schon heterogener, einige sind radikal gegen den Staat bis hinein in den Extremismus. Dennoch erkennen viele beim Organisationsweltmeister Deutschland inzwischen eine erhebliche Ineffizienz während der Pandemie, mindestens ab der zweiten Welle. Doch die Ineffizienz ist nicht auf das Pandemiemangement beschränkt, wenn man auf den Zustand von Teilen unserer Infrastruktur blickt, nehmen wir Straßen, Schulen, Radwege und einen immer fordernderen Alltag.
Kann es reale Wege zu weniger Bürokratie aussehen?
Ist ein bürokratischer Apparat erst einmal aufgebläht, gibt es viele Profiteure, die kein Interesse daran haben, ihn wieder zu verschlanken. Zumal nicht jeder Vorschlag der Verschlankung zu begrüßen ist, oft genug, geht es nur um einen Abbau von Standards in hart erkämpften Bereichen, von Arbeitsrecht bis Umweltschutz, manchmal um politischen Populismus.
Dass sich sehr viel nach den Bedürfnissen der Wirtschaft richtet, ist das System, was uns die Suppe eingebrockt hat, indem korrupte Politiker nur noch die Interessen der Wirtschaft bedienen und die der Bürger, des Souveräns, vergessen.
Wo viele Menschen zusammen sind kommt es unweigerlich zu Aggressionen. Diese werden in regressiven Entwicklungen entladen, die mal narzisstisch sein können und wenn die Regression weiter fortschreitet, paranoid werden. Effektive Bürokratie ist ein Weg, die Paranoia zu reduzieren, jedoch immer um den Preis der Unpersönlichkeit und Verdinglichung. Ein sehr empfindliches Gleichgewicht von Anfang an, was anfällig dafür ist, zu kippen. In Richtung Entmenschlichung, Willkür und also Sadismus auf der einen, sowie Korruption, Günstlings- und Vetternwirtschaft und eine Apparat von linientreuen Ja-Sagern und Opportunisten auf der anderen Seite.
Doch Bürokratie ist nicht der einzige Weg um Aggressionen abzuführen oder zu minimieren. Gemeinschaftlich geteilte Ziele stellen einen progressiven Ausweg da, denn Regressionen treten vor allem in Gruppen auf, die nicht durch ein gemeinsames Ziel oder Ideal verbunden sind. Siehe auch: Mit Greenzero, Mythen und Modulen in eine lebenswerte Zukunft
Das Ziel bürokratischer Prozesse ist ein reibungsloser und verlässlicher Ablauf, der im wesentlichen für alle gleich verlaufen soll. Als Auswege aus der Bürokratisierung lesen wir bei wiki:
„Ein Ausweg kann darin liegen, Entscheidungskompetenzen in hohem Maße zu dezentralisieren, zugleich das Subsidiaritätsprinzip streng einzuhalten und für eine Verwaltungskultur zu sorgen, die es gestattet, der Verwaltung angemessene Ermessensspielräume zu gewähren, damit sie den konkreten Situationen gerecht werden kann. Auf diesem Wege kann man überschaubare Lebens- und Funktionsbereiche schaffen, dadurch die demokratische Teilhabe der Bürger am politischen System stärken und dieses insgesamt vermenschlichen.“[6]
Das sind kluge Gedanken, die besonders dann funktionieren, wenn die Stellen in der Bürokratie mit dezentralen und erweiterten Ermessensspielräumen von entwickelten Individuen ausgefüllt werden, die über das nötige organisatorische Talent, Augenmaß, Menschlichkeit und einen gesunden Menschenverstand im besten Sinn verfügen. Sie sollten nicht korrumpierbar sein, in brisanten Positionen kann man über psychologische Tests nachdenken.
Um hier nicht gleich wieder ins eben kritisierte offene Messer zu laufen ist als Korrektiv eine Mischung aus freiwillige Selbstkontrolle und öffentlicher Kritik denkbar, Kernberg erwähnt ein dreistufiges Supervisionssystem. Wichtig ist, dass man versucht eine angstfreie Atmosphäre zu ermöglichen, in der Kritik geäußert werden kann, ohne die Befürchtung haben zu müssen, als Kritiker nun selbst die Konsequenzen tragen zu müssen.
Dies sollte auf der Basis einer prinzipiell vorausgesetzten wohlmeinenden Haltung stattfinden, die eine reflektierende, aber nicht sanktionierende Fehlerkultur beinhaltet. Paranoide Gesinnungschnüffelei sollte bei Menschen, selbst falls sie psychologisch auf ihre Eignung getestet werden, vermieden werden, man braucht nicht in allen Positionen Heilige.
Gutwillige organisierte Bürger als neue Akteure stärker einbezogen werden, die vor allem regionale und dezentrale Entscheidungen mit treffen und kommunale Politiker entlasten können.
Um Missbrauch zu minimieren und Motivationen unbürokratisch zu fördern kann man, am Beispiel für den Arbeitsmarkt, auf die Ergebnisse der Forschung zurückgreifen. Um chronische Abhängigkeit, die einen unbewussten sekundären Krankheitsgewinn darstellt zu minimieren, hat Michael Stone, einer der erfahrensten Forscher am Personality Disorder Institute die Rechnung geprägt, dass wenn jemand im Rahmen einer Arbeit den eineinhalbfachen Satz bekommen würde, wie er aus der Sozialhilfe gegenwärtig erhält, die Motivation zu arbeiten stark ansteigt. Bleibt der Lohn darunter, ist das nicht der Fall.[7] Ein denkbar unideologischer Weg, der auch die Diskussion um mögliche Faulheit umgeht.
Den Abstand des 1,5-fachen herzustellen schafft man auf zwei Wegen, nämlich durch ein ein Absenken der Sozialhilfe und ein Mehr an Arbeitslohn. Doch neben der Art und Weise des oft entwürdigenden Umgangs mit den Bedürftigen ist auch das, was sie an Geld erhalten nicht eben üppig, dass es in allen Fällen zu Teilnahme am kulturellen Leben befähigt, ist eher zu bezweifeln. Gleichzeitig werden in vielen Bereichen der Arbeitswelt nicht mal annähernd ausreichende Löhne gezahlt. Das ist keine gute Kombination.
Weniger Bürokratie könnte auch dadurch entstehen, dass Bürger sich selbst organisieren und in einigen Bereichen des Lebens, die bürokratisch ausgebremst werden, voran gehen und ihre Erkenntnisse und Ziele in gelebtes Leben und gemeinschaftliche Projekte überführen.