Es gibt sie schon. Aber heute können wir uns überlegen, was wir an Algorithmen delegieren wollen – und was nicht. © DLR German Aerospace Center under cc

Die Qual mit der Moral besteht darin, dass wir nicht auf sie verzichten können, sie uns aber auf der anderen Seite mit allerlei Fallstricken konfrontiert.

Wie in Stufen der Moralentwicklung dargestellt, kann man präkonventionelle, konventionelle und postkonventionelle Formen der Moral, die im postkonventionellen Bereich meistens Ethik genannt wird, unterscheiden. Tut man dies, trifft man auf die beiden, bei uns dominierenden ethischen Prinzipien, zum einen Kants in mehrfacher Weise formulierten kategorischen Imperativ, der in einer seiner Formulierungen die Botschaft enthält, dass man den Menschen nicht nur als Mittel zum Zweck ansehen und benutzen soll, sondern als Zweck seiner selbst.

Gemeint ist, dass man davon absehen soll, zu kalkulieren, ob einem ein anderer nützlich sein kann oder eben nicht. Man sollte nicht nur zu denen nett sein, die einem persönlich einen Vorteil bringen, sondern alle Menschen erst mal grundsätzlich gleich behandeln. Das macht vermutlich kaum jemand ausschließlich. Klar, ist man zum Chef netter als zu irgendwem auf der Straße, aber Ideale sind eben auch Ideale, man kann sie verfehlen, doch eben auch immer wieder anstreben. Sie sind wie ein Stern am Himmel, der uns Orientierung gibt. Einer davon ist Kant, der sagt, dass man andere Menschen nicht instrumentalisieren und funktionalisieren soll. So viel zu ihm, mehr ist hier erst mal unnötig.

Im wesentlichen ist unsere Gesellschaft an Kants Ethik orientiert und das ist auch gut so. Jeder hat das gleiche Stimmrecht, wenn ein Minister besoffen Auto fährt und erwischt wird, ist der Lappen auch bei ihm weg. Es gibt keine Sonderrechte und wo wir das Gefühl haben, dass es doch unter bestimmten Umständen zwei Klassen gibt, reagieren wir sehr empfindlich, wir wollen das nämlich eigentlich nicht. Auch wenn es eher ein Gefühl der Ungerechtigkeit ist, so ist es eine gute Sache dies so zu empfinden, weil es Kants Gebot der Symmetrie verletzt, das besagt, dass jeder Mensch erst mal von Grund auf gleichberechtigt ist.

Der Utilitarismus in einigen Varianten

Der Utilitarismus klingt erst mal auch nicht schlecht. In seiner positiven Variante strebt er das größtmögliche Glück, für die größtmögliche Zahl der Menschen an. Als negativer Utilitarismus will er das geringstmögliche Leid, für die geringstmögliche Zahl. Niemand soll groß leiden und da dies in der Welt nicht möglich ist, nur so wenige und so dezent es eben geht. Ist an sich sympathisch.

Eine weitere Variante des Utilitarismus ist der Konsequentialismus, der die besten oder sanftesten Folgen für die Zukunft anstrebt. Auch das ist löblich, allein, die Utilitaristen wissen leider auch nicht, was kommen wird. Insofern ist der ganze Ansatz reduziert auf Wahrscheinlichkeiten, was schön und gut ist, aber letzten Endes heiße Luft, weil nämlich laufend Dinge passieren, die ziemlich unwahrscheinlich sind.

Wenn sich die Geschichte mit dem Utilitarismus nun aber gar nicht so schlecht anhört, wo ist eigentlich das Problem?

Das zeigt sich dann auf der praktischen Seite, wenn es also heißt: Butter bei die Fische. Was ist denn das größere Leid im Einzelfall und wie bemisst man die größtmögliche Zahl? Bei einem Streit denken ja häufig beide Seiten, dass sie leiden und zurückstecken müssen. Ob in Paarbeziehungen oder bei der Parkplatzsuche in Wohngebieten, wo man zu gewissen Zeiten keinen Parkplatz mehr in der Nähe der eigene Wohnung findet.

Wenn Alt und Jung in einem Haus wohnen und Jung dann und wann mal Party machen will, die Rentnerin das aber schlecht vertragen kann, wie gewichtet man das? In der Praxis versucht man sich gutwillig zu einigen, aber das ist ja keine Entscheidung auf der Basis Spaß gegen Spaß oder Leid gegen Leid. Was wiegt denn nun auf die Spitze getrieben höher? Omas Recht auf Ruhe oder das Recht der Jugend, sich auch mal auszuleben? Und wenn Omas Recht höher wiegt, vielleicht 50 Punkte und die Feierlust nur mit 5 Punkten zu Buche steht, sind dann sechs Partygäste verboten, aber elf erlaubt?

Das wirkt willkürlich und sinnfrei und ist es letztlich auch, weil es eine Objektivität suggeriert, die es einfach auf der Ebene nicht gibt. Nicht, weil man nicht haargenaue 48,75 Leidpunkte gegen 47,11 verrechnen könnte, sondern weil all dem immer eine Willkür anhaftet, nämlich schon bei den Setzungen. Denn wer legt denn fest, was genau 50 Leid- oder Freudenpunkte wert ist? Und ist das dann wohl wirklich bei jedem so?

Ist Zahnarzt schlimmer oder MRT? Der Keller, Höhen oder Spinnen? Kommt drauf an wovor man Angst hat. Dem Spinnenphobiker bringt es nichts zu wissen, dass Spinnen einen Wert von 3,75 auf der Schreckensskala haben, wenn der Wert bei ihm 280 ist. Den Wert jedes Einzelnen individuell zu gestalten ist auch schwierig, denn auch da ist nicht klar, wie er bemessen ist. Den Wert für Freude und Leid kann nur jeder selbst angeben, aber was ist, wenn der eine ständig in allem übertreibt und die andere bei allem die Dinge bagatellisiert? Ist der subjektive Wert dann noch echt? Diese Probleme setzen sich fort, womit wir beim autonomen Auto wären.

Das autonome Auto

Wie reagiert das autonome Auto bei einem drohenden Unfall? Es ist programmiert den Schaden minimieren, aber was, wenn das nicht geht? Was, wenn es darum geht, das Auto vor den Baum oder Brückenpfeiler zu steuern, um andere zu retten? Mindestens ab dem Zeitpunkt, an dem zwei Menschen umgefahren würden, wenn man allein im Auto ist. Da kein Leben mehr zählt, als ein anderes sollten wir damit einverstanden sein, dass Autos so programmiert werden. Fragt man die Menschen, sind die meisten auch dafür. Fragt man sie, ob sie sich so ein Auto kaufen würden … och nö, das lieber nicht. Man kann es ja verstehen, schließlich ist man selbst beteiligt und will sich ungerne von einem Algorithmus verheizen lassen.

Gesetzt den Fall, man fährt im autonomen Kleinbus, ist also zahlenmäßig in der Überzahl, weil mit zehn Menschen gefüllt. Dann geht es bei einem Ausweichmanöver um zwei gegen drei Fußgänger, man selbst bliebe ungefährdet. Eigentlich ist klar, lieber zwei umfahren, als drei. Aber was ist eigentlich wenn die drei Rentner sind, mit über 250 Lebensjahren auf dem Buckel und die zwei sind zwei Erstklässler. Auf einmal überlegt man, ob man nicht lieber die Kinder retten sollte.

Oder was ist, wenn das Auto einen liebenswürdigen Menschen umfahren müsste oder drei Schwerstkriminelle? Nehmen Sie vier Menschen aus der Gruppe, die Sie am meisten abstößt und auf der anderen Seite zwei aus der Gruppe, die Sie am meisten bewundern oder verehren. Wer soll sterben? Gar nicht so leicht, oder?

Sollte man das am besten also gar nicht an solchen emotionalen Geschichten fest machen, sondern vielleicht an der noch zu erwartenden Wirtschaftsleistung? Hier ist der Nutzen ja halbwegs objektivierbar. Sie verdient, bei durchschnittlicher Lebenserwartung und Erwerbsbiographie, noch zwei Millionen Euro in ihrem Leben, er ist leider ungelernt und arbeitslos, tja. Oder sollte es darum gehen, wer sozial gebraucht wird? Der Vater von sechs Kindern mehr, als die alleinstehende Frau?

Allerdings könnte man auch hier wieder ins Detail gehen. Vielleicht hat die Allgemeinheit mehr von jemandem, der in seinem Leben noch zwei Millionen verdient und diese auch brav versteuert. Aber was, wenn das ein Steuerhinterzieher ist? Oder was ist mit der Frage, ob jemand das, was er bekommt, auch wirklich verdient hat?

Für die soziale Bedeutung gibt es im Grunde keine objektivierbaren Erkenntnisse. Sicher, der sechsfache Vater ist vielleicht, auf den ersten Blick, sozial mehr ‚wert‘, aber was, wenn er ein Tyrann ist, der Frau und Kinder schlägt und quält?

Was wiederum ist mit jenen, die besonders effektiv die Umwelt schützen? Was hat man von einem Menschen, der zwar viel verdient und umsetzt, aber einen ökologischen Fußabdruck wie ein Brontosaurus hat?

Und sind das wirklich die einzigen Kriterien für den ‚Wert‘ eines Menschen? Was, wenn jemand zwar eine Umweltsau ist, aber viele Menschen zum lachen bringt? Seine Mitmenschen schlecht behandelt, aber dennoch genialer Künstler ist? Mit viel Ehrgeiz würde man vielleicht 30, 50 oder 100 wichtige Faktoren finden, die den Wert eines Menschen ausmachen. Es ist vorstellbar, dass man diese gewichtet, die Gesamtsumme in der Relation der Gewichtung ermittelt und den aktuellen Wert auf einen Chip übermittelt, so dass man nun um den ‚Wert‘ eines Menschen weiß.

Ist das nun eine tolle, objektive, gerechte und soziale Lösung oder ein kalter, funktionalistischer Albtraum? Die Qual mit der Moral liegt darin, dass solche Überlegungen tatsächlich nicht einfach sind.