Die Funktion der Ersatzbefriedigung

Ist er nun mitten im Leben angekommen oder fehlt im Wesentliches? Er sieht zumindest zufrieden aus. gemeinfrei, Carl Spitzweg/Scan Wikimedia

Im Wörterbuch Das Vokabular der Psychoanalyse finden wir unter Ersatzbildung den Hinweis, dass es sich dabei um einen dynamischen Übergang einerseits zur Kompromissbildung und andererseits zur Reaktionsbildung handelt.

Die Kompromissbildung finden wir dann dominierend, wenn ein Symptom einerseits zur Entspannung führt, aber wie wir sahen, reicht das allein nicht aus, es muss auch noch eine hinreichende Nähe zum Triebziel bestehen. So etwas findet man, wenn sich jemand beispielsweise über die sexuellen Verkommenheit der heutigen Zeit aufregt, sich selbst davon freispricht, aber als eifriger Kämpfer gegen ‚all die Schweinereien heutzutage‘ auftritt, über die er sich natürlich im Zuge umfangreicher Recherchen informieren muss.

Einige Bekanntheit errang dabei der österreichische Pornojäger, der in einem heldenhaften Kampf gegen Pornographie den ganzen Tag damit verbringen musste, Pornos zu sammeln. Man muss ja auch dem neuesten Stand bleiben und Beweise sichern.

Es gibt ein Bertolt Brecht zugeschriebenes Zitat, dass dies in einem anderen Bereich schön auf den Punkt bringt, in dem er sagt Atheisten würden ihn nicht interessieren, die würden zu viel über Gott reden. Es gibt Menschen, die sich geradezu zwanghaft mit einem Bereich des Lebens beschäftigen, den sie vollkommen unmöglich finden und radikal ablehnen. Warum lassen sie es nicht einfach und kümmern sich die 10.000 anderen Dinge, die es noch im Leben gibt?

Das wäre die Kompromissbildung. Man umkreist ständig sein Thema, ohne zu erkennen, dass es wirklich das eigene Thema ist, mit dem man sich obsessiv beschäftigt, weil die anderen ja gewarnt werden müssen. Der Punkt ist nur, dass solche Akte manchmal sehr viel Zeit und Energien kosten und man sich manches verbeißen muss. Die therapeutische Alternative lautet im Grunde immer, zu erkennen und anzuerkennen, dass das Thema, was mich besonders umtreibt – gerade auch wenn ich dagegen bin – zunächst erst mal mein Thema ist. Kann man das anerkennen und die Projektion zurück nehmen, braucht man sich nicht mehr mit der Ersatzbefriedigung abzumühen, sondern kann sich und anderen die frontal Beschäftigung zugestehen und gönnen, ob das Thema inhaltlich nun Sexualität, Religion/Glauben oder sonst wie heißt.

Der andere Punkt ist die Reaktionsbildung, die eine sozial etablierte Art und Weise eines dahinter liegenden und sozial nicht genehmen Themas darstellt. Klassisch dargestellt in dem Bedauern eines armen Menschen, dem man so umfassend wie nur möglich helfen muss, was eine Abwehr gegen die eher entwertende Sichtweise ist, die es dem anderen nicht zutraut, sich selbst zu helfen. Aus dem Trottel wird der Arme.

Auch die obsessive Beschäftigung mit Sexualität kann eine Reaktionsbildung sein, wie gesagt, die Übergänge zur Ersatzhandlung sind fließend.

Dopamin: Geht es gar nicht um die Inhalte?

Wir wissen ja noch immer nicht, was nun die Ersatzbefriedigung wofür ist. Wenn man die egoistischen Triebwünsche als ursrpünglicher bezeichnet, klar, dann ist die soziale Anerkennung der Ersatz. Wer den Menschen jedoch als soziales Wesen von Anfang an begreift – und es gibt gute Gründe das zu tun – sieht in sozialer Nähe keinen Ersatz, sondern ein tiefes, ursprüngliches Bedürfnis.

Wo liegt das Paradies? Im Körper oder in phantasierten oder idealen Welten? Die Frage stellt sich, wenn wir wieder auf Kreativleistungen blicken. Ist es wirklich zu rechtfertigen, dass man sagt, die Komposition einer Sinfonie sei eben ein etwas aufwenderigeres Verfahren der Werbung und Geschlechtspartner? Also Kreativität, ein netter Umweg auf der Suche nach Sex? Oder nach Aggression, Anerkennung oder Aufmerksamkeit?

Wäre es nicht ebenfalls denkbar, dass Kreativität das Ziel ist, um was es geht und Sexualität nur eine Variante dieses Selbstausdrucks? Was ist nun eigentlicher, grundlegender oder ursprünglicher? Und wäre das Ursprüngliche überhaupt zwingend auf das Ziel, das, um was es geht?

Oder geht es gar nicht um die Inhalte? Am Ziel des Triebes steht die Belohnung, neurobiologisch in aller Regel eine Dopamindusche, ausgeschüttet vom eigenen Gehirn. Zur Belohnungsvorbereitung. Fühlt sich in aller Regel so gut an, dass viele Süchte über diese Mechanismus erklärt werden. Ob Essen, Spielen, Rauchen oder Fremdgehen: Dopamin wird frei. Aber auch wenn wir soziale Anerkennung bekommen oder unseren inneren Schweinehund überwinden, uns ein Ziel setzen und dann unsere Steuererklärung machen, den Frühjahrsputz oder den Keller aufräumen, wenn das Ziel eine echte Hürde darstellte wird Dopamin frei.

Aber nur darum geht es auch nicht, das wäre ein egozentrisches Konzept. Sei gut zu anderen, damit es Dir gut geht und Du stolz darauf sein ganz, was Du für ein netter Mensch bist. Noch besser wirkt das und ist es allerdings, wenn man anderen helfen möchte, um anderen zu helfen. Der Großplan, wie man sein Dopaminsystem optimiert, läuft letztlich immer darauf hinaus, dass man von den Optimierungsplänen wieder ablässt, egal auf welcher Ebene, aber eben auch auf der der biologischen Erzählungen.

Sublimation oder der optimale Kompromiss

Oft wird die Sublimation als der ideale Kompromiss angesehen. Sublimation heißt im Grunde, dass man einen grundlegenden Impuls oder Affekt nimmt, ihn aber nicht direkt agiert, aber gleichzeitig auch nicht abwürgt, sondern seine Energie nutzt. Aus Krieg wird dann zum Beispiel ein ritualisierter Wettstreit, bei dem man selbst, aber auch Zuschauer ihre Affekte in einem bestimmten, definierten Rahmen ausagieren können, etwa bei einem Fußball Länderspiel. Je mehr man innerlich dabei ist, mitfiebert, leidet und sich ein Stück weit auch ins Unfaire und Parteiische gehen lässt, umso besser für die Psychohygiene. Danach kann man wieder ein normaler respektabler Mensch sein, wenn man diese Möglichkeiten des Ausbruchs hat, in denen man auch mal die Sau rauslassen darf. Für gut zwei Stunden und dann ist man wieder ein normaler Mensch.

Große Konzerte können Ähnliches leisten, wenn man tobt und tanzt, schwitzt und mitsingt, im besten Fall ein einziger Rausch. Man sollte den anderen nicht als Mittel zum Zweck oder Ding behandeln oder gar benutzen, beim Sex kann es aber sein, dass genau das durchaus im Sinne beider Partner ist, auf das ein Ritual und im besten Fall ein Leibesfest, bei dem man seine eigenen Regeln findet.

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben und in sublimierter Form kann man die grundlegenden Ideen noch immer nutzen, man ist noch mit ihnen in Kontakt, durch sie motiviert, nur ist das Ganze eben auf eine andere Ebene transponiert.

Spitzweg und die Ersatzbefriedigung

Die Bilder Carl Spitzwegs sind voll von dezenten Andeutungen von Ersatzbefriedigungen. Manche sind nur symbolisch angedeutet, wenn der ehemalige Apotheker, der sich natürlich auch in der Botanik auskennt, Pflanzen in ein Bild malt, die symbolisch für die Liebe stehen oder denen Potenzförderung nachgesagt wird. Der junge Mönch, der an Blumen riecht und dann doch dem Liebespaar einen verstohlenen Blick hinter wirft. Die himmlische oder die irdische Form der Liebe, welche trägt nun weiter? Das könnte eine der stillen Fragen sein, die eines seiner Bilder uns stellt.

Aber sie stellen durchaus auch andere Fragen. Manche der dargestellten Charaktere wirken schrullig. Deplatzierte Sonderlinge, von denen man ahnt, dass sie in der normalen Welt keinen rechten Platz gefunden haben und die deshalb in die Nischen des Lebens ausgewichen sind. Irgendwo am Rande der Zivilisation finden wir sie, in teilweise absurden Situationen. Strickende Wachposten, an irgendeiner Grenze, die zu bewachen lächerlich erscheint. Dieser oder jener hilflos agierende Jäger, der unfreiwillig komisch wirkt.

Allerdings wirken andere Charaktere so begeistert in ihrer Welt versunken, dass man sich ernsthaft fragen muss, ob der Durchbruch zum Eigentlichen für sie überhaupt ein Gewinn wäre. Die einen wirken verschroben, die anderen versunken und glücklich, ganz gleich was die Normalen von ihrer Welt halten mögen, sie scheinen ihre Heimat[ gefunden zu haben.

Was also, wenn die Ersatzbefriedigung gar nicht mehr den Charakter des Ersatzes hat, sondern viel mehr zur eigenen Welt geworden ist? Ist die Befreiung von der Neurose dann noch eine? Freud war die Ambivalenz durchaus bewusst, darum betonte der den Leidensdruck als Motiv so sehr. Wer sich in seiner Welt der Kompromisse – und welches Leben wäre nicht genau das? – eingerichtet hat, den sollte man vielleicht in Ruhe lassen.

Wenn die Ersatzbefriedigung inzwischen schöner ist als das eigentliche Triebziele, man es sich am Rande der Normalität wohl fühlt, oder Schokolade besser als Sex findet. Wenn man alles worum es angeblich gehen soll frei schaufelt und der Mensch sich viel schlechter fühlt. Was dann? Dann muss man die Frage noch mal neu stellen.

Und worum geht es nun wirklich im Leben?

Die unbefriedigende Antwort ist, dass einem das im Grunde niemand sagen kann. Es ist nicht so, dass es darauf keine Antworten gibt, von rigidem Biologismus über die Retroromantik, technische, soziale und religiöse Utopien ist alles im Angebot. Es scheint nur nie für alle zu passen.

Wenn man also pragmatisch an die Frage nach den Ersatzbefriedigungen heran gehen will, dann schaut man am besten zunächst, ob der Schmerz, den man fühlt auch groß genug ist, um wirklich etwas zu ändern. Wenn man noch keine Ahnung hat, wo der Schuh drückt, unsere zwei Regeln können einen in die Nähe bringen. Besonders der Ärger weist den Weg.

Es ist nicht so ganz ohne die komplexen Ideen etwa der Psychoanalyse in sein Leben einzubauen. Man muss sie nicht unbedingt theoretisch verstehen, aber doch alles in allem für möglich halten, dann ist es bereichernd. Es empfiehlt sich von unten nach oben vorzugehen und sich bis zum Beweis des Gegenteils zunächst mal den Themenkomplex Aggression anzuschauen, dazu gehören dann auch Themen wie Neid, Kränkbarkeit, Ansehen, Misstrauen und dergleichen.

Sexualität ist das nächste Tabu, auch wenn man das im Zeitalter von Tinder und Porno nicht glauben möchte, die ganze Geschichte ist komplizierter, auch die mit den sexuellen Tabus.

Worum es ebenfalls nach Ansicht vieler geht, ist ein gerechter Ausgleich grundlegender Versorgungsgüter. Leider wird diese Sicht oft gegen die Psychologie angeführt, von der es dann heißt, sie würde an den Zuständen nichts ändern, aber es gibt sehr gute Gründe davon auszugehen, dass sich beide Bereiche weitreichend überlappen, wie in Narzissmus in der Gesellschaft ausgeführt.

Es kann aber in einem Leben auch um anderes gehen, man kann durch und durch Sportler sein, ganz sicher ist die Kunst eine Welt für sich, Wissenschaft, Spiritualität sind Bereiche, die, wenn man sie mal für sich erobert hat, Selbstzweck sind und nicht primär etwas anderem dienen, auch wenn man natürlich nebenher noch andere Bedürfnisse im Leben hat. Nicht selten ist man vielleicht gar nicht auf genau einen Bereich fokussiert, sondern lebt eine Mischung.

Ja, und dann ist da noch was. In all dem schöner, schneller, reicher, inmitten der Fülle der abgedrehten Bereiche und der Gnade, dass wir es uns leisten können, ziemlich bekloppte Lebensansätze tatsächlich zu leben, gibt es Menschen, die einfach nur normal leben wollen.

Menschen, die gar nicht abseits und am Rand leben, sondern die es sich inmitten der Angebote dieser Welt bequem gemacht haben und dort angekommen sind und gerne so weiter leben möchten. Die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass ihre Welt, die sie sich errichtet und und die sie viel investiert haben bestehen bleibt. Vielleicht ist das manchmal etwas spießig und bieder, vielleicht gelten sie hier und da heute schon als Exoten, aber wenn man einen kompletten Lebensentwurf zertrümmern möchte, wäre es nur fair ein besseres und für alle lebbares Angebot für die gemeinschaftlich gelebte Ersatzbefriedigung zu haben.

Quellen