
Wie unser körperliches Immunsystem, hier eine Killerzelle, beseitigt das psychische störende Einflüsse noch bevor wir sie wahrnehmen. NIAID under cc
Dass es so etwas das psychische Immunsystem gibt, das analog dem körperlichen Immunsystem funktioniert, ist seit längerer Zeit bekannt. Zumeist geht es in dem Zusammenhang darum, wie man widerstandsfähiger gegenüber äußeren Eindrücken wird oder besser mit bedrückenden Einflüssen umgehen kann. Es ist gewiss eine wichtige Fähigkeit, mit einem psychischen Trauma klar zu kommen und Fähigkeiten der Resilienz zu stärken, die einen unempfindlicher gegenüber äußeren Eindrücken machen oder helfen, diese besser zu verarbeiten.
Aber wenn wir mal hinschauen was unser Immunsystem macht, so besteht dessen beeindruckendste Leistung eigentlich darin, dass es für uns häufig komplett unsichtbar arbeitet. Es stimmt schon, wenn wir mit einer Grippe im Bett liegen, dann tun wir gerne etwas, um das Immunsystem zu unterstützen. Wir ruhen uns aus oder bleiben in schwereren Fällen gleich im Bett, trinken viel, nehmen Dinge zu uns, von denen wir denken, sie seien gesund, in härteren Fällen reguliert der Körper den Stoffwechsel, so dass die Zellen des Immunsystems deutlich schneller produziert werden, wir bekommen dann eine erhöhte Körpertemperatur.
So gut wie jeder kennt das von sich, mindestens aber von anderen, doch im Grunde sind das die Situationen in denen unser Immunsystem schon in die Nachbesserung gehen muss. Denn seine wirklich beeindruckende Leistung besteht darin, dass wir von seiner Arbeit im Grunde nichts mitbekommen. Ein wenig so, wie der Virenscanner beim Computer, manchmal erscheint eine Meldung, dass er einen Schädling entdeckt und festgesetzt hat, aber wir haben bei Arbeit, Chat oder Spiel gar nichts davon bemerkt. So ist es auch bei unserem körperlichen Immunsystem, ein wahres Wunderwerk der Evolution, das die meisten Eindringlinge bereits eliminiert, bevor sie irgendeinen Schaden anrichten können. Entartete Zellen, Eindringlinge wie pathogene Viren oder Bakterien, die allermeisten sind für uns harmlos, diejenigen, die es nicht sind, muss das Immunsystem erkennen und bekämpfen. Und das tut es heimlich, still und leise, wir bemerken im Alltag von seiner Arbeit nichts, es erscheint nicht mal eine Meldung, auf der wir lesen können, was das Immunsystem heute wieder für uns gefangen und beseitigt hat.
Das psychische Immunsystem arbeitet sehr ähnlich. Lange bevor wir uns um psychische Krisen, Trümmer und Wiederaufbau kümmern müssen fischt es potentiell schädliche Eindrücke einfach weg, so dass diese gar nicht an uns heran kommen. Eine sehr wichtiges Kriterium scheint dabei die simple Bekanntheit von etwas zu sein. Was ich wiedererkenne, ist dabei erst mal gut, weil bekannt und fällt durch unser Wahrnehmungsraster. Wenn alles um uns herum normal ist, ist es aus Sicht des Immunsystems in Ordnung. Wenn alles an seinem Platz ist und die Menschen um uns herum so reagieren, wie sie immer reagieren, sind wir in einem emotional stabilen Modus, das psychische Immunsystem muss nicht eingreifen.
Wir reagieren empfindlich auf Veränderungen
Doch wehe, wenn es Veränderungen gibt, wir also bestimmte Situationen nicht kennen, wie in Dämmerung oder Nebel. Dann sind wir zum einen erhöht aufmerksam und zum anderen wenden wir Strategien an, die sich bewährt haben. Man kann nachvollziehen, dass in der Evolution besonderer Wert auf das Wiedererkennen gelegt wurde. Wer ein unbekanntes Muster nicht wahrgenommen hat, eine Bewegung, einen Schatten, ein Rascheln konnte bereits zum Opfer eines Raubtiers werden oder ihm konnte seinerseits Beute entgehen, beides ist nicht so gut. So scannt man also fortlaufend die Umgebung mit allen Sinnen und alles was so ist, wie immer, nimmt man im Grunde nur wahr, wenn man sich bewusst darauf konzentriert. Veränderungen lassen uns jedoch sofort hellwach werden, genauer hinschauen und nach bewährter Art reagieren.
Wenn ein gut bekannter anderer auf einmal anders aussieht oder sich anders verhält, registrieren wir das sofort. Wenn jemand anders spricht oder sich anders bewegt, eine Gesichtshälfte hängt, so merken wir schnell, dass hier etwas nicht stimmt und können der Sache nachgehen. Wenn ein neuer Mitarbeiter eingestellt wird, werden die Karten in unserer Arbeitsumgebung auch neu gemischt und wir versuchen uns, oft unserem Muster entsprechend, ihm gegenüber zu verhalten. Abhängig davon, wie interessant oder bedrohlich wir den oder die Neue finden. Wir klären dann, oft unbewusst, ob es insgesamt besser ist, sich mit dem anderen zu verstehen, ihn zu ignorieren oder auf Abstand zu halten, was seinerseits davon abhängt, wie andere den oder die Neue einschätzen.
Wiederkennen, das heißt aus dieser Perspektive, dass alles in Ordnung ist und man sich entspannen kann. In Ordnung muss dabei nicht unbedingt gut bedeuten, lediglich bekannt, den Erwartungen entsprechend. Wer seine Mitmenschen für Idioten hält, wird, wenn er wieder auf einen trifft, der sich in seiner Welt als unfähig erweist, nicht traurig sein, sondern feststellen, dass er es ja bereits geahnt hat.
Kaum etwas ändert ein Mensch so wenig, wie sein Verhalten und vielleicht noch etwas weniger, seine Einstellungen. Dabei bereiten manchen Menschen schon minimale Veränderungen Schwierigkeiten, auch solche, die vermeintlich banal sind und ihnen sogar Vorteile bringen würden. Immer wieder wird dazu geraten Versicherungen umzustellen oder den Energieanbieter zu wechseln, was reale Vorteile bei den Kosten bringen würde, gemacht wird es jedoch oft nicht. Dabei scheint Langeweile oder Stabilität um jeden Preis nicht das Ziel zu sein. Denn es gibt durchaus auch ambitionierte Hobbysparer, die regelmäßig ihr Leben durchforsten und schauen, wo sie noch etwas optimieren können, durch richtiges Heizen, durch gute Verträge, kluges Einkaufen, dem Vermeiden unnötiger Wege und so weiter. Bei diesem Lebensmodell sind dann häufige Veränderungen die Regel, allerdings im Rahmen des stabilen Musters, dass wenig Geld auszugeben der richtige Lebensansatz ist.
Das scheint ein recht übergeordnetes Prinzip zu sein, eine dynamische Stabilität zu etablieren, deren Inhalt man nicht unbedingt gut finden muss, die einem aber die Möglichkeit gibt, die Welt zu verstehen, aus seiner gewohnten Perspektive zu verstehen und unser bevorzugtes Muster wie gewohnt wieder zu erkennen. Entweder bis zum Überdruss oder bis wir mit abweichenden Daten konfrontiert werden, in Form einer Sichtweise von anderen Menschen, die vielleicht völlig andere Ziele oder Sichtweisen haben oder Ereignisse, die unseren Erklärungsansätzen widersprechen.
Stabilität ist ein hoher Wert für unsere Psyche
Das psychische Immunsystem sorgt jedoch dafür, dass an dieser dynamischen Stabilität nicht groß gerüttelt wird und das gleich in mehrfacher Weise. Zum einen ist das Wiedererkennen von Mustern mit einem gewissen Lustgefühl verbunden. Der hier zuständige Neurotransmitter ist Dopamin, bekannt ist, dass unsere Lernfähigkeit sinkt, wenn der Dopaminspiegel sinkt und vermutlich geht der Effekt in beide Richtungen. Das heißt, wir lernen besser mit Lust und Erfolgserlebnissen, doch das Erkennen von Bekanntem löst seinerseits eine Lustempfindung aus, was Muster, die immer wieder von uns erkannt werden, immer stärker werden lässt, zugleich werden sie als immer wohltuender empfunden, allein dadurch, dass sie wiedererkannt werden.
Dass Stabilität einen hohen Wert haben muss, sieht man an eher tragischen Ereignissen. Denn längst nicht alles, was bekannt ist, ist auch objektiv gut. So neigen Kinder, die von Eltern schlecht behandelt werden, dazu, die Schuld für das Verhalten der Eltern bei sich zu suchen, auch wenn sie gar nichts falsch gemacht haben und die Eltern nur willkürlich agieren. Die Interpretation, dass man offenbar ein böses Kind sein muss, das zurecht bestraft wird, scheint für das psychische Immunsystem besser zu sein, als die fraglos richtigere Deutung, dass die Eltern oder ein Elternteil uninteressiert, willkürlich oder sadistisch agieren.
Der etwas kuriose psychische Vorteil dieser Situation liegt darin, dass die Eltern nach wie vor gute und liebenswerte Eltern bleiben können, auch wenn sie es nicht sind, da das Kind in jungen Jahren noch nicht in der Lage ist, zu verstehen, geschweige zu verändern. Auch in diesen Situationen kommt es aber darauf an, psychisch zu überleben und auch dafür sorgt verschiedene Mechanismen, die in der Kindheit das Überleben sicher, später aber oft hinderlich sind. Diese aufzuarbeiten wäre in solchen Konstellationen ein Fall für die Psychotherapie, die einem dann helfen kann, die Ereignisse von damals heute zu verarbeiten und richtig einzuordnen.
Bei traumatischen Ereignissen in späteren Lebensjahren finden wir ein ganz ähnliches Muster, bei dem relativ bekannten Stockholm-Syndrom. Das Stockholm-Syndrom ist die Identifikation des Opfers einer Geiselnahme, mit einem übermächtigen Aggressor, der potentiell das Leben des Opfers bedroht. Die Situation ist erkennbar dominiert von Ohnmacht und Ausweglosigkeit, doch bemerkenswerterweise werden auch hier die Aggressionen des Täters, vom Opfer nicht auf diesen projiziert, sondern die Opfer bringen auf einmal Verständnis für die Situation des Täters auf, finden seine Handlungen und Ansichten ganz rational und einsichtig, das Verhalten der potentiellen Retter draußen hingegen gefährlich und irrational.
Offenbar ist auch das Erfassen der Ausweglosigkeit in dieser Situation, von der man nicht weiß, wie sie enden wird, ein Grund für unser psychisches Immunsystem umzuschalten und sich der neuen Situation anzupassen, indem man in diesen Ausnahmesituationen mit fliegenden Fahnen die Seiten wechselt, was die Chancen zu überleben vermutlich erhöht. Denn dieser Seitenwechsel bringt einen in die Lage nicht nur das zu sagen oder zu tun, was ein anderer hören will, so wie man es manchmal tut, wenn man im inneren Widerstand mit einer Situation ist, die man aktuell nicht ändern kann und an die man sich zähneknirschend anpasst, ohne das innerlich so zu meinen, man macht lediglich gute Miene zum bösen Spiel. Ist die Situation aber traumatisch, kann es von Vorteil sein, tatsächlich emotional das Lager zu wechseln und so ganz aufrichtig zu empfinden, dass ein Geiselnehmer oder Entführer ja alles richtig macht oder zumindest gute Gründe hat. Wie das Kind, das sich keine anderen Eltern suchen kann, ist man nun in der Obhut eines Menschen, der ja im Grunde gar kein schlechter Kerl zu sein scheint, wenn man sich nur Mühe gibt, seine Motive zu verstehen.
Wenn die Wirklichkeit uminterpretiert wird
All das soll nicht zeigen, dass das psychische Immunsystem nicht richtig arbeitet oder gar von Beginn an eine Fehlkonstruktion ist, denn das Stockholm-Syndrom ist aus der Sicht des Immunsystems keinesfalls verrückt, sondern eine Möglichkeit sich radikal neuen Bedingungen so anzupassen, dass man nicht geschädigt wird. Dahinter verbirgt sich ein genialer Mechanismus, der es uns erlaubt, in einem dynamischen Wechselspiel uns einerseits der Welt und andererseits die Geschehnisse der Welt unserer Deutung anzupassen, oft in so kleinen Schritten, dass sich unsere Vorstellungen der Welt nicht ändern müssen.
Bei echten traumatischen Erfahrungen werden bekannte Deutungsmuster geknackt. Das ist auch einer der Gründe dafür, warum wir so erschüttert sind. Unsere Welt ist buchstäblich aus den Angeln gehoben worden. Vordergründig könnte man sagen, dass, wenn wir eine solche Situation überstanden haben, sie ja nun, wie schlimm diese auch gewesen sein mag, vorbei ist. Was auch immer passiert ist, im Grunde könnten wir einen Haken drunter machen und das Leben geht weiter. Doch so ist es in den meisten Fällen nicht. Wir wollen verstehen, warum etwas passiert ist und Antworten wie Pech, Glück oder Zufall sind da nicht sehr befriedigend. Auch wenn wir Glück im Unglück hatten und eine Situation überstanden haben, die andere nicht überlebten, ist das Gefühl was bei sehr vielen zurück bleibt nicht Glück oder Dankbarkeit, sondern eher eine Form der Schuld. Warum nur, habe ausgerechnet ich den Autounfall oder die Massenpanik überlebt, aber andere nicht? Auch hier wollen wir verstehen aber eine zu einem nicht unwesentlichen Teil auf Zufällen, Statistiken und Wahrscheinlichkeiten beruhende Weltsicht kann uns diese Erklärungen nicht geben. Das heißt nicht einmal, dass diese Weltsicht falsch sein muss, sie entspricht nur nicht den Bedürfnissen mancher traumatisierter Menschen, sie ernährt unsere Seele nicht, weil sie die Ereignisse in keinen größeren Sinnkontext stellen kann.
Erstaunlicherweise können viele Menschen nicht einmal mildere Formen des in ihren Augen unverdienten Glücks gut annehmen, wie etwa einen großen Lottogewinn, der das Leben keineswegs immer besser macht. Ein hilfreicher Ansatz ist daher manchmal, das schwer zu ertragende unverdiente Glück umzuwidmen und das erhaltene Geschenk mit Sinn zu erfüllen, indem man sein Leben nun anders lebt und in den Dienst von etwas stellt. Damit wird das Ereignis in einen neuen Deutungskontext gestellt, wenn der alte nicht erklären konnte, warum mir und anderen etwas widerfahren ist. Wir müssen einen neues Deutungsmuster finden, was uns die Ereignisse befriedigend einordnen lässt. Unser Glück soll kein bloßer Zufall sein, sondern einen Sinn haben.
Das psychische Immunsystem räumt in weniger drastischen Fällen andere Deutungen schon im Vorfeld beiseite. Wir nehmen Ereignisse, die unsere Weltsicht stützen, als Bestätigung derselben besonders gut wahr. Denn diese sind ein positiver Beleg dafür, dass die Welt so funktioniert, wie wir es glauben. Da ist wieder etwas, was in dieses Deutungsmuster passt, sogleich fühlen wir uns bestätigt und da wir ein Muster wiedererkannt haben, springt unser Belohungssystem an und das erfolgreiche Muster gräbt sich nur noch tiefer in unsere Psyche ein. Ereignisse die nicht zu diesem Muster passen werden zunächst buchstäblich ignoriert, sie schaffen es gar nicht so viel Aufmerksamkeit zu erregen, dass wir uns ernsthaft herausgefordert sehen, uns mit ihnen näher zu beschäftigen.
Treten Ausnahmen wiederholt auf, so dass sie nicht komplett ignoriert werden können, versucht man sie zu bagatellisieren. Bestenfalls stellen sie die Ausnahme der Regel dar, nichts, was eine nähere Beschäftigung rechtfertigen würde, allenfalls handelt es sich um Übertreibungen von Menschen, die etwas groß reden wollen, was in Wahrheit unbedeutend ist. Man will etwas nicht sehen, hat aber immer noch das authentische Empfinden, dass es tatsächlich belanglos ist. Denn Ereignisse, die nicht ins eigene Weltbild passen, würden uns herausfordern, dieses zu revidieren und bevor dies wirklich geschieht, zieht das psychische Immunsystem alle Register.
Die Bereitschaft die Daten oder Interpretationen anderer abzuwerten oder verächtlich zu machen, ist bei vielen Menschen recht groß. Wenn die anderen Lügner sind, gerissen, dumm oder naiv, sind ihre Daten nicht mein Problem, sondern ihres. Die Ansichten der anderen können mich dann sogar noch motivieren, meine eigenen noch stärker zu vertreten. Hier nun schon mit einer verärgerten Komponente, die wirre bis problematische Ansichten bei anderen sieht, während es die eigene Position unverändert lassen kann.
Die Abwehrmechanismen des psychischen Immunsystems

Das psychische Immunsystem arbeitet diskret im Hintergrund, wie ein Virenscanner. Mahmoud Takriti under cc
Mit Projektionen und projektive Identifikationen (auch die normale Seite der Projektion), sowie Verdrängungen und Verleugnungen, des weiteren mit den Rationalisierungen haben wir schon einige Abwehrmechanismen ausführlich vorgestellt, die Teil des psychischen Immunsystems sind und wirklich dazu beitragen, dass man nicht darauf kommt, es könnte oder sollte etwas an der eigenen Sicht geändert werden. Zusammen bilden sie ein schlagkräftiges Team, das seine Arbeit still und diskret verrichtet, so dass man ungestört weiter leben kann.
Das psychische Immunsystem ist recht radikal bestrebt, die eigene Deutungssphäre intakt und stabil zu halten und so werden andere Ansichten zunächst auch auf diesem Weg verarbeitet. Wie häufiger nachgewiesen passen sich Erzählungen und Erinnerungen der momentanen Weltsicht an. Ein kleinen Schritten werden vermeintliche Erinnerungen immer wieder überarbeitet, oftmals so, dass kein wesentlicher Bruch in der heutigen Sichtweise und der von damals sichtbar wird. Es sei denn, man kann die Abkehr von einer früheren Einstellung für sich nutzen und etwa erzählen, dass man früher auch in etwa so gedacht habe, es jetzt aber besser wissen, die Veränderung ist dann eine zu den eigenen Gunsten. Große Brüche kommen nach Möglichkeit gar nicht erst im Bewusstsein an, sondern man hat von der eigenen Lebenserzählung das Bild einer recht kontinuierlichen Geschichte, die sich seit langer Zeit durchzieht, vielleicht war man als Kind anders, doch im Grunde hat man seit vielen Jahren das Schiff auf Kurs gehalten.
Aber ist es nicht schlecht, sein Leben auf einer Lüge zu begründen? Die gute Nachricht: Einen Zugang zur letztgültigen Wahrheit und einer objektiven Sicht hat niemand. Der eine erinnert sich so, die andere anders, irgendwie kriegt man daraus so in etwa die Geschichte dessen zusammen, was wirklich geschah, aber selbst Aussagen von Augenzeugen, die etwas aussagen, was eben erst geschehen ist, können sich recht drastisch unterscheiden.
Dennoch scheint es bei gravierenden Abweichungen einzelner Menschen von den normalen Wahrnehmungen das Problem zu geben, dass man Anstoß erregt und einigen Menschen merkwürdig vorkommt. Es gibt eine herrschende Sichtweise, eine dominierende Erzählung, auch wenn sich diese durch die Zeiten verändert. Es kann sein, dass jemand diese Merkwürdigkeiten und Abweichungen braucht, um sein Deutungssystem stabil zu halten. Das kann etwa dann passieren, wenn ein Kind sehr willkürlich erziehender Eltern, die vielleicht an einer Sucht litten oder psychisch krank waren, ihre Welt dadurch stabil halten mussten, dass sie sich als böses Kind ansahen, das Strafe verdient hat. Selbst wenn man kognitiv dazu in der Lage ist, diesen Zusammenhang zu verstehen, kann es sein, dass man das Verhalten nicht abstellen kann und zu Beziehungen neigt, in denen man weiter willkürlich behandelt und ‚bestraft‘ wird, weil man noch immer tief in sich dem Muster folgt, ein böses Kind zu sein, das Strafe verdient hat. Ohne Therapie wird sich das kaum ändern und diese Wiederholung alter Deutungsmuster in neuen Konstellationen nennen Psychoanalytiker den Wiederholungszwang.
Wenn das Deutungsmuster stabil gehalten wird, steht man also nicht unbedingt ein besserer oder überlegener Mensch da, wie wir an diesen Fällen sehen können und es kostet viel Arbeit, diese Muster aufzudecken, bewusst zu machen und Alternativen zu dem Zwang zum bestraft werden zu finden. Auch wenn sich jemand von Idioten und schlechten Menschen umgeben fühlt, mag er sich selbst damit etwas aufwerten, doch diese Interpretation ist letztlich nicht schön, denn wer will schon gerne dauerhaft in einer Umgebung ’schlechter‘ Menschen leben?
Von Beziehungen enttäuscht
Ein weiterer Klassiker ist der oder die vom anderen Geschlecht prinzipiell enttäuschte Mensch. Nach mehreren gescheiterten Beziehungen meint man nun zu wissen, wie „die Männer“ oder „die Frauen“ so sind und was sie wirklich wollen, schließlich hat man es mehrfach erlebt, weiß also, wovon man redet. Eigentlich sollte man meinen, dass jemand sich freut, wenn er hört, dass es Männer oder Frauen gibt, die der eigenen negativen Sichtweise nicht entsprechen, denn vielleicht wäre dann ja noch ein glückliches Ende im eigenen Beziehungsleben denkbar. Aber auch hier und bei weiteren Interpretationen, die einen im Grunde selbst herunter ziehen und den Menschen Moral, Intelligenz oder sonst etwas pauschal absprechen und den Interpreten in ein eher depressives Fahrwasser bringen, ist oft keinerlei Begeisterung vorhanden, etwas an der Situation zu ändern und eine andere Sicht einzunehmen.
Bevor man eine gravierende Sichtweise ändert, führt das psychische Immunsystem einige Testläufe durch, ebenfalls völlig unbewusst. Konkret heißt das, dass wenn man jemandem begegnet, der das bisherige Muster durchbricht, das man als „typisch Mann“ oder „typisch Frau“ kennen gelernt hat, diesem Menschen ein paar Fallen gestellt werden. Unbewusst provoziert man den anderen so, dass er das Verhalten, was man heimlich von ihm erwartet nun fast zurecht zeigen könnte. Die Provokationen treten nicht nur ein mal auf, sondern mehrfach und mitunter exzessiv. Sei es, dass man heimlich befürchtet, dass der andere einen verlässt, fremd geht, handgreiflich wird, sich als Tyrann(in) darstellt, nur auf Geld aus ist oder was immer es sei. Erst wenn der andere mehrere dieser mitunter dramatischen Testläufe überstanden hat, wird das psychische Immunsystem herunter gefahren und man fügt sich in ein neues Muster, in dem man anerkennt, dass es Ausnahmen von der bisher bekannten Regel gibt und man ist bereit die Welt anders zu interpretieren als bisher.
Die Liebe ist dabei ein schöner und eleganter Weg, ein anderer wäre Psychotherapie, der bisherige Muster hinterfragt und in Frage stellt. Eindrucksvoll finde ich immer wieder, wie sehr Menschen ihre Sichtweise beibehalten, was noch einigermaßen verständlich ist, wenn sie dadurch als überlegen dastehen und bessere Menschen als die meisten anderen sind. Dass jedoch auch Weltbilder beibehalten werden, in denen man selbst schlecht weg kommt oder in der Überzeugung lebt, die anderen seien Monster oder Idioten ist nicht auf den ersten Blick nicht leicht nachzuvollziehen. Auf der anderen Seite zeigt es aber, wie wichtig es offenbar für uns ist, die Welt um uns herum in sich stimmig zu deuten, selbst wenn dies eine traurige und hässliche Welt ist.
Dabei ist die Vorgehensweise die das psychische Immunsystem zeigt, ist aber durchaus schön. Es lässt ein Fenster offen, das in Richtung einer Weiterentwicklung geht, hin zu einer besseren Version des Lebens, als man sie kennt. Das psychische Immunsystem agiert dabei eher konservativ, vermutlich um zu verhindern, dass so etwas wie ein grundlegender Interpretationsmodus von Welt immer wieder umgeschrieben werden muss, was verwirrend und unökonomisch wäre. Wo sich Gutes jedoch bewährt, lässt es dies gewähren.