Ganzheitlichkeit und Alternativmedizin

zwei Männer vor Bergkulisse

Bewegung mit Freunden in schöner Umgebung, macht Freude und ist gesund. © Michael Beat under cc

Die Existenz und das verstärkte Auftreten der Heilpraktiker war allerdings selbst schon ein Symptom, ein merkwürdiges, wie auch Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke in ihrem millionenfach verkauften Longseller Kranhkeit als Weg feststellten, der um 1980 erschien. Nicht der Inhalt der Kritik an der Medizin sei interessant, so sagten sie, sondern dass es überhaupt Kritik gibt. In der Tat, das war in der Breite neu, nachdem es bislang in der Nachkriegszeit wie am Schnürchen lief. Auch anderen kritische Stimmen wurden laut zu dieser Zeit, wie die des zwischenzeitlich als Ernährungspapst bezeichneten Dr. Bruker, der vor Ernährungs- und Zivilisationskrankheiten warnte. Alternative Formen der Medizin, die häufig auf irgendeine Art der Ganzheitlichkeit setzten, kamen auf, mit ihnen rückten die Heilpraktiker in ein immer besseres Licht. Von Industrie, Ärzten und Wissenschaft nie geliebt, etablierten sie gegen alle Widerstände (oder wegen dieser?) ein fast subkulturelles System, das vor allem von den gebildeten Schichten getragen wurde und wird.

Mit dem Gedanken des Ganzheitlichkeit rückten aber weitere Faktoren, die in der Medizin zwar durchaus bekannt waren, aber eher eine untergeordnete Rolle spielten, ins Licht. Psyche, Umweltgifte, Radioaktivität, Amalgam in den Zähnen, aber auch die Idee der Bedeutung feinerer Einflussgrößen, wie Ernährung, Entspannung und dergleichen. Wenn man einen Hammer in der Hand hat, sieht alles aus wie ein Nagel, hat man Antibiotika, sind nur noch Bakterien gefährlich und so setzte man immer mehr auf das, was man behandeln konnte, der Rest lief immer noch irgendwie unter belanglos. Viren, Bakterien, Krebs, Herz-/Kreislauferkrankungen und Unfälle, das waren die großen Bereiche der Medizin, der Rest schien nicht so wichtig. „Kann man machen, ist aber im Grunde egal“, war Aussage und Einstellung, zumal oft die Idee dominierte, die wesentlichen Schwachstellen seien genetisch bestimmt, allenfalls 20 Prozent gestand man dem Faktor Umwelt für die körperliche Gesundheit zu, zu dem dann alles aus dem Bereiche der Ganzheitsmedizin gehörte.

Jahrzehnte differenzierten sich beide Lager aus, ohne sich dabei tatsächlich anzunähern oder auch nur groß zu mögen, bis heute und trotz einiger Einzelkämpfer, die als unermüdliche Brückenbauer galten. „Die Schulmedizin“, wurde zu einem Begriff der für viele einen gerade verächtlichen Beiklang hatte, aber nicht weniger gab es immer wieder Kampagnen um die Alternativmediziner, Heilpraktiker und Vertreter einzelner kompllemantärer Verfahren irgendwo zwischen harmlosen und gefährlichen Irren rangieren zu lassen. Für manche wurde körperliche Gesundheit, in Form der Vermeidung von Krankheiten zu einem fast religiösen Thema, in der sich kluge Ideen mit irrationalen Einseitigkeiten und überwertigen Ideen verbanden, Hypochonder und Fundamentalisten fand man an beiden Ufern des Flusses.

Soweit die sehr gedrängte Zusammenfassung einer Geschichte, die in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart eine erstaunliche Wendung erfahren hat.

Ein Rückgang der ideologischen Schlachten

Eine neue Generation von Ärzten ist viel unideologischer unterwegs, als das früher der Fall war. Das hieß nicht unbedingt, dass sie die Kritik der Alternativmediziner und Medizinkritiker für bare Münze nahmen, sondern sie haben sich einfach weniger auf ideologisch motivierte Schlachten eingelassen, man hatte im Großen und Ganzen die pragmatische Einstellung, dass der Patient zusätzlich zur empfohlenen Therapie ruhig machen soll, was er will, wenn er denkt, dass ihm das hilft.

Was wie ein Erfolg der alternativen Ansätze aussah, hatte aber auch einen Nachteil: Man konnte aber auch nicht mehr provozieren und das Argument der Unterdrückung der alternativen Ansätze durch die „die Schulmedizin“ fiel großenteils weg. Doch auch den alternativmedizinischen Ansätzen ist es nicht gelungen, alle Krankheiten zu bessern, doch langsam konnten sich die Ansätze aufeinander zubewegen und durchdringen, die nun in ein medizinisches Gesamtkonzept eingebunden wurden. Akupunktur, EMDR, imaginative oder stessreduzierende Verfahren, werden immer besser integriert und angenommen.

Tenor ist heute oft, dass man mit bestimmten Verfahren, wie etwa der Akupunktur oder Osteopathie nicht viel verkehrt machen kann, was jedoch nicht bedeuten soll, dass diese Verfahren nicht wirken würden und es im Grunde egal ist, ob man sie anwendet oder es lässt, sondern daraus spricht eine Anerkennung dieser Ansätze, die einigen Menschen wunderbar helfen kann (und für bestimmte Indikationen auch als Kassenleistung anerkannt sind) und man sie gerade deshalb in erfolgversprechenden Fällen ausprobieren sollte, therapeutisch eskalieren kann man immer noch.

An dieser Stelle kann man natürlich die berechtigte Frage stellen, wieso man dann nicht gleich das beste Verfahren nimmt, was sicher hilft, bevor man mit halbgarem Zeug rumprobiert. Die Antwort ist, dass es diese sicheren Verfahren in allen Fällen und für alle Menschen, längst nicht in allen Fällen gibt.

Bei Unfällen, Notoperationen, Schock, Infarkten von Herz, Hirn oder anderen Organen gibt es immer noch standardisierte Verfahren, die effektiv sind. Doch bereits in der Nachbehandlung in sehr wichtigen Prävention vor dem zweiten Infarkt trennen sich die Wege und manche Standardverfahren haben einen sehr viel geringeren Nutzen, als man dachte, wie etwa Stents, bei kardialen Symptomen oder SSRI Präparate, bei Depressionen. Einige Interventionen sind umstritten, da es Folgeerkrankungen gibt, wie bei operativen Verfahren des Rückens der Statinen zur Cholersterinsenkung, auch die gewohnte Abfolge schwacher, mittlerer und starker Schmerzmittel existiert so nicht mehr, man muss von passenden und unpassenden Mittel für dieses Krankheitsbild sprechen.

Die körperliche Gesundheit hängt von vielen Faktoren ab

Das sorgt zunächst einmal für mehr Verwirrung. Die alten, groben Kategorien von schlecht für die Zähne, aber sonst unproblematisch, wirksam versus unwirksam, gut oder schädlich, körperlich oder psychisch, genetisch oder umweltbedingt sind in dieser eindeutigen Form kaum mehr aufrecht zu halten. Die alte Form, das heißt im Wesentlichen, dass man meinte, mit einer dominanten Erklärung so ziemlich alles abräumen zu können. „Ist genetisch bedingt“, war gleichbedeutend damit, dass man eben nichts machen kann und auch nichts machen muss. Findet man 20 verschiedene Stellschrauben, dann bleiben immer noch einige, an denen man nichts ändern kann, denn bestimmte genetische, zeittypische Einflüsse, das Lebensalter oder wie man aufgewachsen ist, kann man nicht ändern, aber durch unsere Kenntnisse über Resilienz, das innere Kind oder Epigentetik versteht man auch Zusammenhänge besser.

Es gibt zwei Extreme, die nicht zu einer Verbesserung der körperlichen Gesundheit führen: Das eine ist die Idee, buchstäblich alles regeln zu können oder zu wollen, der zumeist in an sich „sanften“ Ideen zum Ausdruck kommt, hinter denen keine Bosheit, sondern eher einer übergroße Sorgt steckt. Die andere Idee ist ein zu starker Fatalismus, bei dem man die Idee hat, man hätte auf alles, was mit der eignen Gesundheit zu tun hat, ohnehin keinen Einfluss. Ein bisschen Fatalismus und Demut sind durchaus gut, zu viel nicht. Aber zwischen den Extremformen gibt es ein breites Spektrum, in dem sich im Grunde die Fülle der Faktoren in zwei Cluster unterscheiden lassen: objektive und subjektive.

  • Objektive Faktoren
  • Damit meine ich alle jene, die der Einzelne nicht selbst beeinflussen kann:

    Genetik, Lebensalter, familiäre und soziokulturelle Herkunft, Gesellschaft und Zeitgeit, bestimmte Umweltgifte, klimatische oder geographische Bedingungen, medizinische Möglichkeiten, Allergien und sonstige Unverträglichkeiten, Temperament, sowie erworbene Einschränkungen oder Degenerationen.

  • Subjektive Faktoren
  • Das sind jene Faktoren, auf die der Einzelne eine direkten oder indirekten Einfluss hat:

    Ein Sinn im Leben, Disziplin, Einsicht, Reflexionsvermögen, Empathie, die Bereitschaft zu lernen, Vertrauen, Achtsamkeit, Ich-Stärke, Resilienz, Ressourcen, Therapie, Ernährung, Bewegung, Freude. Empfindungen.

    Beide Listen ließen sich erweitern und beide überschneiden sich. Niemand kommt auf die Welt mit dem Wunsch alles schwarz zu sehen und zutiefst unglücklich zu sein, aber es gibt auf der anderen Seite eine erstaunliche Beharrlichkeit nachweislich schlechten Angewohnheiten beizubehalten und daran kann man arbeiten, auch wenn man zuweilen dicke Bretter bohren muss. Im Idealfall immer irgendwo ausgependelt zwischen den Extremen von Größenwahn und Fatalismus. Doch der Zusammenhang der vielen Bereiche ist nicht einfach nur verwirrend, er zeigt auf der anderen Seiten auch ein Zusammenlaufen vieler Muster.