Zwei alte verschränkte Hände

Manchmal erzählen Hände ihre eigene Lebensgeschichte. © Vinoth Chandar under cc

Die eigene Lebensgeschichte ist in ihrer Bedeutung für uns nicht zu unterschätzen und keine beliebige Erzählung.

Vielleicht hat sich manches heute umgedreht. Früher lernte man sich erst kennen, kam sich dann näher und hatte später Sex zusammen. Durch die Digitalisierung hat sich vieles verändert, man erfährt über Algorithmen von Dating-Apps, dass man ein Match hat, tauscht sich dann privat aus, auch darüber, ob man einen ONS oder eher was Festes sucht.

Nachdem man geklärt hat, ob man sich irgendwie sympathisch ist und eher dann, wenn man was Festes sucht, fängt man an, sich näher kennen zu lernen und einander die eigene Lebensgeschichte zu erzählen. Nicht in der Art einer chronologischen Abfolge wie Geburt, Kita, Schule, Studium/Beruf, sondern anhand einzelner Themen oder Verhaltensweisen, erfährt man, was der oder die andere denkt, immer schon mochte oder absolut nicht leiden kann. Auch, wie es dazu kam und nach und nach entsteht das immer komplettere Bild einer anderen Person, über die man, wenn es gut läuft, immer mehr wissen will und wenn es nicht gut läuft findet man die Geschichten irgendwann langweilig.

Denn mehr über andere wollen wir oft nur wissen, wenn es um Promis, unsere engsten Freunde oder interessante neue Bekanntschaften geht. Die Fragen des andere bringen uns dazu, über die eigene Lebensgeschichte nachzudenken. War das eigentlich schon immer so bei mir? Wie und wann kam es dazu? Vielleicht hat man da selbst noch nie drüber nachgedacht. Viele Teile, die zusammen die eigene Lebensgeschichte ergeben.

Veränderungen, Anpassungen, Revisionen

Nun ist es aber nicht so, dass die eigene Lebensgeschichte einfach eine Art Fortsetzungsroman oder Vorabendserie ist, die jedem Monat um ein weiteres Kapitel ergänzt wird, sondern die Geschichte selbst verändert sich nach und nach. Was dem Kind sehr wichtig ist, solange es noch Kind ist, verliert für den Erwachsenen oft seine Bedeutung. Kindern ist klar, was sie wollen, toben, spielen sich von Süßigkeiten ernähren ist eine beliebte Variante bei vielen. An der Durchführung werden sie oft von Erwachsenen gehindert. Für Kinder ist es oft unverständlich, warum Erwachsene, denen aus Sicht der Kinder niemand etwas vorschreiben kann, so langweilige Dinge machen, wie dazusitzen und zu lesen, wenn sie doch spielen könnten. Es verbietet ihnen doch keiner. Eine seltsame Spezies, diese Erwachsenen.

Auch wenn wir als Erwachsene immer noch gerne spielen und Süßigkeiten essen sollten, so wissen wir, dass das in aller Regel nichts ist, was wir den ganzen Tag tun wollen. Außer vielleicht ein paar Freaks, die Gamer oder Zocker sind und für die Spielen nach wie vor alles bedeutet. Die meisten sehen so etwas in der Regel als problematisch an, Spiel darf zwar zum Leben gehören, aber wir sollten andere Prioritäten setzten: Soziale Kontakte und Arbeit.

Auch Menschen die noch immer am liebsten Süßigkeiten essen gibt es im Erwachsenenalter, doch irgendwann wissen sie selbst um die problematischen Aspekte dieses Verhaltens und wenn sie Glück haben, können sie es ändern. In den meisten Fällen einer normalen Entwicklung wächst sich aber beides aus und die kindlichen Bedürfnisse und Perspektiven ändern sich, ohne dass man sehnsuchtsvoll dahinschmilzt und die ganze Zeit spielen oder Schokolade will. Andere Bedürfnisse kommen hinzu und überwiegen. Manchmal will man einfach nur mal seine Ruhe haben.

Mit 40 oder 50 ist es dann wieder so, nämlich ganz anders als es von 16 bis 30 (oder so) war. Wenn man in dieser Zeit viel auf Partys war und die Abenteuer dieser Zeit ausgekostet hat, dann will man mit Mitte 40 in der Regel nicht mehr die Nächte durch tanzen, selbst wenn man es körperlich noch könnte und die Zeit hat. Das Bedürfnis ist irgendwie weg. Vielleicht macht man es noch einmal in Erinnerung an früher, diese manchmal schöne und intensive Zeit.

Was hier und heute wichtig ist, war es gestern noch nicht – Kinder fragen sich nicht, was die Nachbarn wohl denken – und morgen wird es unter Umständen auch nicht mehr wichtig sein. Irgendwann hat man auch den Konkurrenzkampf und das Posen hinter sich. In irgendeinem Alter hat man es entweder geschafft und ist ‚jemand‘, oder nicht. In beiden Fällen kann man sich entspannen. Der Glaube daran, dass man mit 62 das unentdeckte Talent oder verkannte Genie ist, kurz vor dem kometenhaften Aufstieg, ist eher selten.

Die konventionelle Lebensgeschichte

Aber vielleicht auch nur in unserer konventionellen Einstellung über das Leben. Wir scannen beim Kennenlernen bestimmte Muster ab. Die körperliche Attraktivität muss da sein, vermutlich muss man einander auch im wörtlichen Sinne gut riechen können, aber es gibt auch soziale Marker. Welche Einstellungen man hat, was man so beruflich darstellt und spätestens da fängt an, dass sich diverse Interpretationen der eigenen Lebensgeschichte überlagern.

Wir sind, wer wir sind, nicht nur – eigentlich sogar erschreckend wenig – aufgrund eigener Erkenntnisse und einer Innenschau von Zeit zu Zeit, sondern viel von dem was wir als unser ureigenes Sosein, so, wie wir eben sind erleben, kommt gar nicht von oder aus uns, sondern ist gewisser Weise importiert. Wir erleben es zunächst als etwas, was irgendwie immer schon in uns war, aber durch Reflexion können wir darauf kommen, dass die wirklichen Quellen andere sind. Wenig verwunderlich, werden wir überwiegend durch unser nächstes, familiäres Umfeld geprägt und auch dieses lebt nicht im soziokulturell luftleeren Raum, sondern ist durch den jeweiligen Zeitgeist und tradierte Muster in Bahnen geleitet. Die Sprache, die Arbeitsbedingungen, das Familien- und Gesellschaftsbild, das alles setzt den Rahmen für das, was wir dann als unsere ganz persönliche Geschichte erleben.

Die konventionelle Lesart fordert von uns, uns ihrem Muster anzupassen. Die gesellschaftlichen Vorgaben zu missachten kann man sich nur erlauben, wenn man positiv von ihnen abweicht, also dennoch irgendwie erfolgreich ist. Auch da existieren gewisse Rollen. Man kann Künstler werden, zum Zirkus gehen, sich als Sportlerin oder Astronaut versuchen, ins Kloster, inzwischen auch noch Influencerin. Man kann auch eine kriminelle Karriere machen, dort erfolgreich sein und auch das kann attraktiv wirken. Aber alles in allem bleiben die meisten doch beim konventionellen Muster und da sind die Eckdaten bei uns eben nach wie vor, was jemand beruflich macht, die familiäre Herkunft und dergleichen. Auch wenn ältere Rollenmodelle und Selbstverständlichkeiten gerade massiv hinterfragt werden, was für relativ großen gesellschaftlichen Stress sorgt, zu viele Stimmen, zu viele Perspektiven, man weiß nicht mehr, was die anderen wirklich wollen.

Angebote diese Komplexität der Möglichkeiten zu reduzieren, gibt es ebenfalls genug und betrifft all jene Erzählungen, die den Dschungel lichten und uns erzählen wollen wie die Menschen, die Frauen, die Männer wirklich sind und das Weltganze wirklich funktioniert. Dann wird alles wieder ganz leicht begreifbar. Vielleicht gesteht man in dieser reduzierte Lesart machen Aspekten noch zu am Rande wichtig zu sein, meistens jedoch dominiert ein Bereich oder eine Lesart über alle anderen. Da ist dann alles eine Frage von Evolution, Geopolitik oder Bevölkerungswachstum.

Weltbild und Selbstbild

Das entspricht dann zumeist dem, was man Weltbild nennen kann und innerhalb dieses Weltbildes nimmt das Selbstbild eine bestimmte Position ein, die sehr stark von diesem Weltbild abhängig ist. Oft hat man das Gefühl, dass Menschen mehr um ihr Weltbild kämpfen, als um ihr Ich, aber das stimmt nur insofern, weil dieses Ich, das eigene Selbstbild und damit auch die eigene Lebensgeschichte mit dem Weltbild steht und fällt.

Wenn die Welt so ist, wie ich glaube, dann hat meine Lebensgeschichte einen roten Faden, mein Leben einen gewissen Sinn, ist die Welt anders oder wird mein Weltbild infrage gestellt, ist damit auch mein Selbstbild und meine Lebensgeschichte gefährdet. Das Weltbild macht die Welt für den einzelnen erfahrbar und überschaubar, es ist zugleich unser Zugang zur Welt. Das Weltbild das wir haben, macht Welt zu einem guten Teil erst zu dem, was wir wahrnehmen. Es ist die Brille, durch die wir die Welt betrachten. Das ist nicht unbedingt sofort verständlich, soll hier aber nicht weiter verfolgt werden.

Nun ist es in den meisten Fällen so, dass wir uns auch über unser Weltbild nicht unbedingt Rechenschaft abgelegt haben. Wenn man gebeten wird, mal eben sein Weltbild zu erläutern, muss das nicht sofort gelingen. Aber in Fragmenten, wenn man sich entlang einzelner Themen dazu äußert, etwa, wie man übers Kinder kriegen, die Todesstrafe, den Krieg oder welche Filme man mag, was man isst und was nicht redet, legt man sich und andere immer wieder Puzzleteile des Weltbildes hin. Setzt man diese zusammen zeichnen sich Konturen des Weltbildes ab.

Zur eigenen Lebensgeschichte gehört, dass das Weltbild sich einige Male ändert, in der Kindheit öfter, aber das vergisst man, im Erwachsenenalter ändert es sich seltener, manchmal auch gar nicht mehr. Mein Weltbild kann lauten, dass die Welt ein einziger Kampf ist. Mein Selbstbild verhält sich entsprechend dazu. Ich kann mich als Krieger erleben, genau passend, um in dieser Welt zurecht zu kommen. Oder ich bin keiner, dann muss ich eben aufpassen, unterm Radar bleiben und mich an den Stärksten anpassen um keinen Schaden zu nehmen.

Mein Weltbild kann lauten, dass sich in der Welt alles nur um Geld dreht. Ich kann mein Leben darauf ausrichten viel davon zu bekommen oder zerknirscht sein, weil ich einfach nicht genug habe und ich daher nichts wert bin, niemand mich attraktiv findet, da Geld das einzige ist, was zählt.

Mein Weltbild kann aber auch der Glaube sein, dass der Fortschritt durch Wissenschaft & Technik die Welt unaufhaltsam zum Besseren verändert, es zwar hier und da ein paar Hänger und Schwierigkeiten geben mag, wir alles in allem aber auf einem guten Weg sind und diesen Weg nur unbeirrt und konsequent weiter verfolgen müssen.

Oder, dass nur ein Gott uns retten kann und das auch tun wird, wenn wir seinen Geboten und Verboten folgen und wir automatisch eine große Familie werden, wenn alle den Glauben teilen.

Je nach dem, was ich glaube, ergeben sich für mein Ich bestimmte Regeln, aus meinen selbst gewählten Prämissen oder Grundannahmen.