Grade der Offenheit

junge Frau mit Scheuklappenmantel

Manchmal ist es gut, ganz bei sich zu bleiben. © Pulsea under cc

Noch frustierender ist vielleicht die angetäuschte Offenheit. Einige Menschen scheinen vom eigenen Herzensthema tatsächlich inintial begeistert zu sein, unterhalten sich angeregt über die Ideen, notieren sich vielleicht noch bestimmte Buchtitel oder Webadressen und man denkt, hier hätte man etwas bewegt. Trifft man diese Menschen einige Zeit später wieder, ist das ehemalige Interesse am Thema nahezu vollkommen erloschen oder es hat nie die Bedeutung von „sehr interessant“ überwinden können. Das Thema hat für einen selbst aber möglicherweise einen ganz anderen Stellenwert, einen, der zur Änderung von Einstellungen und Verhalten führte.

Aber wie offen soll man sein, was können wir da vom anderen erwarten? Wir können andere Menschen nicht zwingen, sich für die Themen zu erwärmen, die uns wichtig sind. Wir tun das selbst ja auch nur im begrenzten Umfang. Was wir allerdings erwarten dürfen, ist, mit Themen, die unseren Herzensanliegen sind, angehört und ernst genommen zu werden. Wenigstens, wenn wir mit den Menschen in einer engeren Beziehung stehen. Es bleibt dem anderen überlassen, ob er auf unser Angebot reagiert oder nicht.

Es ist jedoch auch unser Recht, auf ein Thema mit Nachdruck hinzuweisen, vor allem dann, wenn es von überindividuellem Interesse ist. Doch auch da gehen die Interessen und vor allem, die Ansichten darüber, was die zwei, drei wichtigsten Bereiche überhaupt sind, auseinander. Man muss im Leben Prioritäten setzen, doch niemand kann einem vorschreiben, wo diese liegen.

Offenheit ist jedoch ein Baustein des Fünf Faktoren Modells oder kurz der Big Five, in der Psychologie und bereits bei der kurzen Beschäftigung mit den Ideen der Big Five wird klar, dass der Grad der Offenheit zwar recht offensichtlich so ist, dass mehr Offenheit und Neugier glücklich machen, allerdings ihrerseits von anderen Faktoren abhängen. Wie wir oben schon feststellen, ist der Grad an Ich-Stärke oder Ich-Schwäche, bei den Big Five Neurotizismus genannt, wichtig. Menschen, die sich bedroht fühlen, werden tendenziell konservativer, ihre Offenheit, Neugierde und Bereitschaft zur Verhaltensänderung sinkt.

Das Beste aus beiden Welten und eine wenig verstandene Paradoxie

Wenn Ignoranz, positiver als gewöhnlich, als die Fähigkeit sich auf das für das eigene Leben Wesentliche zu konzentrieren interpretiert wird, so soll der Hinsweis auf die Dynamik der Psyche gleichzeitig nahelegen, dass das im besten Fall der erste Schritt ist. Aus einer soliden Basis heraus gewinnt man überhaupt erst die Bereitschaft und Stärke sich dem anderen zuzuwenden. Die Hinwendung nach innen ist dabei der Weg sich dem Außen überhaupt wieder öffnen zu können. Und die Öffnung nach außen ist es, die das Ich stärker macht und zudem auch noch glücklicher.

Man kann das schlecht umdrehen aber beides hängt zusammen. Wer sich im Außen verströmt ohne selbst gefestigt zu sein, wird dazu neigen, zu projizieren. Er sieht dann im Außen, was in sich brach liegt und nach Aufmerksamkeit ruft. Das kann dazu führen, dass man zwar im Außen viel Gutes tut, die innere Wunde aber nicht heil wird. Doch gleichzeitig kann die Beschäftigung mit dem Außen, der altruistische Wunsch das Wohl des anderen vergrößern zu wollen, in einem hohen Maße dazu führen, die Fixierung auf das eigene Ich zu überwinden. Wie man glücklich und gelassen wird und das Leben als sinnvoll begreift beantwortet sich dabei meist ganz von selbst, im vorbeigehen, gerade, in dem man von der expliziten Beschäftigung mit diesen Themen ablässt.

Wer also seine eigene Welt in Ordnung bringt vergrößert automatisch seine Bereitschaft sich für die Bedürfnisse anderer zu öffnen und wird gerade nicht egoistisch. Wer ein starkes Bedürfnis spürt die Welt zu retten, sollte auch mal den Blick nach innen richten und schauen, wofür die Verbesserung um Außen symbolisch stehen könnte. Die berühmte Schattenarbeit. Wenn man beides in eine gelungene Balance bringen kann, ist auch das, was man im Kleinen tut vermutlich ungeheuer hilfreich und hier stellt sich die subjektiv unterschiedliche Gewichtung als ein Segen heraus, weil sehr viele Nischenbreiche des Lebens von engagierten Menschen Zuwendung erfahren. Es gibt fast nichts, dem nicht irgendwer sich mit Hingabe widmet, im besten Fall zu seinem eigenen Wohl und zum Wohl der Welt.

So lasst uns denn die Scheuklappen aufsetzen, wenn wir merken, dass es nötig ist, aber gleichzeitig im Hinterkopf behalten, dass wir sie auch wieder ablegen können und sollten und dass der zweite Schritt zur Lebenszufriedenheit oft nur dadurch geht, dass man die Kreise des Interesses größer werden lässt.