Keine Frage. Die Überschrift ist plakativ. Für eine Webseite, für welche ausgebildete Psychologen schreiben, umso mehr. Aber du bist hier. Und darum geht es schließlich. Dass man einander hilft. Du fragst dich, warum du immer wieder negative Erfahrungen in Beziehungen machst? Warum du vom Partner verletzt wirst, obwohl du doch alles dafür tust, geliebt zu werden? Was stimmt denn nicht mit dir?, fragst du dich. Fortwährend fällst du auf den gleichen Typ Mensch herein und wirst immer wieder Opfer von Narzissten.
Narzissmus: Wer und wie viele?
Narzissmus ist nicht zwangsläufig schlecht. Solange er in gesunden Maßen betrieben wird und niemanden verletzt. Denn es ist ein Zeichen psychischer Gesundheit, ein Idealbild von sich selbst erzeugen zu können, genauso wie seinen Zielen zu folgen. Galt vor einigen Jahrhunderten noch der sogenannte Kleinbürger mit seiner Spießigkeit, seinem Gehorsam und seiner Engstirnigkeit als maßgeblicher Sozialcharakter in der Gesellschaft, ist es nun eine zunehmend narzisstische Persönlichkeitsstruktur, die uns dank der Anforderungen der Gesellschaft abverlangt wird. Eine gewisse Zurschaustellung, die gewünscht wird, ein Sich-verkaufen-können.
Dieser Sachverhalt ist wichtig, herauszuarbeiten, damit man weiß, es ist kein persönliches Manko, warum man immer wieder Opfer von Narzissten wird, sondern es liegt schlichtweg daran, dass es immer mehr narzisstische Tendenzen bei den Menschen gibt. Der amerikanische Journalist Christopher Orlet schlussfolgert nach Studien: Bereits 2007 wiesen zwei Drittel der College-Studenten überdurchschnittliche Werte für Narzissmus auf, was in etwa 30 Prozent mehr als die 25 Jahre davor ist. Tendenz steigend. Demzufolge ist Narzissmus kein Dunkle-Ecken-Phänomen der Psychiatrie, auf welches einige schwach ausgeprägte, selbstunsichere Charaktere hereinfallen, die dann in diese narzisstische Abhängigkeit stolpern, nein, es ist ein Phänomen unserer Zeit.
Look at me!
Schon vor vierzig Jahren nannte man die Generation der Baby Boomer auch Generation Ich. Nach dem Zweiten Weltkrieg offenbarte sich gemäß dem US-Schriftsteller Tom Wolfe für Millionen von Menschen plötzlich der Luxus, sich mit sich selbst beschäftigen zu können. Christliche Werte gerieten zugunsten der Selbstzentriertheit und des eigenen beruflichen Vorankommens zunehmend in den Hintergrund.
Und nun kommst du ins Spiel. Die Häufigkeit in der heutigen Zeit auf einen Narzissten zu treffen, ist das eine. Das andere ist, welche deiner Eigenschaften machen dich interessant für einen Narzissten? Dabei reden wir von einem tendenziell krankhaften Narzissten, einem schadhaften, der es vorzieht, andere leiden zu lassen, anstatt sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Warum du immer wieder Opfer von Narzissten wirst: ein Psychogramm
Schauen wir uns dich mal genauer an. Du bist bestimmt super empathisch, hast immer ein offenes Ohr für andere und versuchst, ein guter Mensch zu sein. Und genau das macht dich zur idealen Batterie für einen Narzissten, der sein eigenes Seelenheil – oder besser gesagt: Seelenunheil – an dir aufladen kann.
Du gibst einen Vertrauensvorschuss
Vertrauen ist der Grundstein einer Beziehung. Das weißt du – aber auch der narzisstische Part besitzt davon Kenntnis. Folglich begibst du dich in seine Hände, wähnst nichts Böses, schließlich wird dir vermittelt, wie sehr du geliebt wirst. Und dann kommt der große Knall. Ausnutzen, Lügen, Verletzungen, Beleidigungen, für die du immer wieder Entschuldigungen findest. Schließlich liebt er dich doch!
Du besitzt Herzlichkeit
Du hast ein gutes Herz. Und eben darum willst du ja helfen, versuchst, die Perspektive des anderen einzunehmen, um seine Sichtweise zu verstehen, bist bemüht, immer wieder Verständnis aufzubringen etc. Kurzum: Du hast ein Gemüt wie ein Schaukelpferd.
Du analysierst die Umstände
Ist dein narzisstischer Partner mal wieder ausfallend geworden, analysierst du, weshalb das so ist. Dabei muss er sich nicht einmal bei dir entschuldigen, du schenkst ihm dein Verständnis aus freien Stücken. Welche Hintergründe aus seiner Kindheit führten dazu, dass er immer so aggressiv und verletzend wird? Hat seine Mutter ihm nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt? Oder zu viel Beachtung? Du denkst, du musst nur warten, immer wieder mit ihm reden, versuchen, zu verstehen, und dann wird sich schon etwas ändern – doch das wird es nicht. Weil ein Mensch mit einer pathologisch narzisstischen Persönlichkeitsstruktur sogar von deinem Mitleid zehrt, selbst wenn er sich vielleicht sogar reumütig gibt.
In deiner Selbstlosigkeit glaubst du immer wieder an das Gute in ihm und schenkst ihm einen weiteren Vertrauensvorschuss. Nach und nach gibst du deine eigenen Wahrnehmungen auf, deine Bedürfnisse geraten in den Hintergrund, dein hauptsächlicher Fokus liegt auf dem Wohlergehen deines Partners. Du hoffst jedes Mal auf eine Änderung, dass nun endlich alles gut wird – aber das wird es nicht. Sei gewiss. Denn dein Verhalten bestärkt den Narzissten in seinem Selbst. Immer wieder.
Du bist aufrichtig
Ganz so wie es in einer Beziehung normal ist, hast du dich deinem Partner offenbart. Deine Schwächen, deine Ideale, deine Ängste. Wissen über dich, das er in entscheidenden Situationen missbraucht, um dich klein zu halten und zu verletzen. Deine Ehrlichkeit wird von einem narzisstischen Partner als Schwäche ausgelegt.
Du verfügst über moralische Standards
In guten wie in schlechten Zeiten, Liebe und Treue bis in alle Ewigkeit – solche Wertvorstellungen sind dir etwas wert. Folglich hast du den Anspruch, an der Beziehung zu arbeiten. Nach und nach merkst du, dass du der einzige mit dem Ansinnen einer Beziehungsoptimierung bist.
So bist du. Was nun?
Die im Grunde großartigen Eigenschaften zeichnen also dein Wesen aus, mit dem du immer wieder Opfer von Narzissten wirst. Das Paradoxe ist, dass genau solche Werte eine zunehmend narzisstisch werdende Gesellschaft dringend braucht. Um gegenzusteuern. Und genau das solltest du auch in deinem Privatleben tun: Verletzungen und Beleidigungen sind immer Warnsignale, dass ein solches Verhalten in der Partnerschaft von Dauer sein wird. Sie zeugen von Respektlosigkeit und Abwertung des anderen. Tief sitzende Verhaltensschemata und kognitive Automatismen, denen im Grunde nur mit therapeutischer Intervention Einhalt geboten werden kann. Der Zirkelschluss beim Narzissten ist, dass die Anderen Schuld sind. Es fehlt die Einsicht in das eigene Fehlverhalten. Solange diese nicht besteht – und zwar dauerhaft und nicht zweckdienlich vorgetäuscht -, gibt es keine Veränderung im Auftreten eines Narzissten.
Schadhafter Narzissmus, der mit Beleidigungen und Aggressionen einhergeht, darf niemals mehr zurück hinter verschlossene Türen. Er muss an den Pranger gestellt werden und ins Licht der Öffentlichkeit geholt werden, indem man darüber spricht. Und vielleicht widmest du dich, als jemand, der immer wieder Opfer von Narzissten wird, einmal mehr deinem eigenen Ich. Bewahre dir diese wunderbaren Werte, welche deine Persönlichkeit ausmachen, aber hör auf, ein Opfer zu sein und kümmere dich um dich. Vielleicht machst du ein paar Bilder deines Lebens mehr von dir, legst den Fokus mehr auf dein Vorankommen, um dir selbst zu verdeutlichen, was du willst und worauf du stolz sein kannst. Setze klare Grenzen gegenüber krankhaftem Narzissmus, aber verschließe nicht die Augen vor dem, was gesunder Narzissmus in einem bewirken kann. Nämlich, dem eigenen Ideal zu folgen und seine eigenen Ziele zu verwirklichen.