Wenn man zu offen ist

Neugierde und Offenheit machen das Leben spannend. © Eva-Maria Vogtel under cc
Offenheit ist schön, wenn man die innere Möglichkeit hat, bei Bedarf die psychischen Fenster auch wieder zu schließen und die Rollläden herunter zu lassen. Wenn man also abschalten und bei sich bleiben kann. Doch das gelingt nicht allen und die Folge ist, dass die Welt mehr oder weniger ungefiltert auf sie einprasselt. Alle Sinne offen, man ist überall zugleich, bekommt alles mögliche mit und muss es folglich verarbeiten. Und wenn man sehr viel mitbekommt, ist oft recht schnell der Punkt erreicht, an dem alles zu viel wird.
Es gibt drei Linien das Feuerwerk der Sinne zu bearbeiten, die eine ist der narzisstische Weg, bei dem man einfach alle Kritik ausblendet und in einer ‚alle lieben mich‘ Scheinwelt lebt. Der Rest findet nicht statt. Der andere Weg ist die paranoide Lösung, die Signale der Außenwelt in ein gewaltiges inneres Netz aus mehr oder weniger phantasierten Beziehungen und Gründen umleitet und sie dort konsistent, aber oftmals ein wenig eng und irgendwann für andere nicht mehr nachvollziehbar interpretiert. Am offensten und schutzlosesten ist der Weg der Borderliner, die kaum über psychische Umleitungssysteme verfügen und die Eindrücke der Welt recht ungefiltert mitkriegen und oft gezwungen sind auf diese direkt agierend einzugehen.
Zudem ist die Stimmung in der Bevölkerung und vielleicht noch mehr in den massenmedial transportierten Teilen der Öffentlichkeit angespannter geworden. Aggressiv und theatralisch, bisweilen hysterisch, mit viele Getöse aber oft wenig greifbaren Änderungen und Ergebnissen. Auch das prasselt ja auf uns ein, Nachrichten in Echtzeit, aus anderen Teilen der Welt, von denen wir früher noch nicht mal wussten, dass es sie gibt. Dazu kommt, dass das Internet, virtuell oder nicht einfach eine riesigen Teil unseres Lebens ausmacht und beeinflusst. Mitsamt der hier lauernden Gefahren, wie Cybermobbing und Hate Speech.
Ein Bombardement an Reizen, die es früher einfach nicht gab. Dazu ein Wegfall an Hemmungen auf vielen Ebenen, die es früher vermutlich stärker gab, dazu mehr Möglichkeiten als früher, seine Hemmungslosigkeit auszuleben. Mit all dem muss man erst mal fertig werden und das schafft man nicht immer und schon gar nicht jeder. Dazu muss man selektieren, auswählen, ausblenden, die Schotten dicht machen und ein Stück weit ignorant sein.
Diese Ignoranz kann und muss man manchmal lernen und es gibt psychotherapeutische Methoden, die einem dabei helfen können. Man konzentriert sich darauf sich nur auf einen Sinn zu achten, etwa alles, was man jetzt gerade hören kann. Dazu kann man die Augen schließen und nur auf die Hörwelt achten. Dann konzentriert man sich auf alles, was man riecht, sieht, fühlt oder schmeckt, so intensiv es gerade geht. Auf diese Weise kann man lernen, selbst Herr (oder Frau) im eigenen Haus zu werden und das zurückzuweisen, was gerade nicht gebraucht wird. Das ist ein Weg für den man einige Zeit braucht, aber es ist ein lohnender Weg. Generell sind alle Wege die zu mehr Ich-Stärke führen dazu geeignet, die Eindrücke der Welt besser verarbeiten zu können und sie alle helfen uns dabei potentiell Unwichtiges aus dem Weg zu schaufeln.
Ressourcen, Resilienz und Ignoranz
Weil Ignoranz keinen guten Klang hat, heißen die Fähigkeiten sich der Widerstandskraft zu bemächtigen heute Resilienz oder Rückgriff auf Ressourcen. Resilienz ist dabei größtenteils die Fähigkeit, den negativen Eindrücken und Einflüsterungen der Welt nicht nachzugeben und seinen eigenen Weg weiter zu gehen. Hat man dies mehrere Male gemacht und Probleme und Herausforderungen in seinem Leben erfolgreich gemeistert, kann man auf diese Erfahrungen zurückgreifen und Therapeuten erinnern einen gerne daran. Wie habe ich das denn eigentlich geschafft, damals?
Die sprichwörtlichen Scheuklappen des Pferdes sind ja dazu da, dass das Pferd nicht zu viel von der irritierenden Welt mitbekommt und ein Teil der Psychopharmaka tut nichts anderes, als die Empfindsamkeit einfach chemisch ein wenig herunterzuregulieren. Die oft erste Selbsttherapie der Angsterkrankten, der Alkohol, macht auch nichts anderes. Andere Faktoren die die Resilienz steigern haben wir ironischerweise aus unserem Alltag verdrängt. Eine Steigerung der Resilienz wird auch dem religiösen Glauben attestiert, doch der hat bei uns keine Konjunktur. Es ist der Kern der ödipalen Situation, dass der Vater eine gewisse Zeit im Leben das letzte Wort hat, was einerseits belastend ist, aber andererseits eine klare Orientierung ermöglicht und vor den Chor anderer Stimmen schützt. Man hört sie schon, aber sie haben nicht die Autortät des Vaters. Doch oft existiert diese Konstellation nicht mehr und die Autorität des Vaters ist geschwächt.
Wir müssen ständig Entscheidungen treffen, die sich zu einem Teil darum drehen, was für unser Leben wichtig und unwichtig ist. Wie so oft im Leben ist das ein Dreiklang aus den Werten, die die Eltern durch Wort, Tat und Verschweigen vermittelten, der aktuellen Stimmung in Zeit, Kultur und Region, sowie dem eigenen Temperament und den Erfahrungen und Reflexionen des eigenen Lebens. Damit wir einen Teil dieser Entscheidungen nicht jedesmal neu überlegen müssen, graben sich Gewohnheiten, wie Rillen immer tiefer in den Stein und irgendwann fließt das Wasser den immer gleichen vorgeprägten Weg. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Stur tut er, was ihm bekommt, was links und rechts des Weges liegt sieht er nicht, interessiert ihn nicht. Und das ist nicht schlecht.
Wenn Ignoranz zum Problem wird
Doch wenn wir ehrlich sind, ist der schlechte Ruf der Ignoranz nicht völlig unbegründet. Ausgewachsene Ignoranten bringen uns mindestens dazu die Augen zu verdrehen, ihnen selbst mag das wenig ausmachen, aber es gibt ja auch noch eine Umwelt, die vom Ignoranten in der Regel wenig begeistert ist. Hier müssen wir Ignoranz als therapeutischen Weg von der Ignoranz als häufiger Lebenseinstellung unterscheiden. Denn, auch wenn man ein Recht darauf hat privat ungestört zu sein und sich für das zu interessieren – oder eben auch nicht zu interessieren – wonach einem selbst der Sinn steht, man bekommt ja auch Rückmeldungen aus seiner Umgebung anhand derer man erkennen kann, ob man eher als cool, charakterstark oder ignorant angesehen wird.
Es müssen in der Regel starke Reize, prägnante Begegnungen und Erfahrungen sein, die uns Menschen dazu bringen umzudenken. Dann allerdings sind wir in der Lage sogar jahrzehntelange Gewohnheiten zu ändern, nicht selten von einem Tag auf den anderen. Auf einmal haben manche ihr Thema gefunden, irgendetwas macht klick. Hat man so einen Bereich für sich entdeckt und merkt, wie er das eigene Leben bereichert, kann es, wohl auch temperamentbedingt sein, dass man sich damit zurückzieht und im Stillen nun beginnt, zu malen, zu sammeln oder Kurzgeschichten zu schreiben, doch andere entwickeln ein starkes Sendungsbewusstsein und wollen der Welt ihre Erkenntnisse mitteilen. Egal, ob das Thema vermeintlich klein oder groß ist. Denn der Mensch ist nicht nur ein Gewohnheitstier, sondern auch ein Beziehungswesen. Er lebt vom Austausch, vom Geben und und Nehmen von Arbeit, Emotionen und Gründen.
Diese Gründe bringen wir gern vor, wenn wir von etwas zutiefst überzeugt und begeistert sind oder es als Notwendigkeit ansehen. Allerdings macht man dann oft frustrierende Erfahrungen mit der Ignoranz. Andere sind weit weniger von dem eigenen Thema begeistert und oft nicht bereit, sich näher damit auseinanderzusetzen. Falls sie zuhören, ist das eher ein Akt der geduldigen Höflichkeit, innerlich sind sie oft schon woanders. Manchmal hört man auch Bemerkungen, wie „Interessant, womit Du Dich so beschäftigst“, was eine etwas bittersüße Komponente hat, weil man ahnt, dass das Thema nicht ankommt, man selbst aber irgendwie als Freak wahrgenommen wird. Wer selber ein gewisses Sendungsbewusstsein in einem Bereich verspürt, der weiß, dass es einem dabei ums Thema, den Inhalt geht, insofern ist das Interesse an der eigenen Person hier weniger das, was man erreichen wollte.