Wir lernten sensibel zu werden, für alle und alles offen zu sein

Sich gegen das Leid von Mensch und Tier einzusetzen, bleibt dennoch wichtig. © BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN under cc
Die Zeit nach der gesellschaftlichen Revolution von 1968 war vor allem dadurch geprägt, dass man gegenüber immer mehr Phänomenen, Menschen und Lebensansätzen Offenheit und Toleranz entwickeln sollte. Das würde, nach den ideologischen Verengungen in der Nazizeit und dem reaktionären Muff in den Jahren danach, mehr Farbe, Abwechslung und Spaß ins Leben bringen. War es zunächst noch schockierend, als Mann lange Haare und als Frau kurze Röcke zu tragen, musste man sich die Haare weniger Jahre später schon grün färben, um noch aufsehen zu erregen und heute schockt das Aussehen prinzipiell kaum noch. Aber allein um Gewöhnung sollte es nicht gehen, man sollte sich auch mit den neuen Ansprüchen auseinandersetzten, sich für die Motive und Ansprüche interessieren, nicht einfach nur achselzuckend vorbeigehen.
Sensibilität und Verständnis standen auf der Agenda und immer wieder auch jede Menge Eigenschau, in der gefragt wurde, ob man nicht selbst überkommene Einstellungen in sich entdeckt und mal überdenken sollte. Nun sind Verständnis, Empathie, Offenheit, Sensibilität, Achtsamheit und Toleranz allesamt Eigenschaften mit einem tollen Klang. Aber oft genug haben wir eine Variante derselben gelernt, bei der wir uns selbst vergessen haben und ein Gefühl dafür verloren ging, wann der Bogen überspannt war.
Es galt ein netter, toleranter Mensch zu sein und alles und jeden voll supie zu finden, abgesehen von jenen reaktionären Spießern, die bei diesem Spiel nicht mitmachen wollten. Auf die durfte und sollte man schimpfen, alles was bunt, multi und pluralistisch war, war gut. Dabei übersah man, dass man sich im Zuge der pluralen Begeisterung oft Verhaltenswiesen einkaufte und nun gut finde musste, die man in der eigenen Familie nie und immer akzeptiert hätte. Aber, wer Ideen hat, von denen er überzeugt ist, zieht diese oft durch und wenn Verständnis nicht die erwünschten Erfolge brachte, galt als Lösung eben noch mehr Verständnis zu zeigen. Von der schweren Kindheit bis zur kulturellen Eigenart wurde erst mal alles durchgewunken und man selbst hatte sich im besten Fall still zu verhalten und nur ja nicht intolerant zu wirken, das war kurz vor Rassist oder Nazi und damit den sozialen Höchststrafen, bevor diese vom Kinderschänder abgelöst wurden.
Von der Toleranz zur Ignoranz
Selten reflektiert ist die Idee, dass es eine ziemlich direkte Linie von der Toleranz zur Ignoranz gibt. Der Spruch: Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht, kleidet dies in humoristischer Weise noch am ehesten ein. Anders formuliert: Wer alles gut findet, verliert seine Identität. Nicht zwingend, wenn man diesbezüglich wenig Zweifel hat, ist das kein Problem und Neugier und Offenheit sind die Tore, durch die es zu einem glücklichen Leben geht. Aber wer eine Persönlichkeit noch ausbilden muss und wesentlich hört, dass es wichtig ist, das richtig und spannend zu finden, was andere haben, sagen, tun und lassen, hat nie einen Kompass erhalten, den er verlieren könnte.
Es ist auch mit reichlich Verdrängungsarbeit verbunden, dieses und jenes gleichermaßen toll zu finden, denn viele Ansätze widersprechen einander einfach diametral. Nun ist es toll, wenn man stets beide Seiten verstehen kann, aber es kommt der Tag, an dem man sich für eine der beiden Seiten entscheiden muss, will man sich nicht stromlinienförmig der jeweiligen Einstellung anpassen und zum Opportunisten werden. Aber dann hat man bereits seine Identität verloren, beziehungsweise, es ist nicht gelungen, überhaupt eine zu errichten. Und alles gleichermaßen toll zu finden, für und gegen nichts Stellung zu beziehen, lässt einen schleichend abstumpfen.
Es ist eine Definitionsfrage, was man unter Toleranz versteht. In einer eher engen Variante ist es ein mehr oder minder gelassenes und manchmal mürrisches Akzeptieren von Verhaltensweisen oder Ansichten, die man sich nicht zu eigen machen würde. Muss man halt so hinnehmen, ist die Untergrenze der Toleranz, man sieht aber keinen Sinn darin, sich damit irgendwie näher zu beschäftigen. Toleranz kann aber auch in einer erweiterten Variante vorliegen, das würde bedeuten, sich für das was andere tun auch, wenigstens ein Stück weit, zu interessieren. Spätestens in dieser zweiten Variante, die über ein passives, reines Ertragen von etwas hinaus geht, kommt es aber dazu, dass einem Widersprüche diverser Lebensstile auffallen, die dann einfach nicht zusammen passen. Man muss sich dann schon anstrengen diese Widersprüchne nicht zu sehen. Ein Ergebnis ist, dass man sich einfach nicht groß und länger damit befasst, entweder alles ablehnt und der Auffassung ist, man möchte mit all dem Kram nichts zu tun und einfach seine Ruhe haben. Oder man findet das alles, für den Moment ganz aufregend und reizend und all die Menschen, die eine bestimmte Idee vertreten, ganz liebenswert, was aber bei Licht betrachtet oft damit zu tun hat, dass man kritische Fragen nicht stellt und Schwierigkeiten ausblendet. Zwei gehäufte Löffel mehr Verständnis und alles ist wieder gut, so meint man. In beiden Fälle mutiert Toleranz zur Ignoranz und ich weiß nicht, ob das dem Toleranzgedanken am Ende tatsächlich noch entspricht.