Elitenverachtung und elitäre Verachtung

Gedrubbel während einer rush hour. Eine Folge einer durchorganisierten Gesellschaft und doch irgendwie ohne Sinn und Verstand. © Julien Belli under cc
Populismus, so stellten wir fest, ist auch die Idee der Verachtung der Eliten, durch das Volk. Das übliche „die, da oben“. Waren es in der deutschen Vergangenheit eher linke Gruppierungen, die sich zum Anwalt des kleinen Mannes ausriefen, so gibt es in neuerer Zeit in Deutschland und Europa einen erstarkenden Rechtspopulismus. Auch hier wird gesagt, die Politiker regierten über „unsere“ Köpfen hinweg, machten, was sie wollten und dienten dem Kapital (hier auch gerne mit antiamerikanischen und antisemitischen Anklängen), der ehemals kommunistische Feind ist bei vielen rehabilitiert, weil in Russland gegenwärtig mit harter Hand regiert wird.
Doch auch hier sind die Stimmen und Stimmungen divergent und die „Alles ganz logisch“-Erzählungen, in denen dann die jeweilige favorisierte Sicht durchdekliniert wird, sind zwar logisch, aber nur, wenn man die jeweiligen Prämissen akzeptiert hat. Wie man in der Praxis sieht, muss man das aber nicht tun und dass es eine Koalition des gesunden Menschenverstandes gäbe ist auch hier nicht zu erkennen.
Doch die Eliten zu verachten, ist kein Privileg der Rechten und die Verachtung, nicht eines des Volkes. Der jüngst als deutlich verwickelter, als oft verharmlosend dargestellt, in Naziideologie verstrickte Philosoph Martin Heidegger, verachtete seinerseits das Volk, genauer, die regressiven und durchschnittlichen Tendenzen desselben, denen er diktatorische Qualitäten zuschreibt. So schreibt er in Sein und Zeit:
„In der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des Nachrichtenwesens ist jeder Andere wie der Andere. Dieses Miteinandersein löst das eigene Dasein völlig in die Seinsart »der Anderen« auf, so zwar, daß die Anderen in ihrer Unterschiedlichkeit und Ausdrücklichkeit noch nicht verschwinden. In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom »großen Haufen« zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden »empörend«, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart des Alltäglichen vor.“[3]
Was immer man von Heidegger hält, das ist hellsichtig und richtig, um so rätselhafter, wie er zum Nazi werden konnte, denen das Denken und Urteilen im Gleichschritt nun wahrlich nicht fremd ist. Jürgen Habermas kritisiert Heidegger mit den Worten:
„Sodann ärgerten mich die platonischen Vorurteile des deutschen Mandarins, der die „Intelligenz“ gegenüber dem „Geist“, die Analyse gegenüber dem eigentlichen Denken abwertete und der die esoterische Wahrheit „den Wenigen“ vorbehalten wollte. Mich störten auch die antichristlichen und antiwestlichen Affekte, die sich gegen den egalitären Universalismus der Aufklärung richteten. … In den folgenden Jahren habe ich deutlicher den Affekt erkannt, der Geister wie Heidegger, Carl Schmitt, Ernst Jünger oder Arnold Gehlen einte. Bei ihnen allen verband sich die Verachtung der Masse und des Durchschnittlichen einerseits mit der Feier des herrischen Einzelnen, des Auserwählten und Außerordentlichen, andererseits mit der Ablehnung des Geredes, der Öffentlichkeit und des Uneigentlichen. Das Schweigen wird gegenüber dem Gespräch, die Ordnung von Befehl und Gehorsam gegenüber Gleichheit und Selbstbestimmung ausgezeichnet.“[4]
Verachtung hier wie dort. Und mit einer durchschnittlichen Intelligenz und dem gesunden Menschenverstand hatte der eine der beiden Meisterdenker nichts am Hut. Ressentiments von unten nach oben, wie von oben, nach unten. Doch gibt es auch so etwas wie einen gesunden Durchschnitt und ist es vielleicht das, was der gesunde Menschenverstand bedeutet?
Evidenzen
Evidenz heißt der kleinste gemeinsame Nenner auf den Rationalität zurück greift. Es ist das, hinter was man nicht mehr zurück gehen kann, weil es sich von selbst erklärt. Aber der Teufel liegt auch hier im Detail, weil das was evident ist, doch stärker von der jeweiligen Schule oder Denkrichtung abhängt, als man meint. Innerhalb des jeweils vorausgesetzten Prämissen ist dann manches evident, doch die Prämissen können verschieden sein. Dass 5 + 7 = 12 sind, ist irgendwie evident, aber auch, dass wir unsere eigene Psyche nie verlassen können und ist es evident, dass wir in einer materiellen Welt leben und biologische Wesen sind. Aber nicht immer passt das alles zusammen.
Zieht man sich auf das zurück, was wirklich zweifelsfrei gilt, so kann man nicht negieren, dass wir existieren. Selbst wenn uns jemand sagt: „Dich gibt es gar nicht, du weißt das nur nicht“, so ist dieser Satz in sich widersprüchlich, weil er an den adressiert ist, den es angeblich nicht gibt. Wenn wir darüber hinaus gelten lassen, dass viel dafür spricht, dass wir in einer Welt leben, die sehr weitreichend so ist, wie sie uns erscheint, von Spitzfindigkeiten mal abgesehen, dann kommt man damit prima durch den Alltag.
Egal ob wir wirklich in einer Welt von Autos, Supermärkten und Internet leben, oder das ein Drogentrip, der Traum eines Gottes, ein Hirnkonstrukt, eine Kinowelt oder eine Computersimulation ist, diese Wirklichkeiten haben ihre Regeln und Gesetze und Hammer auf Finger tut halt weh, ist evident. Der gesunde Menschenverstand sagt uns deshalb, dass wir uns nicht mit dem Hammer auf den Daumen hauen sollten.
Und sowas ist gar nicht schlecht, endet nur schneller, als man denkt. „Vergiss den Schirm nicht“, ist eine Aussage, die eigentlich heißen müsste, dass jemand den Schirm dann mitnehmen sollte, falls er nicht die Absicht hat, nass zu werden, da es gleich regnen könnte und er das Haus verlassen muss. Doch der gesunde Menschenverstand zeichnet sich eben nicht durch kleinkarierte Logizismen aus oder dadurch, dass er in nervtötender Weise alles hinterfragt oder definiert haben will, sondern er greift auf Erfahrung zurück, kürzt ab, überspringt jene Schritte, die wir ohnehin wissen und auslassen können. Das klappt im Alltag gut, aber oft auch nur dort.
In jedem vorhanden oder im Leben erworben?
Otto Kernberg, der hier schon öfter zitierte Psychiater und Psychoanalytiker, der nicht in dem Ruf steht naiv zu sein, antwortete in mehr als einem Interview, auf die Frage, über was ein guter Psychoanalytiker verfügen muss: „Über gesunden Menschenverstand.“[5] Damit meint er mehr, als Erbsenzählerei und dass man den Schirm mitnehmen sollte, wenn es regnet.
Auch Psychotherapeuten sind nicht davor gefeit, sich im Theoretischen und Kleinkarierten zu verheddern. Es ist nicht schlecht, wenn man am Leben teilnimmt, dessen Spannungen und Anforderungen aus eigener Erfahrung kennt und realistisch einschätzen kann, was möglich ist, um nichts Übermenschliches zu verlangen. Da gerade Kernberg die Grenzen des therapeutisch Möglichen stark erweitert hat, ist seine Aussage doppelt ernst zu nehmen.
Gemeint ist vermutlich eine Mischung aus Lebenserfahrung, theoretischem Wissen und auch einer gewissen wohlmeinenden Gutwilligkeit. Doch man braucht in den meisten Fällen etwas Zeit, muss die Höhen und Tiefen der Liebe, der Selbstbehauptung, das Ringen zwischen Idealismus und pragmatischen Anforderungen und die eine oder andere Selbsterprobung schon mal mitgemacht haben, aus der sich dann die Lebenserfahrungen destillieren.
Das macht Sinn, keine Frage, aber die lautet dann, ob man das wirklich voraussetzen kann und in jedem Menschen findet. Angesichts vieler existierender Dummheiten in der Welt, darf man mindestens bezweifeln, dass der gesunde Menschenverstand jederzeit auf der Benutzeroberfläche abgelegt ist. Man muss schon etwas suchen, dann mag er in sehr vielen Menschen zu finden sein, aber, dass er uns in jedem Moment anspringt, ist etwas zu stark formuliert.
Quellen:
- [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Gesunder_Menschenverstand
- [2] http://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/philosophisches-radio/zwanzigster-mai-108.html (podcast zur Sendung rechts auf der Seite)
- [3] Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 126-127, zitiert aus http://www.hubert-brune.de/heidegger_man.html
- [4] Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Suhrkamp 2005, S.24
- [5] http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/diverses/Narzissten-gehen-uebertriebene-Risiken-ein/story/26698396