
Wer wir wirklich sind, als Gattung oder Individuum, ist nie ganz zu klären. CLAUDIA DEA under cc
Wer wir wirklich sind, ist eine Frage, die einerseits zu den großen Fragen der Menschenheit gehört, etwa in der Form, was der Mensch ist, andererseits ist es eine Frage, die sich im Laufe des Lebens vermutlich jeder stellt, vielleicht sogar immer wieder mal stellt, Krisen und besondere Wendepunkte des Lebens wie Pubertät, Erwachsenwerden, Hochzeit, Mitlife-Crises oder Pensionierung eignen sich besonders dazu. Damit meinen wir dann uns selbst, nicht die Menschheit.
In der Vergangenheit waren wir darauf angewiesen, diese Fragen allein mit dem Bewusstsein anzugehen, heute stehen uns jede Menge Möglichkeiten zur Verfügung, die wir nie hatten. Technische Möglichkeiten, wie Bilder des Gehirns, Untersuchungen der Genetik und Biometrik, aber auch die Analyse von individuellen Körperreaktionen, wie dem Ausstoß von Stresshormonen, Muskelspannung und dergleichen, all das kann heute vermessen werden.
Eine Fülle neuer Möglichkeiten
Aber nicht nur das, längst verfügen auch Psychologen über ein weitreichendes Instrumentarium, unser Erleben und Verhalten zu entschlüsseln. Soziologen, Anthropologen und sie alle tun im Grunde kaum etwas anderes, als sich daran abzuarbeiten und herauszufinden, wie und wer wir wirklich sind. Dazu kommen moderne Großcomputer, die das alles auswerten, die Analysen unseres Kauf-, Medien- und Onlineverhaltens, die Likes, die besuchten Seiten, die Verweildauer; Bewegungsprofile des Alltags, all das was wir an Fotos, Texten, gemalten Bildern und sonstigen Formen des künstlerischen Ausdrucks freiwillig und unfreiwillig interlassen haben.
Dazu natürlich noch die Klassiker: Die Selbst- und Fremdbefragung. Wer wissen will, wie er ist, wer er ist, kann sich selbst befragen, denn man kennt ja seine Marotten, Phantasien, Vorlieben, Bedürfnisse, die meisten jedenfalls. Dann gibt es ja noch beste Freunde, Partner, Verwandte, Arbeitskollegen und Bekannte und nimmt man all das zusammen, sollte es heute ein leichtes Spiel sein, all die Daten zusammen zu fügen, auszuwerten und ein nahezu lückenloses Profil eines beliebigen Menschen zu erhalten. So zumindest verkünden es einige immer wieder, andere befürchten es.
Tatsächlich stehen nicht wenige Leute Schlange, um uns zu sagen, wie und wer wir wirklich sind und was uns zu dem Menschen macht, der oder die wir heute sind. Der nächste Argumentationsstrang, der ebenfalls dazu kommt, ist, dass uns die Gewohnheiten der Vergangenheit intensiv beeinflussen, wir also keine Momentaufnahme, eines zufälligen Jetzt sind. Die schon lange Liste wird so noch einmal erweitert, etwa um die Erzählungen, dass und wie uns Rollen oder Muster aus der Vergangenheit prägen. Das fängt wieder biologisch an, indem wir in uns mehr oder weniger starke Ähnlichkeiten mit unseren biologischen Vorfahren sehen, bestimmte Gesichtsformen oder ein Körperbau, der für meine Ahnen typisch ist. Aber auch unsere historische Vergangenheit beeinflusst uns, durch die Übernahmen bestimmter Selbstverständlichkeiten, wie etwa den Gedanken des Eurozentrismus, wie der Verwendung tradierter Rollen- und Geschlechterklischees, Betonungen und Auslassungen in der eigenen Familiengeschichte, dann natürlich unsere Art und Weise der Produktionsbedingungen, von der die Marxisten reden, aber auch Linguisten können uns viel, über die prägenden Rolle der Sprache, die wir verwenden erzählen. Sie merken jetzt schon, dass das ziemlich viel ist und so ist das Problem auch nicht, dass sich niemand findet, der uns erzählen könnte oder wollte, wer wir wirklich sind, sondern es sind zu viele, die Frage wird laut, welche Sicht denn nun die richtige oder vorrangige ist.
Die Rekonstruktion unserer Lebensgeschichte ist bei vielen ein starkes Motiv
Dabei lässt uns unsere Lebensgeschichte keineswegs kalt. Das mag ein modernes Phänomen sein, früher interessierte man sich lediglich für die Abstammung bedeutender Persönlichkeiten aus dem Adel, aber wir wissen, dass die Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte via Ahnenforschung etwas ist, was viele interessiert und in das sie Zeit und Geld investieren, neuerdings kann man sich seine genetische Abstammung zuschicken lassen, wie viel Prozent Balkan und Südamerika in einem sind, auch das ist ein gut gehendes Geschäft. Doch wir wissen aus den Erzählungen von Adoptivkindern häufig, dass sie ein starkes Verlangen haben, ein in ihrer Biographie fehlendes Elternteil ausfindig zu machen und etwas über dessen Geschichte zu erfahren, oft verbunden mit einem Gefühl, das sie immer schon begleitete, dass etwas fehlt oder nicht stimmt.
Interessante Lücken bringt auch die systemische Therapie und die Familienaufstellung immer wieder ans Licht, zuweilen erstaunliche Erkenntnisse, die man so eigentlich nicht gewinnen kann, die aber dennoch oft verifiziert werden können und die Geschichte des Einzelnen dann manchmal rund macht, was individuell ein großer Gewinn ist. Weiter können einige, die damit etwas anfangen können, ihre karmischen Muster oder ‚früheren Inkarnationen‘ betrachten, doch auch die Psychoanalyse ist immer auch der Blick zurück:
„Zwar wird der Patient in der klassischen Psychoanalyse als Einzelner behandelt, aber unsichtbar sind mit ihm all die Personen, die Art ihrer soziokulturell geprägten Erziehung anwesend, mit denen er, im guten wie im schlechten, während seines ganzen Lebens mit der Ambivalenz seiner Gefühle, in Liebe und Hass, mit Bewunderung oder Verachtung verbunden war. Noch einmal erweitert sich der Horizont des Analytikers, wenn er sich fragt, zum Beispiel angesichts kollektiver Wahnhaltungen ganzer Nationen, wie es zur Ausbreitung solchen seelischen Verhaltens kommen kann. … Hier ist noch viel zu ergründen, denn man kann natürlich nicht eine Masse qua Masse zur Reflexion ihrer eigenen Position bringen.“[1]
Und wer sind wir nun?
Man kann es nicht sagen. Deutungen gibt es in Hülle und Fülle und viele glauben, dass ihre Deutung die entscheidende, die wichtigste sei. Aber nur weil das jemand behauptet, muss es ja nicht stimmen und über die Verteilung und Bedeutung kursieren auch eher Behauptungen als Gewissheiten. Was prägt uns mehr? Ein dramatisches oder traumatisches Kindheitserlebnis, unsere Gene, das Umfeld, die Familientradition oder alles ein bisschen? Was heißt es, dass man zu 3% Mongole ist oder ein Vorfahr, vor 20 Generationen, ein bedeutender Mensch war? Oder ist es doch das Heute, das den stärksten Einfluss hat, der Beruf und die Notwendigkeiten, die er mit sich bringt, sowie die Bewältigung des immer komplizierter werdenden Alltags? Einige therapeutische, religiöse, ethische und spirituelle Ansätze betrachten überdies den Menschen, der man sein könnte, das reife oder gesunde Potential, manchmal das ‚wahre Selbst‘ unser erleuchtetes Sein oder den gesunden Menschen, der bereits in uns zu finden ist.
Man kann nun das tun, was im Grunde auch getan wird, nämlich eine mehr oder weniger willkürliche Liste zusammenstellen, mit der man das Ganze ordnet, mit einer persönlichen Hierarchie, dass die Gene doch den stärksten Einfluss haben oder gerade nicht, aber schon der Nachbar kann eine andere Reihenfolge für richtiger halten und der nächste Experte tut es mit Sicherheit. Andere gehen bei der Selbstsuche intuitiver vor und arbeiten die Themen nacheinander ab, interessieren sich eine Zeit lang für Psychologie, dann für Ahnenforschung, dann wieder für andere Aspekte dessen, was sie ausmacht.
Aber haben wir da heute nicht bessere Möglichkeiten? Können wir im Zeitalter der Supercomputer nicht einfach alles vom Cholesterinspiegel, über die Vorfahren bis zu den Sexualpraktiken, Drogenkonsum und häufigsten Wörtern und bevorzugten Onlineseiten und -kontakten herunterladen und ordnen lassen? So ein Gesamtkompositum? Genetik meets Hirnforschung, Psychoanalyse, Social Media Auswertung, kulturelle und historische Spuren, plus Selbsteinschätzung und die der engsten Menschen und das alles nach Algorithmen staffeln? Die ganze große Liste?
Ein Frage der Perspektive
Auch das haut nicht hin, denn was man wie gewichtet oder in den Vordergrund zieht ist eine Frage der bevorzugten Perspektive oder anders gesagt, der ideologischen oder weltanschaulichen Einstellung. Der Supercomputer kann zwar super rechnen, aber auch nur so gewichten, wie man es zuvor programmierte, er kann gerade nicht herausfinden, wer wir wirklich sind, weil er kein Mensch ist und es sehr gut sein kann, dass zwischen ihm als Maschine und uns als biologischen Wesen eine unüberbrückbare Differenz bestehen bleibt. Denn die Einstellung, dass alles was wir tun und machen, letztlich doch nur Informationen sind, ist bereits wieder eine ideologische Ansicht, die einige so stark vertreten, wie andere sie bezweifeln.
Also sind wir nun dominant von den Genen geprägt, oder der Erziehung des Eltern, der Werbung oder dem Kapitalismus? Ist es die Peergroup, die mich stark ausmacht oder sind es die Hirnströme, die Tradition der Herkunftsgesellschaft oder der Zeitgeist? Und zu welchem Prozentsatz? 30% Gene, 30% Erziehung, 30% Kapitalismus und 10% Beziehung? Oder ganz anders oder viel durchmischter?
Jede Wahl hat ihre Erzählung im Schlepptau. Hat die kinderlose Frau wirklich ihre biologische Bestimmung verfehlt? Ist es nicht gerade heute so, dass wir die Überbevölkerung als sehr ernstes Problem sehen? Ist jemand, der vor dem Stress im Beruf kapituliert hat und jetzt nur noch macht, was ihm Freude bereitet, wirklich gescheitert oder hat er, im Gegenteil, gerade zu sich gefunden? So geht es fröhlich weiter, die Fragen hören nicht auf und keiner hat die eine, befriedigende Antwort.
Mit der Ungewissheit kann kaum jemand leben
Damit könnte man es eigentlich bewenden lassen, aber es gibt eben eine tiefgefühlte Sehnsucht sich selbst verstehen zu wollen und zudem hilft die Vervollständigung des Mosaiks tatsächlich weiter, Psychotherapien leben zu einem größeren Teil davon und können ein Leben immens zum Positiven verändern. ‚Nur‘ durch eine Erzählung aus einem anderen, bisher ungewohnten Blickwinkel. Unsere Aufgabe ist es dann, die Erzählung nicht nur anzuhören, sondern sie wirklich zu integrieren, uns berühren zu lassen.
Wenn das gelingt, sind wir allerdings schon wieder jemand anderes, unter Umständen bereit und in der Lage, neue, komplexere Informationen aufzunehmen ein noch reflexiveres Leben zu führen. In Phasen unseres Lebens sind wir besonders empfänglich für bestimmten Deutungen, später kann sich das dann ändern. Je nach dem, was wir glauben, weil wir es überzeugend finden, ist auch unsere Position im Leben von dieser Erzählung oder Theorie abgeleitet und unser Leben dann gelungen oder missraten.
Wenn wir aktiver suchen, wer wir wirklich sind und uns verschiedene Weltbilder, Theorien und Ansätze anschauen, haben wir öfter das Problem, dass wir nicht abwechselnd mal die eine und dann die andere Theorie gut und richtig finden, das geschieht tendenziell eher in jungen Jahren, sondern irgendwie der Meinung sind, dass an vielen Erklärungen etwas dran ist. Man sieht ja Ähnlichkeiten in der Familie, die im Grunde nur vererbt sein können, aber man übernimmt von Menschen, die einen beeindrucken auch manches, was dann sicher nicht genetisch ist. Und natürlich prägt uns auch unser Alltag und unser Beruf. Und was stimmt nun?
Am ehesten vielleicht, dass wir ein Leben leben, das an jedem Abend die Aufschrift trägt: Fortsetzung folgt. Wir können nicht einfach irgendwas glauben, sondern sind gezwungen zu glauben, was uns eben überzeugt. Aber diese Überzeugungen können sich im Laufe des Lebens wandeln und mit dem Wandel stellt sich wohl öfter die Überzeugung ein, dass auch die aktuelle Version der Welterklärung keine abschließende sein wird. Für Kant war die Frage: „Was ist der Mensch?“ eine zentrale Frage und obwohl er wohl eine fortlaufende, sich wandelnde Erzählung von sich und der Welt ist, gibt es doch Konstanten, Weltbilder, in die wir, wie ihn Wohnungen einziehen, bis diese uns zu eng werden, bevor wir irgendwann eine gefunden haben, in der wir nur noch ein paar Möbel austauschen und renovieren. Wer wir wirklich sind, findet dann in der Frage, welche Geschichten wir glauben und erzählen seine nächste Annäherung.