Chronische Erkrankungen sind gar nicht so selten, wie man annehmen möchte. Die psychischen Belastungen, die mit einer chronischen Krankheit einhergehen, betreffen demnach eine Vielzahl von Menschen. Doch wie sehen diese Ängste bei chronischen Erkrankungen konkret aus? Und welche Spuren hinterlassen sie bei einem?
Ängste bei chronischen Erkrankungen
In Anlehnung an Professor Bengel vom Institut für Psychologie an der Universität Freiburg haben Betroffene häufig mit folgenden Ängsten bei chronischen Erkrankungen zu kämpfen:
Verletzung der körperlichen Unversehrtheit
Einen Körper, der die Hoch und Tiefs des Alltags mit einem schweigend durchsteht, gibt es für chronisch Kranke nicht. Stattdessen rückt bei ihnen der Körper mit seinen Unzulänglichkeiten in den Fokus und fordert Beachtung sowie Rücksichtnahme.
Bedrohung des Selbstbildes
»Mein Lebenswandel hat offenbar nicht so funktioniert, wie ich es mir erhoffte?«
»Bin ich doch nicht so stark, wie ich glaubte, zu sein?«
»Bin ich überhaupt noch ein richtiger Mann für meine Frau?«
Mit diesen und anderen Gedanken müssen sich chronisch Kranke auseinandersetzen. Von einer chronischen Erkrankung betroffen zu sein, kann unter Umständen bedeuten, sein ganzes Leben ebenso wie seine Identität in Frage zu stellen. Plötzlich ist man: ein Rheuma-Patient. Oder muss diesen Satz: »Ich habe Krebs«, für sich aussprechen.
Eingeschätzte Bedrohung durch die Erkrankung
Wie groß ist die objektive Bedrohung meines Lebens durch die chronische Erkrankung? Und selbst wenn die Erkrankung nicht potentiell lebensbedrohlich ist: Inwiefern bedroht die Erkrankung meine gewohnten Lebensumstände? Und was nützen einem die in den Studien genannten Wahrscheinlichkeiten zu den Krankheitsprognosen, wenn man selbst eine unerklärliche Angst in sich spürt?
Nicht nur die jetzige Existenz ist für chronisch Kranke bedroht, auch die Zukunft hat einen völlig neuen Anstrich bekommen.
»Inwieweit wird sich die Krankheit verschlimmern?«
»Habe ich jemals wieder die Chance auf Normalität?«
Körperliche Beeinträchtigungen machen Angst
Bei vielen chronischen Erkrankungen erleben die Betroffenen ganz klare körperliche Einschränkungen, sei es durch die anhaltenden Schmerzen, oder dass man nicht mehr richtig zugreifen kann, wie es bei Rheuma zum Beispiel der Fall ist. Auch eine entstandene Kurzatmigkeit oder eine verminderte Konzentrationsfähigkeit können mehr und mehr den Alltag bestimmen, eben weil sie ganz klar aufzeigen, was man vielleicht nicht mehr zu bewältigen vermag. Andererseits will man seinen Gewohnheiten weiter nachgehen, stößt jedoch wieder und wieder an seine Grenzen. Aber das Leben wartet nicht, nur weil man chronisch krank ist.
Auch der umgekehrte Fall ist nicht selten: Was ist, wenn man körperliche Beeinträchtigungen hat, aber es existieren keine äußerlich erkennbaren Anzeichen? Wer glaubt einem die Erkrankung tatsächlich? Wann wird man allzu schnell als Simulant oder Blaumacher abgestempelt?
Der Umgang mit diesen Einschränkungen und Vorurteilen muss von den Patienten neu erlernt werden, ungeachtet dessen, ob man objektiv etwas zur Besserung beitragen kann oder lernen muss, die Nachteile der Krankheit fortan zu akzeptieren.
Gegenwillen bei therapeutischen Maßnahmen
Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist seit jeher kompliziert. Eine Beziehung voller Missverständnisse und geprägt durch gefährliches Halbwissen. Auf beiden Seiten. Denn der Patient ist durch Dr. Google schon informiert. Und der Arzt hat trotz sorgfältiger Anamnese einige vorurteilsbehaftete Schlüsse sicherlich gezogen. Trifft man sich maximal einmal im Quartal, mag diese Anspannung zu verkraften sein. Ist man dagegen chronisch krank und auf die Arztbesuche angewiesen, kann ein negativ eingefärbtes Arzt-Patienten-Verhältnis zusätzlich als Belastung empfunden werden. Arzt und Patient sollten diese Beziehung, einem zarten Pflänzchen gleich, pflegen, doch Stolpersteine stellen sich ihnen in den Weg.
Hausärzte haben mit knappen zeitlichen und finanziellen Budgets zu kämpfen. Im Schnitt dauert die Konsultation eines Patienten bei seinem Arzt oft weniger als fünf Minuten. Einerseits ist der Patient also auf die medizinischen Maßnahmen angewiesen, andererseits gleicht die Behandlungsdauer eher einem Kurzabriss.
Das kann zu Unmut und Reaktanz bei den Erkrankten führen. Aus Studien weiß man, dass das Wohlbefinden chronisch Kranker mit der eingeschätzten Empathie beim Hausarzt korreliert. Die Folgen: weniger Bereitschaft seitens der Patienten, die Behandlungsmaßnahmen konsequent umzusetzen, ergo schlechtere Prognosen für den Krankheitsverlauf.
Gesunder Lebenswandel, reicht das?
Zwei Portionen Obst, drei Portionen Gemüse täglich, eine Handvoll Nüsse, eine Stunde moderate körperliche Bewegung, viel Schlaf, alle Stunde ein Glas Wasser trinken, nicht zu lange vor dem Bildschirm sitzen, immer auch mal in die Ferne schauen (Augentraining), am besten selbst gebackenes Vollkorn-Sauerteig-Brot, Hühnchen, besser nur Bio, frische Weidemilch, direkt vom Bauern, aber nicht zu viel, jeden Tag einen frischen Salat, fermentiertes eingelegtes Kraut für den Darm, keine Süßigkeiten, lieber einen selbst gebackenen Kuchen mit Banane oder Kokosblütenzucker gesüßt … Lebensregeln. So viele, dass man kaum noch leben kann.
Während Gesunde munter zwischen Für und Wider bezüglich einer gesünderen Ernährung wechseln, steht bei chronisch Kranken mehr auf dem Spiel. Denn wann immer sie sich, vermeintlich wider besseren Wissens, gegen jene Empfehlungen stellen, nagt das schlechte Gewissen. Wie bei allen Menschen geht es dabei gar nicht so sehr um die Bereitschaft zur Veränderung. Diese ist zumeist vorhanden. Fraglich ist, ob der Aufwand dann auch zum gewünschten Ergebnis führt. Ob sich die Anstrengungen lohnen oder ob man zugunsten der Lebensfreude lieber schlemmen sollte.
Ob krank oder gesund, bei den meisten von uns hat der Schweinehund das Sagen. Übrigens: Auch gute Ratschläge von Freunden helfen diesem nicht auf die Sprünge.
Neue Alltagsprobleme bei chronischen Erkrankungen
Der Alltag, das soziale Umfeld, der Beruf, der bisherige Status, die Beziehung, die Sexualität und vieles mehr bleiben nicht unberührt von einer chronischen Erkrankung.
Für Betroffene und Angehörige entwickeln sich häufig völlig neue Konstellationen, die hin und wieder auch zu Anpassungsschwierigkeiten und Streit führen können.
Was ist, wenn der Partner genervt reagiert, weil man wieder und wieder Schmerzen beklagt? Was wenn Nachbarn plötzlich so tun, als würden sie einen nicht bemerkt haben, nur weil sie nicht wissen, wie sie einem Krebskranken begegnen sollen? Wie verhält es sich mit dem Verständnis der Arbeitskollegen, sollte die Erkrankung längere Klinikaufenthalte mit sich bringen? Für Viele münden die Probleme des Alltags allzu häufig in sozialem Rückzug und Einsamkeit.
Auch die Angst vor einem »Outing« am Arbeitsplatz ist als eine der Ängste bei chronischen Erkrankungen nicht zu unterschätzen. So ergab eine Umfrage unter Berufstätigen, dass fast die Hälfte der Befragten befürchtet, im Falle einer chronischen Erkrankung massiv im Arbeitsleben eingeschränkt zu sein. Etwa jeder Vierte würde seine Erkrankung, so es denn möglich ist, komplett geheimhalten. Probleme bei der Ausübung bisheriger Arbeitsaufgaben, Leistungsabfall, Verschlechterung der Beziehungen zu den Kollegen oder gar Kündigung sind die hauptsächlich benannten Sorgen. Bei chronisch Erkrankten sind diese Sorgen zur bitteren Realität geworden.
Die Angst vor der Angst
Wenn man so sitzt und grübelt, könnte einem der Gedanke kommen, dass all diese Ängste zukünftig ausschließlich das Leben bestimmen werden. Während Gesunde darüber nachdenken, was sie nach der Arbeit zum Abendbrot einkaufen, wird so mancher Erkrankter selbst dabei stets und ständig mit seiner Erkrankung konfrontiert. Der oft beklagte Alltag, welcher den Gesunden das Leben erschwert, erscheint dem Erkrankten wie ein sehnsüchtig erwarteter Trost.
Zusammenfassend mögen die Sorgen annähernd die gleichen sein, die chronisch Kranke plagen. Was sich von Mensch zu Mensch allerdings unterscheidet, ist, wie man mit diesen Nöten umgeht. Und so kann die Psyche der betroffenen Patienten zum Stolperstein werden in der Bewältigung der jeweiligen chronischen Erkrankung. Sie kann aber auch genauso gut der entscheidende Hebel sein, der Kraft zu schenken vermag, der Verlauf und Prognose einer Erkrankung günstig beeinflussen kann, und der dafür sorgt, dass die erkrankten Menschen ihre Lebensfreude zurückerlangen.
Mit unserem nächsten Artikel wollen wir der Psyche auf die Sprünge helfen, um aus den Ängsten bei chronischen Erkrankungen einige Ansatzpunkte für die psychische Bewältigung zu gewinnen. Nicht: »Was macht chronisch Kranken Angst?«, soll dann mehr im Fokus stehen, sondern: »Bis zu welchem Punkt ließe sich die chronische Erkrankung auch als Chance begreifen?« Denn erst die Herausforderungen im Leben sind es, die uns dazu bringen können, an uns zu arbeiten, um psychische Reifung zu erlangen.