Um Annäherungen an den Ödipuskomplex nachzuvollziehen und nicht einfach an seine Existenz zu glauben oder sie zu verneinen, ist es hilfreich die Perspektive des Kindes einzunehmen. Weil die Entwicklung des kleinen Jungen etwas anders verläuft als die des kleinen Mädchens, betrachten wir vorwiegend die Perspektive des Jungen, der im Ödipuskomplex beschrieben wird.
Die Mutter ist nicht nur das Wesen, was zufällig das Kind auf die Welt brachte, sondern es besteht von Beginn an eine enge emotionale Beziehung zwischen beiden, die ihre evolutionsbiologischen, neurobiologischen und psychologischen Seiten hat. Dass die Bindung zwischen Mutter und Neugeborenem eine besondere ist, braucht nicht näher betont zu werden.
Die verdrängte Sexualität des Kindes
Die Beziehung ist weitgehend asymmetrisch, da der Säugling die Mutter zum Überleben braucht. Schutz, Nahrung, Wärme, Sorge, Nähe, Zuneigung, all das bekommt das kleine Kind von der Mutter. In der Forschung so bekannt, wie in der Öffentlichkeit verdrängt, ist, dass kleine Kinder auch sexuelle Wesen sind, die bereits im ersten Lebensjahr spontan zu masturbieren beginnen, wenn man es nicht aktiv verhindert und die von Mutter beim Saubermachen auch sexuell stimuliert werden. Auch das ist für Annäherungen an den Ödipuskomplex wichtig. Experimente zeigen, dass Mütter zwar subjektiv das Gefühl haben, sich um die Genitalien der kleinen Mädchen ebenso intensiv zu bemühen, wie um die der kleinen Jungen, doch Aufnahmen belegten, dass den Genitalien der Jungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde, die das Kind als lustvoll erlebt (vgl. Liebesbeziehungen: Normalität und Pathologie, S. 20).
Nun hat jeder psychische Vorgang nicht nur objektivierbare Aspekte, wie Neurotransmitterausschüttung und Verhalten, sondern er wird subjektiv erlebt und das von Beginn an. Tiefenpsychologische Ansätze versuchen vor allem diese Erlebnisseite zu rekonstruieren. Das Kind hat damit aber auch sexuelle Phantasien und es dürfte klar sein, dass es diese nicht auf Marilyn Monroe projiziert, sondern auf den überwiegend verfügbaren Menschen: die Mutter.
Da nicht jede Begegnung des Kindes mit der Mutter ein Freudenfest ist, sondern auch enttäuschende Aspekte hat, wenn Mutter zu lange wartet, dem Kind versehentlich weh tut, die Kolikschmerzen nicht wegzaubern kann, spaltet das Kind im inneren Erleben die Begegnung in eine mit einer guten Mutter, die alles richtig macht und eine mit einer schlechten Mutter, die alles falsch macht. Diese Spaltung ist von fundamentaler Bedeutung und die ideale Entwicklung ermöglicht es dem Kind diese beiden Mütter irgendwann als ein und dieselbe Mutter zu einem Konzept von einer Mutter zu integrieren, die gute und böse Aspekte hat. Wo diese Integration misslingt, bleibt die emotionale Spaltung erhalten, die später im Falle schwerer Persönlichkeitsstörungen als Identitätsdiffusion wieder auftaucht.
Die Rolle des Vaters
Ödipale Hemmungen treten jedoch auch dann noch auf, wenn diese Spaltung erfolgreich überwunden wurde. Man muss sich vorstellen, wie ein Kind es erlebt, wenn in diese exklusive Zweierbeziehung ein Dritter einbricht, der Vater. Da der Vater im Normalfall immer wieder die Beziehung Mutter/Kind „stört“, kommt es von Beginn an zu ödipalen Konstellationen, nicht erst, wie Freud dachte, in einer ödipalen Phase. Das Kind empfindet Wut gegenüber dem Eindringling, es fühlt sich ausgeschlossen, erlebt den Vater zugleich jedoch als körperlich und sexuell überlegen, was die Aggression hemmt und Bestrafungsphantasien, -ängste und Verbotsideen aufkommen lässt. Eine vielfältige Dynamik unterschiedlicher, ambivalenter Phantasien und Impulse.
Diese Konstellation, die geliebte und sexuell stimulierende Mutter besitzen zu wollen, den Vater zu fürchten, zu hassen, zu bewundern, auch ihn mitunter zu lieben, all dies muss in und von der Psyche geordnet werden, was vorwiegend unbewusst abläuft und den Ödipuskomplex ausbildet, der, verdrängt, erst mal keine bewusste Rolle spielt. Die Aggression gegen den Vater wird gehemmt, das Kind ordnet sich unter und so ist für die nächsten Jahre eine stabile, befriedete Konstellation errichtet.
Wenn der Junge zum Jugendlichen und schließlich zum Mann erwacht, erobert er immer mehr verbotene Bereiche und tritt so auch in eine echte, nicht nur kindliche phantasierte, Konkurrenzsituation mit dem Vater. Doch egal wie wild der Sohn sich gebärdet, seine Sexualität und Körperkräfte ausprobiert, erst wenn er Sexualität und Sorge integrieren kann, wenn er seine eigenen Grenzen markiert, Rituale der eigenen Familiengründung vollzieht, wird er zur echten Konkurrenz und das reaktiviert die über Jahre verdrängten frühkindlichen Verbote. Die Annäherungen an den Ödipuskomplex werden hier gelebte Realität.