Asperger und Narzisst in einer Beziehung könnten häufiger vorkommen, als man denkt. Natürlich geraten auch viele neurotypische Personen in dysfunktionale Beziehungen, weil sie von narzisstischen Menschen getäuscht und manipuliert werden. Doch in diesem Artikel soll es darum gehen, wie bestimmte Eigenschaften von Menschen im Autismus-Spektrum die Vulnerabilität für den emotionalen Missbrauch begünstigen könnten.
Anmerkung: Das Asperger-Syndrom wird als einzelne klinische Diagnose nicht mehr aufgeführt, sondern fällt nun in der klinischen Diagnostik in den Bereich der Autismus-Spektrum-Störungen. Da viele Menschen jedoch noch den Begriff „Asperger“ beziehungsweise „Asperger-Syndrom“ verwenden, haben wir diesen der Einfachheit halber noch genutzt.
Asperger und Narzisst in Beziehung: Mögliche Gründe
Die Psychologin und neurodivergente Autorin Dr. Kerry McAvoy hat einiges zu der Thematik veröffentlicht, inwieweit autistische Eigenschaften die Vulnerabilität für narzisstische Taktiken begünstigen könnten. Auch manche neurotypische Menschen weisen diese Eigenschaften auf und machen sich dadurch „angreifbarer“ für eine narzisstisch orientierte beziehungsweise allgemein manipulierende und missbrauchende Person.
In einem Posting auf Instagram fasst Kerry McAvoy einige erste Punkte zusammen, warum klassische autistische Eigenschaften Tür und Tor für emotionalen Missbrauch öffnen können. Nachfolgend haben wir weitere verschiedene Punkte dazu aufgeführt.
1. Over-Sharing: Zu viel Vertraulichkeiten
Menschen im Spektrum neigen oft dazu, zu viel von sich preiszugeben. Sie besitzen häufiger kein Gespür dafür, wie viel man in Abhängigkeit vom Grad des Bekanntseins mit der anderen Person teilen kann. Demzufolge laufen sie Gefahr, selbst bei den ersten anfänglichen Kontaktaufnahmen viel über sich zu verraten.
Unbeabsichtigt und unbedarft servieren sie dadurch einer Person, die sich manipulativer und ausnutzender Taktiken bedient, ihre Ängste, Selbstzweifel und „Schwachstellen“ auf einem Silberteller. Die Person gegenüber weiß dann genau, was sie sagen kann, um das Vertrauen zu gewinnen – und später dann auch, um das Gehörte für mögliche Angriffspunkte bei den Betroffenen nutzen zu können. Die passenden Abwertungen und Verunsicherungen liegen für sie dann nämlich auf der Hand.
2. Autistische Probleme als Einfallstor
Viele Menschen im Spektrum haben Probleme, in der Gesellschaft bestehen zu können. Da sie Außenreize wie Geräusche etc. nicht filtern können und Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen haben, sind viele der Anforderungen der Arbeitswelt für sie schwerer zu meistern. Sie fassen schlechter auf dem Arbeitsmarkt Fuß. Damit verbunden können große Selbstzweifel sein.
Das Europäische Parlament äußert sich auf eine Anfrage zu Autismus und inklusiver Beschäftigung aus dem Jahr 2021 so:
Menschen mit Autismus, auch solche mit überdurchschnittlichem Bildungsniveau, sind unverhältnismäßig stark von Arbeitslosigkeit betroffen.[2] Ihre Beschäftigungsquote liegt unter 10 %[3] und damit weit unter den Quoten von 47 % bei Menschen mit Behinderungen und von 72 % bei Menschen ohne Behinderungen. Sie sind häufig unterbeschäftigt, arbeiten in prekären und/oder kurzfristigen Arbeitsverhältnissen mit sehr niedrigem Lohn, oft in betreuten Einrichtungen, und sind stark von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.
Narzisstische Abwertung: Suggerieren von Nichtkönnen
Viele narzisstische beziehungsweise allgemein missbräuchliche Personen suggerieren in einer Partnerschaft ihrem Gegenüber gern, dass der andere Beziehungspart nicht lebensfähig sei und überhaupt finanziell und sozial abhängig von ihnen. Mit diesen Degradierungen nähern sie sich der tatsächlichen Situation vieler autistischer Menschen an. Im Ergebnis dessen fühlen sich die betroffenen Partnerinnen und Partner noch unzulänglicher und destabilisierter. Nicht selten sind sie es seit Kindheit an gewohnt, „das Problem zu sein“.
Eine Partnerschaft sollte stärken und nicht schwächen. Ein wohlwollender, uneigennütziger Beziehungsmensch könnte eine autistische Person in ihrem Selbstwert bestärken und ermutigen, andere berufliche Wege zu gehen. In einer dysfunktionalen Partnerschaft wird der Selbstwert der betroffenen Person jedoch geschwächt. Die desolate Situation der Person im Spektrum könnte sich dadurch verschärfen, da ihr Selbstwert untergraben wird.
3. Asperger-Syndrom: Gefühle und Absichten nicht erkennen
Menschen im Spektrum haben Schwierigkeiten, bei ihrem Gegenüber Gefühle und Absichten zu erkennen. Sie haben Defizite in der sozialen Wahrnehmung. Außerdem fällt es ihnen schwer, ihre eigenen Gefühle einzuordnen. Dadurch besteht viel Raum für Gaslighting und Täuschung. Sie glauben es zunächst oft, wenn ihnen der andere Beziehungspart erzählt, etwas sei so oder eben nicht so gewesen. Selbst wenn manche Menschen im Spektrum häufig wortgenau bestimmte Sätze erinnern können, so sind sie vielleicht doch auch bezüglich ihrer eigenen Wahrnehmung verunsichert. Vielleicht hat ihr Gegenüber es ja doch anders gemeint? Demzufolge vertrauen sie ihrem Beziehungsmenschen manches Mal diesbezüglich mehr als sich selbst.
Darüber hinaus neigen einige Menschen im Spektrum zu stärkeren Gefühlsausbrüchen. Sind sie angespannt, sozial überlastet oder überreizt oder fühlen sie sich ungerecht behandelt, brechen sich Verärgerung und Wut Raum. Mögliche auftretende Schuldgefühle und Einsichten im Anschluss sind ein gefundener Anknüpfungspunkt für weitere Manipulationen narzisstischer Personen.
4. Ehrlichkeit und alles wortwörtlich nehmen
Menschen im Spektrum nehmen das Meiste, was man ihnen sagt, wörtlich. Sie haben Schwierigkeiten, Sarkasmus zu erkennen. Heucheleien oder verdeckte Botschaften nehmen sie oftmals nicht wahr. Subtile Degradierungen oder Manipulationen erkennen sie so schwerer.
Sie selbst dagegen sind sehr ehrlich. Alles, was sie fühlen und denken, bringen sie eins zu eins heraus. Dadurch laufen sie sozusagen mit einem offenen Revers durch die Gegend, während ihr narzisstisches Gegenüber seine verbalen Speerspitzen verdeckt platziert.
Narzisstische Menschen vermitteln häufig das Gefühl, als wüssten sie, wo es langgeht im Leben. Ihr übersteigerter Selbstwert lässt sie überzeugend wirken. Da Menschen mit Asperger-Syndrom häufig verunsichert auf dem Parkett des Lebens sind, ist eine solche narzisstische Selbstüberzeugung ein trügerischer Windschatten der Sicherheit für sie, dem sie in der Beziehung glauben und folgen.
5. Veränderungen ängstigen Autisten
Autistische Personen fürchten Veränderungen. Sie brauchen eine große Sicherheit und immer gleiche Abläufe. Droht eine narzisstische Person, sie zu verlassen, glauben sie es nicht nur sofort, sondern es stürzt sie auch in eine starke Destabilisierung. Demzufolge verbleiben sie vielleicht länger in dysfunktionalen Situationen, gehen mehr schädigende Kompromisse ein und ertragen mehr Drama.
6. Autistische Stärken: Hyperfokussierung und Dranbleiben
Menschen im autistischen Spektrum widmen sich bestimmten, sie interessierenden Aufgabenstellungen intensiv und ausdauernd. Das ist eine Stärke. Doch in Zusammenhang mit einer destruktiven Beziehung könnte sie sich nachteilig auswirken. Denn es fällt autistischen Menschen schwerer, ihre Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Aufgaben hin und her zu zappen. Sie bleiben hochkonzentriert bei einem Aufgabenbereich und verwenden viel Energie darauf. Und so haben vielleicht insbesondere Frauen im Spektrum, die sich auf die Erziehung ihrer Kinder vollumfänglich konzentrieren, größere Schwierigkeiten eine Veränderung herzustellen, um arbeiten zu gehen, beide Aufgabenbereiche von Job und Erziehung gut zu vereinbaren und sich aus einer destruktiven Beziehung beziehungsweise finanziellen Abhängigkeit zu befreien.
Möglicherweise haben sie zudem auch Kinder, die im Spektrum sind, und weniger wahrscheinlich in eine Fremdbetreuung passen, sodass ihre finanzielle Abhängigkeit über einen längeren Zeitraum andauern kann.
7. Narzisstische Umwerbung: Vulnerabel für Love Bombing
Für autistische Personen, die ihr Leben lang als anders galten, können die Love Bombing-Sprüche einer narzisstischen Person eine wahre Wohltat für die Seele sein. Ihre Sehnsucht nach Anerkennung und Anbindung ist groß, weil viele einen Mangel darin erfahren haben. Jemand, der sie nun perfekt findet und dies so offenkundig bemerkbar kundtut, sichert sich ihre Loyalität und Zugewandtheit zu. Ein Narzisst oder eine Narzisstin kann für einen Menschen mit Asperger-Syndrom in einer Beziehung rasch zu einer Stütze für den Selbstwert werden. Womöglich unternehmen auch deshalb manche autistische Menschen entsprechend viele Anstrengungen zur „Reparatur der Beziehung“ mit einer großen Ausdauer, weil sie diesen positiven Anfangszustand wiederherstellen wollen. Sie analysieren das gesamte Tohuwabohu einer destruktiven Beziehung, überlegen, was sie tun können, um die Partnerschaft zu verbessern, und investieren viel Zeit und Energie in dieses dysfunkionale Beisammensein.
8. Autismus-Spektrum: Grenzen weniger spüren
Oftmals spüren Menschen im Spektrum ihre Grenzen nicht so gut. Nicht nur die physischen, sondern auch die emotionalen. Das könnte dazu führen, dass Menschen im Spektrum durch Argumente leichter zu überzeugen sind. Ein Narzisst oder eine Narzisstin kann eine Person mit Asperger-Syndrom in einer Beziehung eventuell leichter zu etwas überreden. Deren Grenzen werden so immer mehr aufgeweicht und Selbstwert und Wohlbefinden weiter destabilisiert.
Zusammenhang: autistische Eigenschaften und Missbrauch
Eine Studie aus dem Jahr 2015 von der Wissenschaftlerin Andrea Lynne Roberts von der Harvard T. H. Chan School of Public Health und ihrem Forschungsteam zeigt den Zusammenhang zwischen autistischen Eigenschaften im Erwachsenenalter und einer Kindheit, in der die Betroffenen häufiger Ziel von Missbrauch und Viktimisierung wurden, einer lebenslangen Trauma-Exposition und PTBS-Symptomen.
Women in the highest versus lowest quintile of autistic traits were more likely to have been sexually abused (40.1% versus 26.7%), physically/emotionally abused (23.9% versus 14.3%), mugged (17.1% versus 10.1%), pressured into sexual contact (25.4% versus 15.6%) and have high PTSD symptoms (10.7% versus 4.5%) …
zitiert nach Roberts et al. (2015), Child Abuse Negl. 2015 Jul; 45: 135–142.
Die Ergebnisse der Studie offenbarten, dass Frauen mit dem höchsten Level an autistischen Eigenschaften im Vergleich zu Frauen mit dem niedrigsten Level eine deutlich höhere Prävalenz für sexuellen Missbrauch sowie für physischen und emotionalen Missbrauch haben, außerdem mehr PTBS-Symptome aufwiesen.
Eine Person mit Asperger-Syndrom beziehungsweise allgemein ein Mensch im autistischen Spektrum und ein Narzisst oder eine Narzisstin in einer missbräuchlichen Beziehung könnten folglich häufiger auftreten, da frühere Erfahrungen auch immer die Gestaltung späterer sozialer Beziehungen prägen können. Für Menschen im Spektrum gilt es, die Aspekte narzisstischen Missbrauchs zu erkennen und zu schlussfolgern, wann es sich um Manipulationen, Gaslighting und Degradierungen in einer dysfunktionalen Beziehung handelt. Außerdem müssen sie ebenso wie andere Personen, die vulnerabel für missbräuchliche Beziehungen sind, lernen, die frühen Warnsignale zu bemerken.