In den letzten Jahren haben sich in vielen Ländern Europas die Diagnosen aus dem Autismus-Spektrum, wie zum Beispiel Asperger-Syndrom bei Frauen erhöht. Dies kann unter anderem daran liegen, dass ein Umdenken in der Fachwelt erfolgt und die derzeit geltenden Diagnosekriterien, welche eher die männliche Ausprägung des Asperger-Syndroms berücksichtigen, mit anderen Augen betrachtet werden – so Dr. Christine Preißmann, Allgemeinärztin und selbst Betroffene. Mit der mangelnden Diagnosestellung des Asperger-Syndroms bei Frauen geht für die weiblichen Betroffenen ein jahrelanger Leidensweg einher, da sie sich die Ursache für ihr Anderssein sowie für die Einsamkeit und ihre Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion nicht erklären können. Grund genug, diese Artikelreihe Frauen mit Asperger-Syndrom zu widmen.
Diagnoseraster greift nicht für Mädchen
Die Symptome des Asperger-Syndroms scheinen bei Mädchen nicht so offenkundig zu sein. Da Mädchen oft ruhiger sind und zum Beispiel mangelnder Blickkontakt bei ihnen mit Schüchternheit assoziiert wird, fallen diese nicht als umfassend beeinträchtigt in ihrem sozialen Umfeld auf, so Preißmann. Die »seltsame« Art und die Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion werden oft auf eine extreme Schüchternheit geschoben. Darüber hinaus scheint es so, dass Mädchen ihr Asperger-Syndrom besser »tarnen« können. Sie laufen in der sozialen Gruppe mit und werden oft von anderen Mädchen bemuttert beziehungsweise beschützt anstatt ausgegrenzt, wie es zum Beispiel oft bei Jungen mit Diagnosen aus dem autistischen Spektrum der Fall ist. Dennoch kommen bei Mädchen beziehungsweise Frauen mit Asperger-Syndrom auch Hänseleien in der Kindheit/Jugend vor, ähnlich wie bei Jungen.
Mädchen und Frauen mit Asperger-Syndrom ahmen oft andere Mädchen/Frauen nach und versuchen deren Verhalten, sowie deren Mimik und Gestik zu kopieren, um die Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion zu überdecken. Auch sind typische Verhaltensweisen des Asperger-Syndroms wie Kategorisieren und Ordnen eher dem weiblichen Naturell zuordbar und fallen deshalb bei Mädchen nicht auf.
Häufig kommt es bei Mädchen und Frauen mit Asperger-Syndrom zu Fehldiagnosen, wie zum Beispiel einer Zwangsstörung, Anorexie, soziale Angststörung etc.
Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion: Asperger-Syndrom
Ein Großteil der Charakteristika, welche das Asperger-Syndrom bei Frauen und Mädchen kennzeichnen können, beziehen sich auf die Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion. Die Aufzählung ist nicht erschöpfend, muss nicht zwangsläufig bei jedem Punkt zutreffen und soll eher als grobe Richtlinie verstanden werden, anstatt einer Selbstdiagnose zu dienen. Viele der nachfolgend genannten Punkte treten natürlich auch bei männlichen Personen mit Asperger auf.
Bei Frauen mit Asperger-Syndrom scheinen, wie bereits erwähnt, manche Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion besser »maskiert« zu sein, weil sie gelernt haben, sich unter großer Anstrengung sozial erwünschtes Verhalten explizit anzueignen und dieses anzuwenden, dessen mangelnde Authentizität beim Gegenüber gar nicht auffällt oder allenfalls als ein bisschen »merkwürdig« wahrgenommen wird.
In Anlehnung an das Buch Hochfunktionaler Autismus im Erwachsenenalter von Gawronski, Pfeiffer & Vogeley sind nachfolgend vorrangige Punkte aufgeführt, welche die Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion ausmachen:
Innere Verfassung und Soziale Intentionen schwer erkennbar
- viele Erwachsene mit Asperger-Syndrom bestehen die meisten klassischen Testverfahren zur Mentalisierungsfähigkeit, sind sich also über stereotype mentale Prozesse bei sich und anderen gewahr; Grund: Überzeugungen, Gefühle und Gedanken anderer Menschen wurden durch explizite Regeln erschlossen
- demgegenüber existieren im komplexen sozialen Alltag große Schwierigkeiten, die innere Verfassung oder die mentalen Zustände bei anderen Personen zu erkennen; wenn beispielsweise bei einer Feier zum Teil innerhalb kürzester Zeit die Intentionen mehrerer Personen gleichzeitig erfasst werden müssen, um angemessen reagieren zu können, haben sie Schwierigkeiten aufgrund gestörter oder gar fehlender intuitiver Mentalisierung
Ungeschicktes Auftreten im sozialen Kontext
- oft unbeholfenes Verhalten im sozialen Kontext
- manches Mal sogar unhöflich, arrogant und respektlos wirkend, analytisch und unterkühlt; manchmal unangemessen laut sprechen
- kein Verstehen, wann Gespräch beendet ist; anderen Personen ins Wort fallen oder sich unpassend äußern
- Monologisieren über individuell interessante Themen, ohne zu erkennen, dass ein Gesprächspartner sichtlich gelangweilt ist
- Rückkehr zu Sachlichkeit und Stringenz bei emotional unangenehmen Themen oder emotionaler Nähe
- Probleme beim Small-Talk; Schwierigkeit bei der Auswahl der Themen; kein angemessenes Reagieren im Dialog; unangenehme Sprechpausen; tieferes Eintauchen in die Thematik, was bei anderen oft als unangebracht bzw. »sehr interessiert« wahrgenommen wird
- Probleme am Telefon: nicht zu wissen, wann man mit dem Sprechen wieder dran ist
- in sozialen Situationen, in denen wohlfühlen, beinahe kindlich-naive Offenheit; soziale Unreife; insgesamt als »andersartig« beschriebenes Verhalten (oft auch nicht altersgemäß)
Mangelndes Semantikverständnis und Sprachmonotonie
- während betroffene Kinder beispielsweise die Frage, ob sie bis 10 zählen können, mit »ja« beantworten, ohne den impliziten Aufforderungscharakter der Frage zu verstehen und mit dem Zählen zu beginnen, haben betroffene Erwachsene gelernt, dass diese Frage eine solche Aufforderung beinhaltet
- dennoch häufig verzögertes Reagieren auf Ironie, Witz etc., da das Verstehen Schwierigkeiten bereitet
- wenig modulierte und dadurch monotone sowie mechanische Sprechweise; anderen Personen kann Zuhören schwerfallen, da fehlende Variationen in Tonhöhe, Rhythmus, Tempo oder Betonungen relevanter Worte Langeweile hervorrufen können
Mangelnder Augenkontakt und Mimik schwer interpretierbar
- Blickkontakt wird als unangenehm/ablenkend empfunden
- für die meisten Menschen ist es leicht, sich etwas unter einem »vernichtenden Blick« oder einem »liebevollen Blick« vorzustellen, für Erwachsene mit Asperger-Syndrom kein beziehungsweise kaum Wahrnehmen oder Verwenden dieser sensiblen Kommunikationssignale; Blickverhalten anderer Personen ohne Relevanz
- Mimik und Gestik anderer (vor allem subtile) schwer interpretierbar; allerdings haben manche Personen mit Asperger-Syndrom die Möglichkeit, nonverbale Signale wie Worte einer Fremdsprache zu erlernen, weshalb im Erwachsenenalter häufig eindeutige nonverbale Signale gut verstanden werden können; Dennoch: eher verlassen auf explizite Informationen als auf nonverbale
Kaum Freundschaften, ggf. Partnerschaft
- schwerfallen, Freundschaften zu schließen, nur wenige soziale Kontakte oder Bekanntschaften
- oft nicht wissen, wie auf andere zugehen oder reagieren sollen, wenn Kontaktaufnahme durch andere erfolgt
- bestehende Freundschaften zu pflegen, fällt schwer bzw. wird nicht ausgeübt
- Partnerschaften/Flirten/Dating große soziale Herausforderung; dennoch leben viele Frauen mit Asperger-Syndrom in einer Partnerschaft und haben Familie (manche sagen: Asperger-Mütter sollen sehr gute und unkonventionelle Mütter sein, da sie basierend auf Fakten ihre eigenen Schlüsse ziehen, unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen)
- sozialer Rückzug in vertraute Situationen und Beziehungen, anstatt ausschweifende soziale Bekanntschaften
- Erschöpfung nach komplexen sozialen Interaktionen
Nach dem Eingehen auf die Schwierigkeiten bei sozialer Interaktion bei Männern und Frauen mit Asperger-Syndrom beschäftigt sich der nächste Teil dieser Serie mit den kognitiven Fähigkeiten von Aspergern.