Das System Putin

Schild mit der Aufschrift Gay

Homosexualität gilt nicht selten noch als pervers … © D.C,Atty under cc

Sich der Denkweise des Systems Putin versuchsweise anzunähern kann uns trotzdem helfen. In einem kurzen und hörenswerten Radiobeitrag, bringt Udo Marquardt die Essenz aus zwei Büchern: In Putins Kopf und Der Weg in die Unfreiheit auf den Punkt und arbeitet dabei als Ideengeber Iwan Iljin und drei von ihm adaptierte Punkte des Systems Putin heraus:

Der Staat ist ein lebendiger Körper und der Mensch eine Zelle in diesem Körper mit vorbestimmter Aufgabe

Insofern hat man in dieser Rolle auch keine Möglichkeit des Aufstiegs oder der Veränderung, denn wer als Nerven- oder Muskelzelle des Staates gedacht ist, ist es nun mal dort, wo er hin gehört. Eine Schicksalsgläubigkeit, die man aus religiösen, esoterischen und mystischen Quellen kennt, die aber auch vom Faschismus instrumentalisiert wird. Diese schicksalhafte Bestimmung kennen wir von den Nazis, die auch das Bild des Volkskörpers und seiner Krankheiten bemühten, ebenso, wie das in Iljins Gedankenwelt der Fall sein soll. Man kennt diese Rede aber auch aus esoterischen Gedanken, nämlich, dass jeder dort, wo er oder sie steht, zurecht steht. Auch hier, vom Schicksal an die Position gesetzt.

Dem wird von Marquardt der westliche Individualismus gegenüber gestellt, die Idee, dass der Mensch nicht nur Zelle eines Körpers ist, sondern einen eigenen Wert hat. Doch genau dieser Individualismus ist neuerdings ins Zwielicht geraten, weil er etwas zu oft als reiner Egoismus interpretiert wird. Paradoxerweise lassen narzisstische Tendenzen wiederum den Faschismus attraktiv erscheinen, bei dem die Einheit durch Regression hergestellt wird. Als höchstes Glück, mindestens aber als ein statthafter Weg, gilt dann die Einheit in und mit der Schicksalsgemeinschaft, auch wenn sie in den Untergang führt.

Es ist eine Suggestion, dass man sich zwischen Individualismus und Kollektivismus zu entscheiden habe. Denn es ist ja so: Jeder Mensch hat seinen eigenen Wert und genau dadurch, dass er zu sich findet, das tut, was er gut kann und mit dem er sich wohl fühlt, kann er der Gemeinschaft am besten dienen. So wird Selbstfindung nicht zum narzisstischen Spiel, sondern zum Dienst an der Gemeinschaft. Aber Selbstfindung oder gar Selbsttranszendenz, sind das nicht psychologische oder spirituelle Forderungen?

Ist Religion immer faschistisch? Oder Spiritualität, Esoterik und Mystik? Was wäre der Unterschied? Der Faschismus hat kein positives Angebot, es geht um einen ewigen Kampf und Ewigkeit wird so gesehen, dass sich dieser Kampf immer wiederholt. Das ist die Einheitserfahrung, die er anbietet, eins zu werden und vereint zu kämpfen, zu triumphieren oder unterzugehen.

Aber an seinem Platz zu sein, schließt in spirituellen Deutungen nicht aus, sich weiter zu entwickeln, meist ist Weiterentwicklung sogar der zentrale Motor und als Ziel wird zumeist als eine Ich-Überwindung oder Selbsttranszendenz beschrieben, es geht nicht um einen Zusammenbruch des Ich in einer Orgie der Zerstörung.

Meister Eckharts radikal einfache Lösung sieht so aus: Man braucht keinerlei Einflüsterungen zu folgen, man braucht nicht zu versuchen sich bei irgendwem, auch nicht bei Gott selbst anzubiedern:

„Diesen Sinn verstehn etliche Leute nicht recht; das sind die Leute, die peinlich an Pönitenzien und äusserlichen Bussübungen festhalten (dass die Leute in grossem Ansehen stehen, das erbarme Gott!) und sie erkennen doch so wenig von der göttlichen Wahrheit. Diese Menschen heissen heilig nach dem äussern Ansehen, aber von innen sind sie Esel, denn sie verstehen es nicht, die göttliche Wahrheit zu unterscheiden.“[1]

Seine Botschaft ist, alles Bemühen radikal hinter sich zu lassen:

„Steht die Sache so, dass der Mensch aller Dinge ledig steht, aller Kreaturen und seiner selbst und Gottes, und ist es noch so in ihm bestellt, dass Gott eine Stätte in ihm zu wirken findet, so sagen wir: solange das in dem Menschen ist, ist der Mensch nicht arm in der tiefsten Armut, denn Gott ist nicht der Meinung mit seinen Werken, der Mensch solle eine Stätte in sich haben, worin Gott wirken könne, sondern das ist eine Armut des Geistes, dass der Mensch Gottes und aller seiner Werke so ledig steht, dass Gott, wenn er in der Seele wirken will, selbst die Stätte sei, worin er wirken will, und das tut er gerne. Denn findet Gott den Menschen so arm, so ist Gott sein eigenes Werk empfangend und ist eine Eigenstätte seiner Werke damit, dass Gott ein Wirken in sich selbst ist. Allhier erlangt der Mensch in dieser Armut das ewige Wesen, das er gewesen ist und das er jetzt ist und das er in Ewigkeit leben soll.“[2]

Das klingt nicht nach Faschismus, nicht nach ewigem Kampf, diese Ich-Überwindung kennt einen ganz anderen Ausgang:

„Als ich aus Gott entsprang, da sprachen alle Dinge: Gott ist da. Nun kann mich das nicht selig machen, denn hier erkenne ich als Kreatur; dagegen in dem Münden, wo ich ledig stehen will im Willen Gottes, und ledig stehn des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selbst, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder Gott noch Kreatur, sondern ich bin was ich war und was ich bleiben soll jetzt und immerdar. Da erhalte ich einen Ruck, der mich über alle Engel schwingen soll. Von diesem Ruck empfange ich so reiche Fülle, dass mir Gott nicht genug sein kann mit alledem, was er Gott ist, mit all seinen göttlichen Werken, denn mir wird in diesem Münden zu teil, dass ich und Gott eins sind. Da bin ich was ich war, und da nehme ich weder ab noch zu, denn ich bin da eine unbewegliche Ur-Sache, die alle Dinge bewegt.“[3]

Woran merkt man, ob es so ist? Man fühlt es. Man merkt, wenn man satt ist, wenn man zufrieden und auch, wenn man angekommen ist. Wo ist man angekommen? Im Moment. Das ist kein Tunnelblick, keine Ausblendung von Sorgen, sondern das Gegenteil. Schon die Reflexion braucht auch unsere Emotionen, um daraus ein Gesamtbild zu zeichnen, auch die Spiritualität arbeitet genau damit. Vertiefend in: Gibt es Hilfe, wenn unsere Welt in Trümmern liegt?

Wie schnell geht das? Manchmal sehr schnell, es kommt auf die Größe des Schocks an, ein uns drohender Krieg ist ein großer Schock. Die heutige Realität ist oft an gar nichts zu glauben, was irgendwie nach Religion oder Spiritualität riecht, mit aber das zieht diesem Weg nicht den Zahn. Der Buddhismus empfiehlt genau das zu tun, sich selbst zu überzeugen und Spiritualität oder Mystik ist traditionell ein Weg aus dem Glauben heraus. Die andere Botschaft der Mystiker ist ähnlich der, der Psychologen: Weiter atmen. Psychologen sagen, man solle in die Aktion kommen, um die Angst zu lindern. Im Faschismus geht es darum Teil einer einerseits bedrohten, andererseits pseudoelitären Gesellschaft zu sein, die sich gegen alle Widerstände durchsetzten muss. In der Mystik geht es darum eins mit allem zu sein.

Demokratie ist ein leeres Ritual und ein echter sozialer Aufstieg unmöglich

Iljins zweiter Punkt. Dem hält Marquardt entgegen, dass ein echter sozialer Aufstieg bei uns sehr wohl möglich ist und wir auf Gleichheit wert legen. Theoretisch und historisch ist das der Fall, aber Deutschland ist sozial immer weniger durchlässig geworden, der Abstieg ist möglich, der Aufstieg schwierig. Gründe sind die fortschreitende Ökonomisierung der Gesellschaft, doch diese ist nur ein Aspekt einer seit einigen Jahrhunderten um sich greifenden Funktionalisierung des Miteinanders.

Wir führen die Gleichheit im Munde, aber machen zu wenig Schritte dorthin oder verheddern uns in einer Mischung aus grauenhaft oberflächlichem Pluralismus und einer Opferkultur, die manchmal nicht mehr weit vom faschistischen Narrativ entfernt ist, weil sie zwischen Größenphantasien und Selbstmitleid hin und her pendelt. Die Abfolge der Stufen dieser regressiven Entwicklung und die anfängliche Ausleuchtung der Innenwelt dieser Einstellungen haben wir in Regressionen der Masse dargestellt.

Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty schreibt, dass eine Abkopplung Russlands vom internationalen Zahlungssystem SWIFT eher die russische Zivilbevölkrung trifft, als die Oligarchen:

„Um den russischen Staat in die Knie zu zwingen, müssen wir Sanktionen auf die dünne soziale Schicht von Multimillionären fokussieren, auf die sich das Regime stützt: Diese Gruppe ist deutlich größer als ein paar Dutzend, aber viel kleiner als die russische Gesamtbevölkerung. Eine Idee: Man könnte alle einbeziehen, die mehr als 10 Millionen Euro an Immobilien und Vermögen besitzen – nach den neuesten verfügbaren Daten wären das rund 20.000 Personen. Das sind 0,02 Prozent der russischen erwachsenen Bevölkerung (derzeit 110 Millionen). Würde man die Marke bei fünf Millionen Euro ansetzen, wären 50.000 betroffen; bei einer Grenze von zwei Millionen Euro 100.000 (0,1 Prozent der Bevölkerung).“[4]

Jedoch:

„Warum also gibt es noch keine Fortschritte in diese Richtung? Aus einem ganz einfachen Grund: Die Reichen im Westen fürchten, dass ihnen eine solche Transparenz am Ende schadet. Das ist einer der Hauptwidersprüche unserer Zeit. Die Konfrontation zwischen „Demokratien“ und „Autokratien“ wird übertrieben, weil vergessen wird, dass die westlichen Länder mit Russland und China eine ungezügelte hyperkapitalistische Ideologie ebenso teilen wie ein rechtliches, steuerliches und politisches System, das zunehmend große Vermögen begünstigt.“[5]

Das ist ein großes Problem, aber noch das kleinere, wenn man die Geißel einer Reduzierung des Miteinanders auf den Funktionalismus in den Blick nimmt. Der ewige Kampf des Faschismus ist das untere Ende eines nachvollziehbaren Wunsches nach Verschmelzung, der die Urwunde einer empfundenen Trennung heilen soll. Aber es gibt weitaus bessere Ideen, als den kollektiven Untergang in einer Schicksalsgemeinschaft. Man muss aber verstehen, wie bedeutend dieser Antrieb ist, ihn einbinden und die besseren Angebote darstellen, statt sie ideologisch abzuwehren. Näheres in Die politisch-ideologische Fehldeutung – Verschmelzungen und Einheitserfahrungen.

Ein deutlich bessere Welt ist noch immer möglich. Sie ist paradoxerweise genauso zum greifen nahe, wie ein Untergang. Aber allein die fromme Betonung des Guten im Menschen reicht nicht aus. Wenn der nächste Zug gelingen soll, muss er unter realistischen Bedingungen stattfinden. Dazu müssen wir weniger die Mythen der anderen, als vielmehr unsere eigenen betrachten:

„Hier betrete ich ein schwieriges Terrain. Oft ist zu hören, vor allem in konservativen psychoanalytischen Kreisen, dass die harten Zeiten, die die Psychoanalyse gerade durchmacht, damit zu tun haben, dass Freuds Entdeckungen für die konventionellen Ansichten der Menschen nach wie vor eine große Bedrohung darstellen. Ich glaube, dass die Sichtweise die ernsthaften Schwierigkeiten unterschätzt, in die sich die Psychoanalyse selbst gebracht hat; sie hat ihren Ruf als isolationistisch, elitär und voreingenommen gegenüber empirischer Forschung kritiklos hingenommen, ja zuweilen selbst befeuert. Doch ist die eingangs zitierte Sichtweise – ein hartnäckiges Festhalten der westlichen Welt an einigen konventionellen Mythen – durchaus zutreffend. Das betrifft

  • den Mythos von der sexuellen Unschuld des Kindes,
  • den Mythos, dass der Mensch von Grund auf gut ist, sowie
  • den Mythos, dass bei einer menschlichen Begegnung zumindest eine der beiden Parteien der anderen zu helfen bemüht ist.

Max Gitelson fasste dies in einfachen Worten zusammen: „Es gibt viele Menschen, die an die Psychoanalyse glauben, außer wenn es um Sex, Aggression und Übertragung geht.“[6]

Der Mensch ist nicht von Grund auf böse, sondern in ihm schlummert das Potential zu Liebe und Aggression. Demokratie ist also nicht schlecht, sondern sie hat die Möglichkeit Rahmenbedingungen zu schaffen, die die besten Eigenschaften der Menschen stärken, nämlich über die Begrenzungen der Systeme von Politik und Wirtschaft hinaus zu reichen. Vertrauen und Freundschaft sind, wie fast alle wissen, realistisch und sie reichen über reine Kosten/Nutzen-Beziehungen hinaus. Demokratie muss genau das schützen, sonst geht sie unter.