Es gibt keine Fakten und Wahrheiten

Startendes Flugzeug auf Flugzeugträger

… Flugzeugträger gelten hingegen als normal und werden bewundert.

Ein schwieriger Punkt. Es ist alles andere als klar, was Fakten und Wahrheiten überhaupt sein sollen. Ich verweise auch hier auf den ausführlicheren Artikel Macht und Wahrheit in der heutigen Zeit, der diesen Aspekt behandelt.

Schwierig ist der Punkt – um eine lange Geschichte kurz zu machen – weil es in abgezirkelten Bereichen mit bestimmten, definierten Wahrheits- und Geltungsbedingungen sehr wohl Wahrheiten, sowie Irrtümer und Lügen gibt. Bei einer Lüge agiert man mit Vorsatz, beim Irrtum glaubt man etwas falsches. Lügen zerstören das mögliche und reale Vertrauen, aber es ist auch real, dass nicht jeder in seiner Entwicklung zu der Ebene vordringt, die einem die Erfahrung der Realität von Vertrauen und Wohlmeinen ermöglicht. Das ist persönlich traurig, aber wenn sich in schwierigen Zeiten führende Politiker in ihrem aggressiven Misstrauen eingraben, kann es für sehr viele Menschen dramatisch werden. Wer Zuneigung, Vertrauen, Freundschaft und allgemein komplexere Emotionen nicht aus eigener Erfahrung kennt, wird nicht viel Engagement haben, diese in der Gesellschaft zu stärken. Statt dessen gehen Überwachung, Bürokratie und ein kalter Funktionalismus weiter, bei dem man soziale Kreditpunkte sammelt und belohnt oder bestraft wird. So werden Elemente, die bereits in der Tierdressur als veraltet gelten, dem Menschen übergestülpt.

Das Problem mit den Fakten ist, dass es keine allen Perspektiven übergeordnete Perspektive gibt. Wir meinen manchmal – und hoffentlich immer weniger und seltener – die Sichtweise der Physik sei die alles überragende. Doch Liebe, Hass, Vertrauen, die Wirkung von Verträgen und Gesetzen, die Beurteilung von Kunst und Argumenten kommen in der Sprache der Physik überhaupt nicht vor. Ob man sich an Gesetze hält oder nicht, ist keine Frage der Natur, sie lässt beides zu, dass wir betrügen oder ehrlich sind.

Sexualität

Udo Marquart erwähnt nicht die sexuelle Konnotation, die Timothy Snyder in seinem Buch darstellt. Der Westen wird als pervers und verkommen skizziert, weil er Homosexualität und Queerness nicht verurteilt. Auch das ist ein schwieriges Thema, weil wir hier selbst noch Klärungsbedarf haben. Einerseits ist es gut, wenn eine Gesellschaft sensibler wird. Andererseits führt der Überbietungswettbewerb mit dem man versucht, nur ja niemanden zu diskriminieren dazu, dass man sich von Menschen, nur weil sie einer vermeintlichen oder tatsächlichen Randgruppe angehören, jeden Unsinn erzählen lassen, wie etwa, dass nur weiße Menschen rassistisch sein können und dergleichen. Gesellschaftliche und damit auch sexuelle Normen sind mehr oder weniger beliebige Setzungen und variieren, durch die Zeiten und Kulturen erheblich. Mal ist die Knabenliebe ein Ideal, Intiationsritus oder mindestens etablierte Praxis, hier und heute führt sie zum Entsetzen und ist die am stärksten tabuisierte und sanktionierte Form der Sexualität, abgesehen vielleicht vom Sex mit Tieren und Leichenschändung.

Nur ist es eben kein Argument zu sagen, dass dann oder dort doch auch erlaubt war, was hier und heute verboten ist, weil wir eben hier und heute leben und auch nicht im Linksverkehr fahren können, mit dem Verweis darauf, das sei in Großbritannien normal. Patriarchale Gesellschaften haben große Schwierigkeiten mit der Homosexualität, zumindest ab dem Mittelalter. Der europäische Osten gehört dazu, aber auch bei uns verschwindet Homosexualität erst 1994 aus den Strafgesetzbüchern. 1871 wurde ein Strafgesetzt eingeführt, unter den Nazis verschärft, doch wenn man Florian Illies‘ Buch Liebe in Zeiten des Hasses liest, bekommt man eine Ahnung, dass vor der Naziregentschaft, zumindest in Kreisen der kulturell Kreativen, im urbanen Raum der 1930er, Homo- und Bisexualität Breitensport war.

Der Propagandaschungel ist dicht

Es bleibt eine ambivalente Mischung, wie man die Sicht auf den Westen einschätzen kann. Auf der einen Seite, ist bei allen Punkten etwas zu finden, wenn man tiefer gräbt, doch auf der anderen sollte die Kritik weder religiös noch taktisch begründet werden. Wenn es keine letztendlich privilegierte Postion gibt, dann ist auch ein politreligiöser Mythos, wie der von Iwan Iljin nicht privilegiert.

Meint man ihn rein taktisch durchsetzten zu können, beruft man sich auf das Recht des Stärkeren. Systeme die auf aggressives Verhalten setzen, können langfristig nicht gewinnen. Aggression ist eine reale Disposition in unserem Verhaltensrepertoire und keine Fehlfunktion, weil im Kopf etwas falsch läuft oder in der Erziehung der Kindheit.

Auf Liebe, Freundschaft, den Willen zur Kooperation, Gerechtigkeit und vielleicht eine reife Spiritualität zu setzen ist vielleicht richtig, weil es reale Größen sind, auf die man bauen kann. Aber Aggression wird nicht verschwinden und wenn man die eine Seite erkennt, so ist das gut, aber wenn man die Realität der Aggression verdrängt oder verleugnet ist wenig gewonnen und sie bestmöglich und konstruktiv einzuhegen, wird schwierig.

Im Propagandadschungel wimmelt es von bewusst gestreuten Falschinformationen, also Lügen. Das ist der eine Punkt und schlimm genug. Noch problematischer sind aber jene Irrtümer von deren Wahrheit man selbst überzeugt ist. Sie sind keine einfachen Wissenslücken. Eine der großen Erkenntnisse der Psychoanalyse war, aufzuzeigen, dass diese Irrtümer aus Verdrängungen resultieren und es dauert lange, diese aufzudecken, zu akzeptieren, damit auch, dass sie zu einem Teil der eigenen Psyche gehören. Hinzu kommt, dass dies ein dynamischer Prozess ist, das heißt, das eben Gewusste oder Aufgedeckte kann wieder verdrängt werden.

Allein auf die Vernunft zu setzen ist zu wenig und so einseitig, wie es Emotionalisierungen sind, da nicht nur Erkenntnisgrenzen, sondern auch Massenregressionen real sind. Ein zu naiver Glaube an die Vernunft ist von einer ausreichenden Zahl großer Geister zurückgewiesen worden, um ernst genommen zu werden. Er mündet in einen Funktionalismus, den wir auch bei uns überhäufig finden. Vermutlich ist ein demokratisches System das beste, was jene Begegnungen fördern und beschützen kann, die uns über ein Leben im Konsten/Nutzen-Modus hinaus trägt, aber gerade in den westlichen Demokratien, auf die wir zu einem Teil zurecht stolz sein können, beschneiden wir zugleich die Wurzeln, die uns emotional ernähren.

Auch das ist ein Pfad tiefer in den Propagandadschungel, weil viele ernsthaft meinen, man könne diese Wurzeln kappen, ohne Schaden zu nehmen. Die Natur auspressen, tiefe Beziehungen zugunsten oberflächlicher Dienstleistungen eintauschen und tiefe Überzeugungen taktisch anpassen. Auch diese Perspektiven sind Formen der Aggression, wir sollten noch mal hinschauen und die inneren Antriebe und Zusammenhänge tiefer durchdringen. Diese Erkenntnisse helfen uns weiter, sie schließen jene auf anderen Wissensgebieten keinesfalls aus.

Quellen:

  • [1] http://www.zeno.org/Philosophie/M/Meister+Eckhart/Predigten,+Traktate,+Spr%C3%BCche/Predigten/16.+Von+der+Armut
  • [2] http://www.zeno.org/Philosophie/M/Meister+Eckhart/Predigten,+Traktate,+Spr%C3%BCche/Predigten/16.+Von+der+Armut
  • [3] http://www.zeno.org/Philosophie/M/Meister+Eckhart/Predigten,+Traktate,+Spr%C3%BCche/Predigten/16.+Von+der+Armut
  • [4] Thomas Piketty, Westliche Eliten wollen keine Sanktionen gegen Russlands Reiche | The Guardian | der Freitag, März 2022, https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/thomas-piketty-westliche-eliten-wollen-keine-sanktionen-gegen-russlands-oligarchen-swift
  • [5] Thomas Piketty, Westliche Eliten wollen keine Sanktionen gegen Russlands Reiche | The Guardian | der Freitag, März 2022, https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/thomas-piketty-westliche-eliten-wollen-keine-sanktionen-gegen-russlands-oligarchen-swift
  • [6] Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S. 301