Über den Propagandadschungel zu schreiben hat zweierlei Bedeutung: Einmal darüber zu berichten, zum anderen nach Möglichkeit darüber hinaus zu gelangen.
Darüber hinaus gelangt man durch Reflexion. Reflexion heißt nicht Empfindungslosigkeit, sondern die Empfindungen die man hat zu registrieren und nicht gleich wieder mit der nächsten, größeren emotionalen Welle zu vergessen, sondern sich die Muster anzuschauen. Das sind im besten Fall gewaltige Schritte, aber man muss diese Schritte die einen von einer bestimmten Geworfenheit, hier jener ins Meer der Emotionen, unterscheiden, bei denen man immer nur von der nächsten Woge getrieben wird, bis man im Meer ersoffen ist und keinerlei Halt mehr findet.
Freund/Feind-Schema
Ein erster und beliebter Fehler ist, es für einen Erkenntnisschritt zu halten, wenn man den Spieß, in dem Fall die Sichtweise einfach umdreht. Das erscheint zunächst ungeheuer radikal und ist durchaus ein mutiger Akt. Man traut sich die Dinge anders zu sehen als die Mehrheit es tut, weil die Mehrheit bekanntlich nicht immer richtig liegen muss. Allerdings muss sie sich auch nicht irren und wenn man aus Schwarz Weiß macht und einfach alle Wahrheiten umdreht ist man weiter von den konventionellen Vorgaben abhängig, da man auf diese wartet um sie umzudrehen. Die so gesetzten Themen wird man nicht los.
Es wird aller Orten kritisiert, dass es Teil der russischen Propaganda sei, dass man den Krieg nicht Krieg nennen darf. Es wird als brutale Zensur wahrgenommen, die tatsächlich mit drakonischen Strafen belegt ist und vielleicht erinnert das manche an Chinas Meinungslenkung über die Geschehnisses am Platz des Himmlischen Friedens.
Das Muster ist immer ähnlich. Die Deutung über Geschehnisse wird an sich gerissen und jede abweichende Interpretation wird brutal unterdrückt, bis man irgendwann vergessen hat, dass es überhaupt andere Meinungen gab. Das kann man sich so lange mit einer Mischung aus Kopfschütteln und innerer Genugtuung anschauen, wie es zeitlich, örtlich oder politisch weit weg ist, denn wir leben oft in der Überzeugung, das gäbe es nur anderswo und ‚bei uns‘ habe es das höchstens in der Nazizeit gegeben.
Wir brauchen jedoch nur ins Jahr 2009 zurück zu gehen, um eine Situation zu finden, in der man den Krieg nicht Krieg nennen durfte. Der damals noch beliebte, weil junge, smarte und aufstrebende Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg brach ein Tabu, weil er den Kriegseinsatz deutscher Soldaten in Afghanistan, nein, nicht etwa als Krieg, sondern zunächst als „kriegsähnliche Zustände“ bezeichnete. Mitten in Deutschland, als die Welt noch in Ordnung war.
Um dem Einwand gleich zu begegnen: ich glaube nicht, dass es keinerlei Unterschiede auf der Welt und zwischen den Systemen gibt. Es ist nicht schön, wenn man sich mal an einem Blatt Papier geschnitten hat, aber eine Enthauptung ist doch noch mal ein andere Qualität, obwohl man beides auch als Schnittwunde bezeichnen könnte.
Einheitsbrei und Hierarchieangst
Es ist trotzdem nicht so, dass alle Deutung oder Interpretation nur Gerede ist, belanglos oder ein Verwirrspiel. Trump hat im Westen die Fake News als reale Größe politisch etabliert in einer ungehemmten Dreistigkeit, die neu war. Vielen gefällt das, weil sie weder Zeit, Lust, medientechnische, intellektuelle oder emotionale Kapazitäten haben um die Spreu vom Weizen zu trennen.
Emotionalität, Wiederholung und Rigidität schleifen sich ein und verfangen, der neue Stil der Politik, dem die neue Emotionalisierung durch Social Media in die Hände spielt. Emotionalisierung erweckt den Anschein, alles sei eins. Unsere schröckliche Demokratur mit ihrem fiesen Meinungsdiktat ist noch immer sehr weit von Systemen entfernt, wo man nicht mal im Traum daran denken würde, die Führung zu kritisieren, weil man einfach für Jahre in den Knast gesteckt oder getötet wird.
Wer hier schon strauchelt verliert den Überblick, wenn das nicht bereits geschehen ist. Die Emotionalisierung ist für das verunsicherte Ich keinesfalls nur schlecht, im Gegenteil. Sie macht aus Verunsicherung das Gefühl von Überlegenheit, Durchblick, auf der richtigen Seite zu stehen und Vitalität. Man ist nicht mehr ohnmächtig, sondern kann etwas tun, kennt sich zumindest aus.
Inmitten von Verunsicherung und Kriegsangst raten Psychotherapeuten dazu, sich die Informationen nur sehr dosiert zuzumuten und irgendwie in die Aktion zu kommen und die erstaunliche Macht der Normalität zu nutzen. Das ist sehr gut, aber durchaus nicht alles.
Hierarchie heißt nicht stramm zu stehen, sondern Argumente zu gewichten. Besseres von schlechterem zu unterscheiden und die Unterscheidung zu begründen. Dann ist die Schnittwunde durch Papier und die Enthauptung nicht mehr irgendwie dasselbe.
Verweichlichungen und Verhärtungen
Emotionalisierungen zu überwinden heißt nicht, sich unberührbar und kalt zu machen. Es heißt nur, das kleine Boot, was immer wieder durchgeschaukelt wird zu verlassen und wie eine Möwe den Blick von oben zu wagen und die Emotionen nicht wegzudrücken, sondern bewusst zu erleben. Natürlich sind die verwirrend, wie sollte es auch sonst sein?
Wenn man nicht nur das konsumiert, was einem bestätigt, was man ohnehin denkt, versucht man sich in der Regel einen möglichst breiten Überblick zu verschaffen, natürlich auch mit dem Blick darauf, was das alles für meine Zukunft, Freunde, Familie und dergleichen bedeutet. Mit Blick auf den aktuellen Krieg, fühlt man sich nach kurzer Zeit zurückversetzt in die Zeit, als Corona noch das alldominierende Thema war.
Eben waren wir noch Virologen, jetzt Militärexperten oder hören auf dieselben, samt Historikern, Osteuropakennern und Menschen, die wissen wollen, was Putin denkt und will. Ein Bazar der Meinungen, jeder wird bedient. Von Russland als böser Aggressor, bis NATO als eigentlicher Aggressor; von Putin irre bis höchst rational; von läuft militärisch gar nicht für Russland bis zur Sicht; dass Russland militärisch alles erreicht hat; dass die Wirtschaftssanktionen überraschend wirksam sind und die Oligarchen erregt, bis zur Sicht, dass diese längst eingepreist sind und die Oligarchen ihre Schäfchen längst im Trocknen haben. Dass Selenskyj ein Held ist, bis zur Sicht, dass die Ukraine durch und durch aus Nazis besteht.
Dazu kommt noch das eigene Gefühlschaos: Angst, Wut, Trauer, Enttäuschung, Verbitterung, Hoffnung, Beschwichtigung, dann wieder Drama. Verwirrung und Verunsicherung. Man müsste mal und warum hat man nicht längst? Das alles ist das normale Spektrum, weil die Zeiten verrückt oder für uns zumindest ungewohnt sind, nachdem Corona, die Folgen und Verwerfungen quer durch die Gesellschaft, Freundschaften und Verwandtschaften schon die Seele wund geschmirgelt haben. Manche Menschen sind vor lauter Kriegsangst paralysiert, andere verhärten, werden zynisch, kalt und versuchen sich so emotional abzuschotten.
Man muss aufpassen, dass man Selenskyj nicht zu hassen beginnt, weil er uns an die Phrasen erinnert, an deren Hohlheit wir uns in Sonntagsreden längst gewöhnt haben. Man kann nicht guten Gewissens zuschauen, wenn auch Zivilisten nicht verschont werden, dass Selenskyj alle medialen und moralischen Register zieht und das virtuos macht, ist sein gutes Recht. Auf der anderen Seite steht eine Eskalation mit drohendem Weltkrieg, es könnte der letzte sein. Ein echtes moralisches Dilemma und das heißt, wie man es auch macht, es ist nie richtig.
Flüchtlinge, die im Meer ertrinken konnte man noch zu gut ertragen, doch jetzt steht das eigene Leben auf dem Spiel, so hatte man sich das eigentlich nicht vorgestellt. Es steht aber nicht Wert gehen Gerede, sondern Wert gegen Wert. Eigentlich müsste man helfen, aber unser waffentechnologischer Fortschritt bringt es mit sich, dass bei einer Eskalation die ganze Erde atomar verstrtahlt wird. Wechselseitig versicherte Zerstörung, wer als erster schießt, ist als zweiter tot und das sicher. Mit unseren Waffen können wir die Erde 20x vollständig zerstören. Wer nicht sofort stirbt, tut es kurze Zeit später, qualvoller. Fallout und Wetter treiben die radioaktive Wolke in jeden Winkel der Erde. Das ist der Einsatz.
Ein anderes Szenario sieht nicht besser aus. Unser waffentechnologischer Fortschritt hat nämlich eine neue Generation Atomwaffen ins Spiel gebracht. Nicht strategische, wie Interkontinentalraketen, sondern taktische. Sie verstrahlen nicht ganze Regionen, sonder kaum etwas, das sollen sie auch. Damit man sie nicht erkennt, dringen sie tief in die Erde ein, entfalten dort ihre Zerstörung und sind kaum von anderen Bomben zu unterscheiden. So ein atomares Duell könnte für den Rest der Welt gut ausgehen, wenn man Europäer ist, sinken die Chancen jedoch erheblich.
Moralische Fundamente sind die Freiheit, ebenso aber die Verpflichtung den Weiterexistenz der Menschheit zu gewährleisten. Wer sich lieber auf die Seite der Freiheit geschlagen hat, als den Kindern und Enkeln eine lebenswerte oder überhaupt überlebensmögliche Welt zu hinterlassen, wer die Beschränkungen der Freiheit in der ‚Coronadikatur‘ lautstark kritisiert hat, müsste konsequenterweise auch jetzt die Freiheit der Ukraine mit so ziemlich allen Mitteln verteidigen. Ansonsten ging es einfach um Bequemlichkeit und Egoismus. Der moralische Preis ist der gleiche, Freiheit steht über dem Recht auf Leben, nur der Zahltag ist näher und das eigene Leben ist in Gefahr. So mancher radikale Freiheitskämpfer von eben hat breits in einer moralischen Bankrotterklärung die Fronten gewechselt. Man empfiehlt den Ukrainern sich nicht zu wehren, dann täte es auch nicht so weh. Freiheit scheint nur taktisch wichtig zu sein.
Wir wollen höher fliegen, von oben schauen, unsere eigenen Sorgen und unser berechtigtes Mitgefühl mit anderen und auch mit uns einpreisen: Man kann die eben beschriebene Position einnehmen und dabei konsistent argumentieren. Der Freiheitskampf wäre taktisch eingefroren, weil man sich zwischenzeitich der Gewalt ergeben muss, aber sie wird strategisch nicht preisgegeben, sondern vertagt. Man ändert den Kampfmodus. Auch hier hat man keine happy end Garantie. Man kann aber nicht einmal lautstark die Freiheit zum absoluten Wert erheben und koste es Leben (meistens allerdings das Leben anderer) und dann im Galopp das Pferd wechseln und mit der Forderung sich zu ergeben die Freiheit als vernachlässigbare Größe darstellen, viel weniger Wert, als das Leben (insbesondere denkt man wohl auch an das eigene). Wie gesagt, ein echtes moralisches Dilemma.