Unter Bewertungsfehler verstehe ich hier die notwendigerweise zunächst projizierte Sicht, mit der man Wünsche und Ziele anderer betrachtet.
Wenn wir auf die Welt kommen, haben wir einige biologische Mitgaben und Anlagen, doch erstaunlich vieles ist offen und das Ergebnis komplexer biopsychosozialer Einflüsse. Die Kern-Geschlechtsidentität ist ein Teil davon. Sie besagt einfach, ob wir uns als männlich oder weiblich empfinden. An sich kein Problem, sollte man meinen, aber heute erleben wir immer mehr Menschen, die das Empfinden haben, im falschen Körper zu leben.
Eine Modeerscheinung? Postmoderne Überspanntheit? Eine Seele im falschen Körper? Eine ganz gute Erklärung ist, dass sich das Empfinden des Kindes, ob es Junge oder Mädchen ist, danach richtet, wie die Eltern es behandeln. Da sie fast immer ihr Kind gemäß seiner körperlichen Erscheinung behandeln werden, ist das unkompliziert, bei Menschen mit beiden ausgeprägten Geschlechtern, hat sich das aber gezeigt.
Auch in den Fällen, wenn unbewusster Hass auf ein Geschlecht auch das Kind betrifft, kann dessen Kern-Geschlechtsidentität von der körperlichen Ausprägung abweichen. Soziale Prägungen begleiten uns also von Anfang an, eingebettet in das biopsychosoziale Gesamtgefüge, noch bevor das Kind sprechen kann, lange Zeit, bevor wir von sozialen Rollen im üblichen Zusammenhang reden.
Richtig und falsch
Die Kernfamilie, Vater, Mutter und Kind(er) ist dann der nächste Dreh- und Angelpunkt, an dem man Werte aufnimmt. Nicht durch explizite Ansprachen und Regeln, sondern viel beiläufiger, in dem das Kind immer wieder miterlebt, wie die Eltern mit ihrer Mit- und Umwelt umgehen. Wer dominiert und in welchen Fragen oder Bereichen? Gibt es feste Regeln, die für alle gelten? Lässt man sich ausreden? Wie ist die allgemeine Stimmung in der Familie: aggressiv, depressiv, optimitisch, nimmt man das Leben selbst in die Hand? Was ist Thema, was nicht? Wie geht man mit Essen, dem eigenen Körper, mit Tieren um? Dominiert Respekt und Gleichberechtigung oder Entwertung und Herabsetzung?
Irgendwie ist die soziale Umgebung des Kindes gestaltet und da das Kind zunächst nichts anderes erlebt, ist diese, seine Welt und die Art, wie sie funktioniert, die Welt. Irgendwann tauchen dann Verwandte, Kita- und Nachbarskinder auf und Kinder entdecken, dass manches auch anders geht und gemacht wird. Kinder machen da zu Anfang relativ ungezwungen mit und erlernen dann irgendwann dass es inmitten der Vielfalt der Möglichkeiten bestimmte Regeln, Praktiken und Werte gibt, die richtig und gut sind und andere, die falsch und schlecht sind.
Es ist so verlockend, wie falsch zu denken, dass diese Dominanz einiger Personen, in aller Regel die Eltern und ihrer Sichtweisen ein Problem sei und die Offenheit der Kinder am Anfang doch immer so bleiben sollte. Falsch ist es deshalb, weil diese Offenheit auf der kindlichen Unfähigkeit beruht, Regeln- und Rollen zu begreifen, da diese schon relativ komplex sind, kommen sie aber in dieses Alter und greifen dann ins Leere, weil ihnen statt weniger klarer Regeln alles Mögliche angeboten wird, entwickeln sie kein Empfinden dafür, dass etwas grundsätzlich richtig oder falsch sein könnte und finden alle Meinungen und Ansichten am Ende gleich gut.
Die Frage danach und die Begründung dafür, ob es denn überhaupt richtig und falsch gibt, wird dann später wieder komplizierter. Zunächst haben Kinder, die dann in die Phase kommen, in der sie die Art und Weise, wie man in ihrer Familie mit dem Leben umgeht schlicht als richtig ansehen, einen einfach und durchaus kooperativen Ansatz, wenn sie sehen, dass andere Kinder etwas anders machen. Sie erklären den anderen Kindern, dass das falsch ist und wie es richtig geht.
Haben sie aber engeren Kontakt zu anderen Familien, Übernachtungen, oder wenn man sich wechselseitig besucht, können sie entdecken, dass es woanders wirklich auch anders zugeht. Das muss gerade auch vom Kind verarbeitet werden, es fragt die Eltern, die müssen das einsortieren aber nach und nach kann sich der Horizont etwas erweitern und oft sind die Abweichungen ja nicht fundamental.
Schon längst wurden die Werte der Eltern, allen voran die unausgesprochenen, zu den eigenen, wurden internalisiert, ohne dass das Kind das aktiv macht oder auch nur merkt. Das muss man dann wieder entdecken und eine gute Möglichkeit ist die Partnerschaft.
Partnerschaft
Hoffentlich kennen die meisten die Geschenke der Liebe und Verliebtheit. Ist man verliebt, ist alles anders und die Welt in Ordnung, solange man nur beieinander ist. Der Himmel hängt voller Geigen, was man macht ist im Grunde egal, Hauptsache zusammen. Bleibt und zieht man zusammen, muss das gemeinsame Leben organisiert werden und trotz der Liebe glaubt man auf der anderen Seite immer noch, dass der Lebensansatz den man selbst bevorzugt, einfach der Richtige ist.
Folglich ist es auch nicht böse gemeint, wenn man der Partner eben zukünftig auch so lebt, wie man es selbst gewohnt ist. Die Liebe bietet uns die vielleicht schönste Möglichkeit an, einen neuen, gemeinsamen Raum zu errichten, wenn man wirklich reif ist und zusammen einen neuen Lebensabschnitt beschließt und es durchhält ihn zu gehen, Da werden dann alle Werte im Rahmen der eigenen Bedürfnisse neu errichtet, soweit das Ideal, praktisch kann man sich diesem mehr oder weniger annähern.
Das praktische Problem ist meistens, dass der Partner seine Herkunft und damit die Regeln und die Art und Weise, wie man mit diesem oder jenem umgeht, eben auch als richtig ansieht. Oft wird, wie bei den Kindern, dann versucht den Partner zu überzeugen doch nun langsam Vernunft anzunehmen, in der ernsthaften Überzeugung, dass das, was man eigentlich nur aus langer Gewohnheit kennt, die richtige Art und Weise ist.
Die Liebe bietet die Chance, das zu überwinden, manchmal auch die Vernunft. Wo dies nicht gelingt, bleiben beide in ihren Welten und es hat mich beeindruckt den Paartherapeuten Hans Jelloushek zu hören, der sagte, dass Paare zu ihm kommen und bei denen es gar nicht (mehr) läuft, sich nicht in- und auswendig kennen, sondern oft kaum noch. Wenn die Therapie gut läuft, findet man heraus, was man Jahre lang nicht sehen konnte oder wollte, dass der andere tatsächlich anders ist.
Jeder ist so wie ich oder wird es werden
Natürlich nicht ganz so, aber im Grunde besteht einer der größten Fehlleistungen auch bei Erwachsenen, in schöner Kontinuität darin, dass man die eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Sichtweisen und dergleichen mehr oder minder ungebrochen auf andere Menschen, Kulturen und Zeiten überträgt. Wenn man sich mit der Gesellschaft in der man lebt schlecht identifizieren kann, hat man den konträren Eindruck: Alle sind gleich, nur ich bin anders. Im Kern meint er dasselbe, dass nämlich, bis auf sehr wenige Ausnahmen, die Menschen zu allen Zeiten gleich funktionierten.
Oder es zumindest, da wo sie es noch nicht tun, sollten. Dieser hegemoniale Anspruch wird heute oft Eurozentrismus genannt und mit Ende der Geschichte hat er einen weiteren Begriff und ein Buch kreiert. Die Grundidee ist, dass die eigene Lebensart – im Falle des Buches Demokratie und Marktwirtschaft – überall auf der Welt durchsetzten werden.
Nun muss man kein ausgewiesener Linker sein, um zu meinen, dass die Marktwirtschaft vielleicht weiter auf dem Vormarsch ist, aber die Demokratie dazu nicht unbedingt gebraucht wird. Ein weiterer typischer Bewertungsfehler, dass die eigene Art und Weise mit dem Leben umzugehen, die richtige ist.
Die Idee, dass andere Menschen und Kulturen andere Bedürfnisse und Vorstellungen haben und nicht nur noch nicht so weit sind, sondern dort wo wir sind gar nicht hin wollen, kommt nun langsam in unser Bewusstsein.
Manche wiederholen den Fehler aber ein weiteres Mal, formulieren einen engen Pluralismus, der sagt, dass dann doch irgendwie alle Perspektiven gut sind und das Ziel nun sei, dies zu erkennen und die Buntheit des Lebens zu feiern. Kernidee: Bin ich friedlich und offen, werden die anderen es automatisch auch sein, oder allmählich lernen. Angesichts sehr vieler Menschen in sehr unterschiedlichen Lagen eine schwierige These.