Im regulären Leben gibt es häufiger Phasen, in denen uns die alltäglichen Anforderungen über den Kopf wachsen können. Neben der Arbeit, dem Zubereiten der gesunden Ernährung für die Kinder, der Beaufsichtigung der Hausaufgaben und dem täglichen Rausgehen für die Frischluftzufuhr hört man von vielen Eltern versteckte Klagen: Hilfe, mein Kind nervt! Manchmal. Wir alle lieben unsere Kinder. Doch es ist eben schlichtweg eine Doppelbelastung, der man ausgesetzt ist, will man Familie und Beruf unter einen Hut bringen. Gerade in Zeiten wie der Corona-Pandemie, in denen Eltern inklusive Homeoffice, Homeschooling, Kinderbeschäftigung und Haushalt vieles stemmen müssen, ist es durchaus verständlich, wenn hin und wieder die Nerven blankliegen. Viele Eltern werden strenger, wenn der Nachwuchs aufmüpfiger wird.
Statt stärker zu erziehen, ist man womöglich besser beraten, das Gegenteil zu praktizieren: Mental loszulassen. Das bedeutet nicht, daheim Anarchie walten zu lassen. Den Kindern mehr Freiheiten zu geben, bedeutet soviel mehr als dieses Klischee. Wie wir das meinen, erklären wir nachfolgend eingehender. Zunächst einmal starten wir ein Plädoyer für die Kinder, weil die Augenhöhe in der Hektik des Alltags oftmals verloren geht. Um die Kinder zu verstehen, ist es gut, ihren Standpunkt einzunehmen.
Der Tipp eines achtjährigen Kindes: Auch Eltern nerven manchmal
Die Tochter einer Freundin hat es neulich ziemlich gut auf den Punkt gebracht. Die Eltern bemühten sich, sie zum Schlittenfahren zu überreden, aber sie hatte dazu keine Lust. Nach mehrmaligen Versuchen ließ die Achtjährige entrüstet verlauten:
Also mal ehrlich, ihr Erwachsenen solltet endlich einmal lernen, euch ohne die Kinder zu beschäftigen.
Ich finde, das ist ein guter Blickwinkel. :)
In der Überschrift »Hilfe, mein Kind nervt!« habe ich provokativ das Wort »nerven« verwendet, weil es eben genau das ist, was viele Eltern als ersten Impuls bei Überlastung empfinden. Viele sind erschrocken über diese Gedanken und weisen sich im Kopf sofort zurecht. So darf man nicht denken, glauben sie. Am Ende finden sich Eltern auf den Spielplätzen ein, die sich gegenseitig versichern, wie viele Fortschritte ihr Kind machen würde und wie unkompliziert alles sei. Im Anschluss daran gehen nicht wenige Mütter (und Väter) mit Selbstzweifeln vom Platz und fühlen sich unzulänglich, weil sie die einzigen zu sein scheinen, die überfordert sind. Damit ist wirklich niemandem geholfen.
Und deshalb verwende ich »nerven«. Doch was steht eigentlich dahinter in der Eltern-Kind-Interaktion?
Wenn das Kind manchmal nervt, hilft loslassen!
Manchmal finden Eltern ihre Kinder anstrengend, weil es ein Ungleichgewicht in der Dyade gibt zwischen dem, was beide Parteien wollen. Die Eltern wollen bei aller Überlastung im Alltag, dass die Kinder funktionieren. Sie sollen sich einfügen und zeitlich nicht aufhalten, damit der stressige Alltag reibungsloser verläuft. Die Kids, welche von den Schwierigkeiten eines Erwachsenenlebens nichts wissen und gerade dabei sind, ihre eigene Persönlichkeit und die Welt zu entdecken, stemmen sich dagegen, wenn ihre Bedürfnisse übergangen werden. Wir nennen das auch gern Trotzphase, aber eigentlich ist das eine erste Phase der Identitätsbildung beim Kind.
Anstrengende Zeit: Die Trotzphase als Eltern »überleben«
Wir alle wollen selbstbewusste Kinder, die zu Menschen heranwachsen, die in dieser Welt bestehen können. Wir wollen Kids, die innerlich stark sind und sich durchsetzen können. Wenn diese Kinder in der vertrauten Umgebung mit ihren Eltern sich darin erproben, für ihre Bedürfnisse einzustehen, dann ist das ein sehr schöner Beweis dafür, dass die Eltern-Kind-Bindung funktioniert. Nicht immer passt uns die Selbstentdeckung unserer Kinder gut ins Leben. Wenn mitten im Supermarkt der nächste Trotzanfall mit Brüllen und Getrampel droht, können wir nur tief durchatmen und die Angst vor dem sozialen Auffallen ausschalten. Wir können nur versuchen, so gut es geht, das Kind durch diesen Gefühlssturm zu manövrieren. Denn nichts anderes ist es. Das Kind ist überwältigt von seinen eigenen Gefühlen und wir müssen der sichere Leuchtturm im Hafen sein. Das erfordert Extra-Kraft, die wir nicht immer haben. Schlimmer wird es noch, wenn andere Menschen vorbeigehen und den Kopf schütteln darüber, wie ungehorsam das Kind sei. Und ja, dann nervt es uns. Wir sind mit der Situation überfordert genauso wie unser Kind.
Gehen Sie offen mit ihren Gefühlen um
Soll ich Ihnen etwas sagen? Es ist ganz und gar nicht schlimm, überfordert zu sein. Sagen Sie das Ihrem Kind in kindgerechter Art. Sagen Sie, dass Sie gerade nicht weiter wissen. Aber bleiben Sie ruhig dabei. Warten Sie, bis der Sturm vorüber ist, und dann finden Sie und das Kind gemeinsam eine Lösung. In einer solchen Situation hat Ihr Kind für das Leben gelernt. Es sieht Ihren ruhigen Umgang mit Emotionen, es sieht, dass man nicht durch bloßes Herumwüten, sondern durch ruhige Gespräche zu einer Lösung kommt. Das Ganze ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen passiert. Es wird viele dieser Situationen geben, aber sie werden besser ablaufen – für Sie und Ihr Kind –, wenn Sie sich nicht von der sozialen Bewertung anderer einschüchtern lassen und diese Ängste auf Ihr Kind übertragen. Lernen Sie zusammen mit Ihrem Kind.
Die Realität nervt auch manchmal: Kinder haben bereits viele Pflichten
Halten wir mal einen Moment inne und machen uns bewusst, wie viel Verantwortung unsere Kinder schon in jungen Jahren tragen. Die meisten von ihnen haben bereits im Alter von vier oder fünf Jahren eine Fünf-Tage-Woche. Sie sind halbtags oder ganztags im Kindergarten und dann später in der Schule und dem Hort. Sie müssen früh aufstehen, sich anziehen und raus in die Kälte. Im Kindergarten müssen sie sich in einer großen Gruppe behaupten, deren Miteinander lautstark ist und nicht immer logischen Regeln folgt. Später in der Schule müssen sie 4-5 h täglich lernen und anschließend Hausaufgaben machen. Diese schulischen Belastungen werden mit zunehmenden Alter immer mehr. Gerade ältere Kinder oder besser Heranwachsende, welche zum Beispiel auf Gymnasien gehen, haben mehr als einen klassischen Acht-Stunden-Tag. Sie haben mehr Schulstunden, manchmal 11-12 h, sie machen im Anschluss Hausaufgaben und pauken am Wochenende für Tests. Das Pensum liegt wesentlich höher als das eines durchschnittlichen Arbeitnehmers.
Und dann auch noch die Selbstentwicklung
Nebenbei sollen sie dann noch die Welt verstehen, die Veränderungen ihres Körpers annehmen und sich überlegen, wo ihre Interessen liegen und was sie später werden wollen. Ach ja, und an ihrer Sozialkompetenz müssen sie auch noch feilen. Denn schlechte Laune an den Tag zu legen, ist ja ebenfalls nicht erwünscht. Nicht nur ein Kind, sondern auch uns Erwachsene nervt diese dauerhafte Überbeanspruchung, oder?
Der Dressur entsagen
Ja, ich sage bewusst »Dressur«. Nicht weil ich mich über andere Eltern erheben will, sondern weil ich weiß, zu welchen Mechanismen man in seiner Verzweiflung greift, wenn man Gefahr läuft zu denken: Mein Kind nervt gerade gehörig! »Wenn du mitkommst, kannst du dir auch etwas zu Naschen aussuchen.« »Wenn du deine Hausaufgaben nicht machst, darfst du heute Abend kein Fernsehen.« In unserer Not versuchen wir, unsere Kinder zu konditionieren, damit der Alltag reibungsloser vonstatten geht. Bis zu einem gewissen Alter mag das funktionieren, doch spätestens etwa ab dem Alter von 12 Jahren ist damit Schluss. Dann entsagt sich der entmündigte Nachwuchs und holt sich seine Rechte zurück. Wir nennen das Pubertät. :)
Würden wir gern in dieser Art manipuliert und fremdbestimmt werden? Natürlich kann man sich mit einer süßen Köstlichkeit belohnen, wenn man sich zum Einkaufen aufgerafft hat. Und natürlich muss man sich auch bewusst machen, dass, wenn man seine Arbeit nicht schafft, man am Abend keinen Feierabend machen kann, weil man Überstunden machen muss. So formuliert klingt es doch gleich viel besser, oder? Viel realistischer und vielmehr aufs Leben vorbereitend. Denn das ist es, was wir Eltern tun: Wir bereiten den Nachwuchs bestmöglich auf das Leben vor. Und das Beste, was wir uns und unseren Kindern schenken können, ist Authentizität. Sagen Sie selbst, dass Sie eigentlich keine Lust auf den Einkauf oder das morgendliche Aufstehen haben und finden Sie Lösungen mit den Kindern, wie man sich überwinden kann. Sie wären überrascht, auf was für kreative Lösungen Kinder kommen. In jedem Fall fühlen sich die Kids eingebunden und gesehen, anstatt dass sie glauben, nicht genügen zu können.
Kinder lernen, die ganze Zeit!
Egal, ob unsere Kinder eine Serie schauen oder den Erwachsenen zuhören, sie lernen die ganze Zeit. Sie lernen etwas über unsere Welt. Sie lernen etwas über die Medien, das soziale Gefüge, die zwischenmenschliche Kommunikation, über Empathie, den Umgang mit Gefühlen etc. Indem sie andere dabei beobachten, lernen sie für sich zu unterscheiden, wie man Dinge besser macht und wie man Dinge eher nicht macht. Sie lernen etwas über den Umgang mit Erfolgen und Misserfolgen. Und so vieles mehr. Achten Sie einmal bewusst darauf, was Ihr Kind gerade tut, und überlegen Sie dabei, was es von der jeweiligen Aktion lernen könnte. Erzählt es Ihnen eine Zusammenfassung seiner Lieblingsserie, übt es im Grunde schon dafür, freie Reden oder Referate zu halten. Es konzentriert sich auf die wesentlichen Punkte der Geschichte und fasst diese für Sie zusammen. Es nimmt einen Perspektivwechsel vor und wägt ab, welche Infos Sie brauchen, weil Sie die Serie ja nicht geschaut haben. Großartig, oder?
Kann ich die Kids vor die Medien setzen, um etwas Ruhe zu haben?
Natürlich sollte es nicht 24/7 sein, dass die Kinder medial konsumieren. Doch was spricht gegen mediale Verschnaufpausen für einen selbst und die Kids? Schließlich war ihr Tag nicht weniger anstrengend als Ihrer.
Wer entscheidet eigentlich, welche Lerninhalte gut oder schlecht für die Kinder sind? Welche Kinderserien sind in Ordnung und welche nicht? Was ist, wenn sich Ihr Kind für eine Serie begeistert, die Sie als Nonsens ansehen? Gar nichts ist dann. Wenn Ihr Kind diese Kinder-Serie liebt, weil alle im Kindergarten sie sehen, lassen Sie es doch einfach diese Serie schauen. Und bewerten Sie die Serie nicht. Oder wie fänden Sie es, wenn man Ihnen die abendliche Unterhaltungs-Show versagen würde?
Natürlich sollen die Kids keine Horrorfilme schauen! Aber sollte es mal durch einen unglücklichen Umstand wie eine Werbung etc. etwas geben, das ihnen Angst macht, so lernen sie auch dadurch etwas. Die Kinder lernen, was ihnen Angst macht. Sie lernen, wie solche Filme entstehen? Denn Sie werden das Ihrem Kind sicherlich erklären. Und die Kids lernen, wie man nun mit dieser Angst umgeht, indem Sie Ihr Kind intuitiv gut und geduldig begleiten. Kochen Sie zum Beispiel gemeinsam mit dem Kind etwas und sprechen sie darüber. Sie nehmen Ihrem Kind nicht nur die Angst, sondern Sie stärken zudem auch seine Selbstkompetenz, indem es spürt, wie es ist, durch eine Aktivität etwas Fundamentales zu erschaffen. Für sich selbst zu sorgen und sein Essen zubereiten zu können.
SOS-Erziehungstipp: Die Familie als gemeinsame Reifeerfahrung
Betrachten Sie Ihre Familie als neues und spannendes Projekt, dessen einzelne Teilnehmer nicht von vornherein bestens qualifiziert sind.
Jesper Juul (dänischer Familientherapeut, 1948-2019)
Wenn in einer schulischen Hausaufgabe steht, dass die Kinder fünf aktive Vulkane Europas nennen sollen und diese googeln sollen, dann ist doch daran eher das Wichtige, das Googeln zu erlernen und nicht die Benennung der Vulkane, die man sich höchstens bis zum nächsten Test merken kann. Oder wie viele aktive Vulkane Europas können Sie auf einen Schlag benennen? Ohne zu googeln, meine ich.
Nehmen Sie ein bisschen den Druck raus für sich und Ihre Kinder. Setzen Sie die Anforderungen, welche an Eltern und Kinder gestellt werden, in neue Relationen. Und gehen Sie achtsam mit sich um. Wir alle sind oftmals überlastet. Wir alle denken hin und wieder: »Hilfe, mein Kind nervt gerade.« Wir alle sind oft froh, wenn nach einem anstrengenden Tag die mediale Unterhaltung folgen kann. In den nächsten Teilen dieser Reihe gehen wir stärker auf Schulkinder ein, auf das Lernen und den Leistungsdruck. Wir geben etwas andere Nicht-Erziehungstipps im Umgang mit den Kindern und geben einen schon fast ketzerischen Ausblick in Bezug auf die zukünftige mediale Welt: Wenn Erziehung scheitert – SOS-Erziehungstipps (2).