Erlösung: Mystik oder Psychose?

Das Verhältnis von außergewöhnlichen Erfahrungen zur psychischen Struktur im Wilber-Combs-Gitter oder -Raster. © Tim Mansfield under cc

Meine These ist, dass wir Verschmelzungen und Einheitserfahrungen brauchen und suchen. Sie sind nicht irgendwelche albernen oder infantilen Reste, die wir leider noch nicht aus der Welt schaffen konnten, sondern es sind wunderbare Erfahrungen, die direkt zum Menschsein gehören und diese sollten wir uns nicht nehmen lassen.

Doch nun gibt es ein Problem: Fast alle Einheitserfahrungen werden subjektiv als angenehm empfunden. Sie stellen die Belohnungen des Alltags das, das Außeralltägliche, das Besondere, nicht selten, um den das Pflichtprogramm irgendwie durchzuhalten. Aber nicht alle Verschmelzungen und Einheitserfahrungen sind auch für die Gesellschaft gut. Sich auserwählt fühlende Terroristen sind davon ebenfalls durchdrungen. Ebenso erzählen Mystiker und Psychotiker Dinge, die sich seltsam ähnlich anhören, so ähnlich, dass man argwöhnte, Mystiker seien einfach Psychotiker oder mindestens irgendwie schwer psychisch erkrankt.

Diese Sicht war eine Zeit in Mode, konnte sich aber nie durchsetzen und starke Gegenargumente brachten Autoren wie der Psychiater und transpersonale Psychologe Stanislav Grof oder der integrale Bewusstseinsforscher Ken Wilber vor. Wilber schreibt, man müsse zwischen prä- und transpersonalen und prä- und transrationalen Erfahrungen sorgsam unterscheiden. Grof verweist auf den Unterschied zwischen spiritueller Krise und Psychose. Über Gesundheiten und Pathologien entscheidet immer die Kultur mit, darauf weist er ebenfalls hin:

„Der Inzest beispielsweise, der in den meisten ethnischen Gruppen verabscheut worden ist, wurde in so hochentwickelten Zivilisationen, wie der der alten Ägypter und der der peruanischen Inkas vergöttlicht. Die Homosexualität, der Exhibitionismus, der Gruppensex und die Prostitution sind in bestimmten Kulturen voll und ganz akzeptiert, ritualisiert oder sakralisiert worden. Während bestimmte ethnische Gruppen wie beispielsweise die Eskimos der Partnertausch praktizierten und andere eine allgemeine Promiskuität guthießen, wurde in anderen der Ehebruch mit dem Tode bestraft. Der strikten Beachtung des Monogamieregel in manchen Gesellschaften lässt sich die Billigung von Vielweiberei und Vielmännerei in anderen gegenüberstellen.

Während manche Gruppen die Nacktheit als etwas Natürliches betrachten und den Geschlechtsakt bzw. die Entleerung von Darm und Blase auch vor den Augen anderer praktizieren, zeigen andere Abscheu vor physiologischen Grundfunktionen und vor Körpergeruch oder bedecken den ganze Körper einschließlich das Gesicht. Sogar Kindermord, Mord, Selbstmord, Menschenopfer, Selbstopferung, Verstümmelung, Selbstverstümmelung oder Kannibalismus waren in machen Kulturen vollkommen akzeptiert und in anderen glorifiziert und ritualisiert. Viele der sogenannten „kulturgebundenen psychiatrischen Syndrome“, sehr ungewöhnliche Formen des Erlebens und Verhaltens, die speziell in bestimmen ethnischen Gruppen zu beobachten sind, lassen sich kaum als Krankheiten im psychiatrischen Sinne interpretieren.“[4]

Über all das könnte und müsste man lange diskutieren. Was nun eindeutig prärational ist, wie zum Beispiel die Unfähigkeit Dinge differenzieren oder bestimmte komplexere Gruppenmerkmale überhaupt erfassen zu können, kann man gut markieren, aber was ist eindeutig trans- oder postrational? Was ist eine höhere Einsicht, eine authentische, spirituelle Erfahrung? Theoretisch ist das schon schwer festzumachen, praktisch ist es aber noch schlimmer.

Der Realitätsverlust gilt als das entscheidende Kriterium der Psychose. Dieser Realitätsverlust bezieht sich weniger auf den Inhalt des Erlebten – davon rückt man immer mehr ab – als viel mehr auf die Fähigkeit einschätzen zu können, wie das was man sagt, wohl auf andere wirkt. In Das Atman-Projekt beschreibt Wilber den Mystiker Ram Dass, der einen Psychiatriepatienten besucht, der glaubt eine Christuserfahrung zu haben. Ram Dass bezeichnet die Empfindung des Patienten als authentisch, aber dieser denkt, einzig und allein er, der Patient, könne diese Erfahrung machen, während Mystiker davon ausgehen, jeder sei in Lage diese Erfahrungen zu machen.

So wurde mit der Zeit die Frage relevant auf welche psychische Struktur eines Menschen eine spirituelle Erfahrung trifft und es entstand das Wilber-Combs-Gitter in dem außergewöhnliche, spirituelle und/oder mystische Bewusstseinszustände in einen Zusammenhang mit dieser inneren Struktur gesetzt werden. Die Kernbotschaft ist, dass man nicht sagen kann, dass spirituelle Erfahrungen generell heilend, großartig oder gefährlich sind, sondern es kommt eben drauf an, welche Erfahrung auf welchen Menschen trifft. Das kann großartig und horizontweiternd sein, aber auch extrem verwirrend und desorganisierend.

So gibt es immer wieder Berichte davon, dass es Mystikerinnen oft gelang ihr Leiden in eine Botschaft Gottes umzuinterpretieren. Nur war auch diese wohlmeinende Deutung schon eine vor dem Hintergrund, dass wir ‚wissen‘, dass es so etwas ja eigentlich nicht geben kann, also kann die private Sinnzuschreibung helfen resilienter zu werden, aber so richtig interessiert haben die Phänomene kaum jemanden, es blieb auf der Ebene, dass jemand im glücklichen Fall so seine private Pathologie bearbeiten kann.

In Wirklichkeit, das glaubte man zu wissen, ist das alles Hirnchemie und elektrochemische Entladung. Nur kommt man mit diesem Ansatz auch nicht weiter. Gemieden wird zumeist der Blick auf die Praktiken selbst und dem was dort berichtet wird, der Blick auf die Innenschau der tatsächlich Praktizierenden. Zugunsten der Sicht der Psychopathologie (Was für ein Krankheitsbild könnte dahinter stecken?), der Soziologie (dass z.B. ein Mensch Gemeinschaftserfahrungen sucht, wenn er zum Beten in die Kirche geht) und der Neurobiologie, die zu erforschen versucht, welche Bereiche des Hirns besonders durchblutet sind, wenn bestimmte Erfahrungen auftreten.

Magische Praxis und magisches Denken

Magisches Denken beschreibt in der Psychologie ein Beziehungsdenken, das man oft bei Psychosen findet. Bestimmte Eigenschaften eines Menschen oder eines Dings werden nahezu in Gesamtheit auf jemanden oder etwas mit ähnlichen Eigenschaften übertragen. Wenn man also einen Dieb mit Schnäuzer kennt, so folgt daraus, dass jeder, der einen Schnäuzer hat, ein Dieb ist. So funktionieren Vorurteile, bis hinein in den Wahn.

Die magische Praxis geht ebenfalls von diesem Denken in Beziehungen und Analogien aus, nur sind diese eben nicht per se pathologisch. Es ist wie eine eigene Sprache, die man erlernen kann und so hat man im besten Fall die uns übliche Sicht auf die Dinge zur Hand und die der analogen Sichtweise. Das ist erst mal kein Nachteil, kann aber, wie jeder Blick aus einer anderen Perspektive auch verwirren. Was stimmt denn jetzt? Das ist die vermutlich häufigste Fragen. Leichter für die Psyche der meisten Menschen ist ein eindeutiges Weltbild, in dem alles klar und widerspruchsfrei ist, selbst um den Preis, dass es sehr eng ist.

Schaut man sich Lehrbücher, die in die magische Praxis einführen wollen tatsächlich mal an, so findet man in der Regel eine interessante Zweiteilung. Magische Systeme arbeiten fast immer in Stufen, die aufeinander aufbauen. Psychologisch überraschend, für die, die sich dort nicht auskennen: Die ersten Stufen der magischen Praxis sind nahezu durchgehend geeignet, die psychische Stabilität zu stärken. Da ist nichts versponnen, es geht um das Training von Achtsamkeit, eine psychische Inventur und Reflexion, um die Stärkung von Regelmäßigkeit, Willenskraft, Ausdauer, Impulskontrolle und Gesundheit durch gute Ernährung und Körperschulung, eine alles in allem blitzsaubere und solide Sache. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, nicht zu hasten und erst zur nächsten Stufe zu gehen, wenn man die vorherige ausreichend beherrscht.

Dann kommt irgendwann der Bruch. Im Grunde ist es gar keiner, sondern ein systematischer Aufbau, aber vieles davon ist kaum zu schaffen – schon auf den unteren Stufen – und will man weiter oben wenigstens reinschnuppern, so befindet man sich plötzlich in sehr sonderbaren Welten. Trainierte man eben noch im eigenen Körper bestimmte Reaktionen auszulösen, also etwa den Arm schwer oder leicht, kalt oder warm (gemäß der Elemente) werden zu lassen, so geht es nun darum das Bewusstsein in Dinge außerhalb des Körpers zu projizieren. Das ist schon eine beträchtliche Hürde, es folgen etliche weitere. Etwa die Kontaktaufnahme mit Wesenheiten aus inneren/anderen Welten. Die Wesen der Elemente, die Wesenheiten, die uns zu Leidenschaften und Suchtverhalten veranlassen, aber auch eine Art Schutzengel.

Interessant deshalb, weil weite Teile der Psychotherapie und auch die Geschichte der Aufklärung den umgekehrten Weg beschreiten. All diese ‚Wesenheiten‘ sind natürlich keine, sondern es handelt sich letzten Endes um Projektionen, also mehr oder weniger (unwissend und unbewusst) selbst produzierte Bilder und Folgerichtigkeiten. Allerdings gibt es gerade in der Psychotherapie auch eine Gegenrichtung. Eine, in der man in Grunde genau das tut, was die Magie tut, nämlich versucht innere Konflikte in Symbole, Bilder oder ein imaginiertes Gegenüber zu projizieren. Das innere Kind, etwas was man der imaginierten toten Mutter noch sagen will oder Worte, gerichtet an einen früheren Peiniger, aber auch seiner Angst, Trauer oder Wut kann man eine Gestalt geben um so mit ihr in einen Dialog zu kommen, sie zu bearbeiten, sie gleichzeitig aber auch auf Distanz zu halten. Allerdings vor dem Hintergrund der gemeinschaftlich sich versicherten Überzeugung, dass dies alles nur ein Spiel mit Bildern ist, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.

Sehr ähnlich geht die Magie vor. Grob gesagt, ist der dortige Ansatz der, dass das was der Magier beherrscht, zukünftig auch von ihm delegiert werden kann, an dienstbare Geister. Ziel ist also Herr über die Wesenheiten zu werden und sich nicht von ihnen beherrschen zu lassen. Mindestens die hohe Schule in Beharrlichkeit und Impulskontrolle wird dazu benötigt. Allerdings mit dem Unterschied, dass man die Bilder hier sehr ernst nimmt und mehr oder weniger glaubt, dass sie reale Wesenheiten sind. Für die Praxis macht das keinen großen Unterschied, außer dass bei dem magischen Weltbild, das hier gar nicht pathologisch sein muss, die Gefahr einer paranoiden Haltung größer ist. Denn sich überall von Wesenheiten umgeben zu fühlen, das ist schon nicht ohne. Man kann sich dadurch auch sehr behütet und geborgen fühlen, aber eine paranoide Regression ist eben auch möglich.