Die Bedeutung sozialer Rollen und Perspektiven

Rennwagen mit Team in Zerrspiegel

Eine Aussicht zu haben, ist von immenser Bedeutung. © joanneum racing graz under cc

Wenn man von sozialen Rollen spricht, dann klingt das meist etwas abstrakt und wenig griffig. Soziale Rollen sind aber genau das, was man als Möglichkeit oder Perspektive angeboten bekommt, was einem vielleicht selbst deshalb gar nicht so auffällt, weil wir sie im Überfluss kennen und haben. Wir waren sogar manchmal möglicherweise etwas genervt davon, wenn wir als Kind gefragt wurden, was wir denn mal werden wollen, wenn wir groß sind oder wenn andere uns Angebote machten und sagten, was wir denn machen könnten und wir das vielleicht lieber selbst entscheiden wollten.

All das zeigt: Angebote, Perspektiven und Rollen gibt es bei uns im Übermaß. Ein Luxus, von dem wir oft gar nichts wissen, weil er so normal ist. Doch auch im eigenen Land können wir sehen, dass das nicht immer so ist: beim abgehängten Prekariat. Gemeint ist das sozial abgehängte Prekariat. Arm, ungebildet und ausgestoßen. Ohne Lobby, niemand will näher etwas mit ihnen zu tun haben, auch sie sind im Grunde nicht erwünscht und fühlen sich auch so. Doch anders als man oft hört, sind das keine AfD Wähler, sondern überwiegend wählen diese Menschen gar nicht mehr und haben längst begriffen, dass auch sie nichts mehr zu verlieren und vor allem nichts zu gewinnen haben. Es sind keineswegs nur ein paar Frustrierte aus der ostdeutschen Provinz, auch im Ruhrgebiet, Bremerhaven, Berlin und Köln gibt es ähnlich sozial schwache Regionen in städtischem Milieu.

Die Menschen, die nach Deutschland als dem Synonym für eine Perspektive, für eine ganz andere, bessere Welt kommen, sind oft jene, die in ihren Heimatländern gar nicht mal in allen Fällen eine desolate Situation vorfinden, nur eben eine extrem perspektivlose. Die Gesellschaften dort sind deutlich jünger, das heißt auch kinderreicher, eine Perspektive hat der Familienälteste, die nachgeborenen Söhne schon nicht mehr. Entehrend, gerade für patriarchale Gesellschaften. Auch dort gibt es vor allem eines nicht: Eine soziale Rolle, etwas, was man tun könnte. Etwas, wofür man Anerkennung bekommt, Lob und nicht das schäbige Gefühl, dass es eigentlich vollkommen egal ist, ob man lebt, oder nicht. Hunger und Armut sind oft nicht das Problem, der Mangel an Möglichkeiten sein Leben zu leben und dafür Anerkennung zu finden. Wie bei uns im öden Osten oder tief im Westen. Auch bei uns wird keiner verhungern oder erfrieren, zerstörerisch ist das Gefühl des an sich Überflüssigseins. Es ist unendlich traurig, frustrierend und in einigen Fällen führt es zur Wut.

Das verbindende Band

Gemeint ist das Band zwischen die sozial Überzähligen hier, wie da. Oft kennen sie dieses Gefühl aus den eignen Familien: die Mischung aus geringer Wertschätzung, mangelndem Zusammenhalt, Broken Home. Eine Mutter und noch öfter ein Vater, den man nicht kennt, von dem man ahnen muss, dass er sich nicht interessiert, wen er da in die Welt gesetzt hat. Alkohol, Gewalt, Ungerechtigkeit, Missachtung jedweder Interessen und Bedürfnissen der Kinder und der Familienmitglieder unter einander.

Vielleicht hat man wirklich Krieg und Traumatisierungen erlebt, vielleicht ist man aber auch einfach das 11. von 17 Kindern, einer normalarmen Familie. Es sind statistisch besonders häufig die jungen Männer, die zu uns kommen, siehe hier und hier. Sie sind es, die auch den Mut und die Energie aufbringen, denen die Familie vielleicht auch etwas zutraut. Und es ist die Gruppe vom Menschen, die überall auf der Welt Probleme bereitet.

Christian Pfeiffer in einem Interview aus dem Mai 2016:

„Wir importieren Menschen und keine Kriminalität. Aber es gibt ein Problem mit einer importierten Machokultur. Die Mehrzahl der Flüchtlinge kommt aus Chaosländern, in denen Männer dominieren. Diktaturen sind immer Machokulturen. Und: Migration führt immer erst mal zu einer machobedingten Kriminalität. Das ist das Schicksal jedes Einwanderungslandes. Das ist  überall so, auch in den USA und Kanada.“

„Ja, das wird eine große Aufgabe, die jungen Kerle von den gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen abzubringen. Geflohen zu sein, heißt ja nicht, auch die eigene Kultur verloren zu haben. Die Kultur legt man nicht ab wie ein Kleidungsstück. Das wird ein richtig spannendes soziales Experiment in den nächsten Jahren.“[13]

Es sind jene überzähligen jungen Männer, die der Gewaltforscher Gunnar Heinsohn meint, wenn er vom Youth Bulge spricht, Menschen, die einfach etwas erleben wollen. Es sind die jungen Männer vor denen man überall auf der Welt, auch bei uns, achselzuckend steht und denen man sagt: „Wir brauchen dich eigentlich nicht.“ Schon wenn es bei uns im Leben an sich gut läuft, ist für viele das Gefühl der Kälte und des Desinteresses schwer zu ertragen. Viele Mitarbeiter würden eher auf mehr Lohn verzichten, wenn sie nur mal von ihrem Chef (ehrlich) gelobt würden und sie das Gefühl hätten, ihre Arbeit würde überhaupt erst mal wahrgenommen und dann auch noch gewertschätzt. Anerkennung ist uns allen wichtig.

Es sind die jungen Männer, die Andreas Marneros im Blick hat, wenn er, der oft rechtsextreme Intensivtäter psychologisch begutachtet hat und über die er resümierend schreibt:

„Was machen wir also mit den Tätern von Axel bis Zoran? Wir haben nicht nur ihre Verbrechen, sondern auch ihr persönliches Elend kennen gelernt. Wir haben erkannt, dass sie zu den Schwachen, sehr Schwachen der Gesellschaft gehören. Auch, wenn ihre Schwäche sich zu Grausamkeit gewandelt hat. Wir haben gesehen, dass sie zu den Eingeschränkten gehören. Auch wenn ihre Eingeschränktheit tödliche Folgen haben kann. Wir haben die persönlichen Tragödien und das persönliche Elend der rechtsextremistischen Gewalttäter gesehen.

Die meisten von ihnen sind fast noch Kinder. Ihr Leben hat kaum begonnen, da ist es schon zerstört, da haben sie schon anderes Leben zerstört.

Was soll mit ihnen geschehen? Bestrafen oder therapieren?

Diese Frage ist bei solchen Gewalttätern in der Regel nicht alternativ zu stellen, unabhängig davon, was sie gemacht haben oder wem sie geschadet haben.“[14]

Wir stellen die Frage danach, was zu tun ist, noch einen Augenblick zurück.

Die Rolle der Gewalt in Gesellschaft und Subkultur

Ich habe schon lange den Eindruck, dass die Rolle der Gewalt in der Gesellschaft oft eigenartig unterschätzt oder klein geredet wird. Wenn man vergleicht wie das Strafmaß ausfällt, wenn ein Mensch ins Krankenhaus geprügelt wird, im Vergleich zu anderen Delikten, dann wundere ich mich manchmal. Ebenso bei psychisch oft hoch belastenden Situationen wie Mobbing und Stalking, Erpressung mit der Androhung von Gewalt. Aber wo noch nichts vorgefallen ist, kann man eben auch noch nichts machen und der geschickte Täter weiß oft, wie er vorgehen muss, damit sein Opfer maximal eingeschüchtert ist, aber strafrechtlich oder polizeitechnisch nichts passiert.

Doch auch die Angst von Menschen, in einigen Regionen, sich nicht mehr frei auf der Straße der eigenen Stadt bewegen zu können, ist ein im Grunde verheerendes Signal. Umso mehr, wenn auch hier die Ohnmacht der Staatsgewalt offensichtlich wird. Regionen, in die die Polizei sich selbst nicht mehr traut, „Stammkunden“, die verhaftet werden gleich am nächsten Tag wieder draußen sind. Der alltägliche Horror, den manche Kinder auf dem Schulhof erleben, von dem oft gar nicht klar ist, was er anrichten kann. Gewalt gegen andere Menschen, sollte ein großes gesellschaftliches Tabu sein, aber das ist oft nicht der Fall.

Das Gewaltmonopol liegt beim Staat und der darf sich das Heft hier nicht aus der Hand nehmen lassen. Subkulturen hat es immer gegeben und sie sind auch in den repressivsten Staaten präsent. Stalins Sowjet-Diktatur kam dem Negativideal eines paranoiden Überwachungsstaates nahe und inmitten dieser Strukturen mit Gulags, Massentötungen und Willkürverhaftungen organisierten sich die Diebe im Gesetz, als ein loser Verbund krimineller Organisationen, mit eigenen Kodizes. Aber was ist Kriminalität in einem Land, in dem flächenddeckender Terror von Staat ausgeht?

Subkulturelle Organisationen, in denen Gewalt eine Rolle spielt sind oft gut organisiert und agieren in bestimmten abgegrenzten Zirkeln, häufig regional begrenzt und bedingt, manchmal auf die Branchen bezogen. Bisweilen expandieren die kriminellen Organisationen über ihre angestammten Regionen oder einige Branchen fusionieren, wie das Waffen-, Rotlicht- und Drogenmilieu. Da die Grenzen und Regeln hier oft klar sind, haben diese Subkulkulturen ohne es zu wollen, einen regulierenden Einfluss auf Gewalt, man respektiert bestimmte Terrains oder Regeln, auch wenn viele Geschichten der ehrenwerten Gesellschaften Legende sind. Da sich Organisationsstrukturen ausdifferenzieren, ist so mancher gesellschaftlche Raum vielleicht rechtsfrei, aber nicht unreguliert. Das Organisationsprinzip krimineller Vereinigungen, was gut funktioniert ist eines, was aus zwei Elementen besteht und diese sind durchaus attraktiv. Wir müssen verstehen, warum sie für einige Menschen attraktiv sind und was genau ihre Attraktivität ausmacht. (Ausführlich auch: Was macht den Extremismus attraktiv?)

Der Mythos von Ehre und Kameradschaft ist ein für viele Männer attraktives Angebot. Viele subkulturelle Organisationen drehen den Spieß und die Regeln der Gesellschaft einfach um und postwendend wird das, was eben noch Schwäche war, zur Stärke. Man hat seine Aggressionen nicht im Griff, gehört einer ausgegrenzten Minderheit an? Kein Problem, willkommen im Club. Wo man sonst auf versteckte bis offene Ablehnung stößt wird aus dem vermeintlichen Makel im Handumdrehen eine Qualität gemacht. Man ist sofort ein Bruder, wird herzlich empfangen, kurz gesagt, man erlebt eine Offenheit und ein Willkommen, was man vielleicht noch nie im Leben erlebte. Alles, was man vermisste, hier ist es zu finden: Man wird angenommen, respektiert, nicht obwohl, sondern oft weil man ist, wie man ist, doch oft sichern sich diese Organisationen noch ein weiteres Mal ab. Bei kriminelle Organisationen gilt häufig das Prinzip mitgefangen, mitgehangen, sprich: Man wird schnell in kriminelle Aktivitäten eingeführt, damit gesichert ist, dass man selbst Dreck am Stecken hat und nicht einfach geht und ausplaudert, was man gesehen hat. Anders gesagt, man gehört nun dazu, ist allerdings auch erpressbar.

Das Prinzip dahinter ist jedoch interessant. Man stellt soziale Rollen zur Verfügung, die es für diese Menschen in der Gesellschaft oft nicht gibt und man errichtet oft gewisse Hürden, für den Beitritt in die Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft die jeden aufnimmt, ist nicht sonderlich attraktiv, weil buchstäblich nichts dazugehört, dazuzugehören. Hürden, Initiationsriten machen diese Organisationen attraktiver als andere, ähnliche, mit geringeren oder gar keinen Hürden. Dies sollten wir im Hinterkopf behalten, wenn wir nun versuchen, die Frage zu beantworten, ob man überhaupt etwas gegen Intensivtäter machen kann und was das sein könnte.

Was kann man tun?

Andreas Marneros, Professor für Klinische Psychiatrie, mit Schwerpunkten in der Erforschung von Gewalttaten, schrieb, dass Strafe oder Therapie keine Alternative sein, sondern ergänzend gedacht werden müssen. Richtig, und man kann noch mehr ergänzen und muss das vermutlich auch tun.

In dem einen Segment können und müssen die Vertreter des Staates, Strafverfolgung und Justiz tätig werden, sowie die Spezialisten aus dem Bereich von Psychologie und Soziologie, die sich mit diesen Themenfeldern beschäftigen. Wir alle können etwas tun. Doch zunächst zu den Spezialisten.