Narzissmus gerät zunehmend in den gesellschaftlichen Fokus. Menschen scheinen mehr und mehr auf sich orientiert zu sein, stellen die eigenen Belange vor denen der anderen und haben Schwierigkeiten, sich auf andere einzulassen. So jedenfalls die Annahme. Es stellt sich die Frage, ob wir narzisstischer werden und ob das Konstrukt Narzissmus überdacht werden sollte.
Werden wir narzisstischer? Ost vs. West
Eine interessante Studie dazu, bislang noch unveröffentlicht, wurde von dem Psychiater Stefan Röpke und der Psychologin Aline Vater von der Charité durchgeführt (Charité, 2017; Universität Potsdam, 2015). Erste Ergebnisse wurden auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (2016) vorgestellt (Radioeins, 2017; Schulze, 2017).
Wie sich in der Studie zeigte, scheinen Menschen, die in Westdeutschland aufgewachsen sind, höhere Narzissmus-Werte zu haben als Menschen, die in Ostdeutschland aufwuchsen. Dieser Unterschied in den Narzissmus-Werten scheint sich allerdings anzugleichen, je jünger die Teilnehmer sind und sobald ein Großteil der Kindheit nach der Wiedervereinigung Deutschlands stattgefunden hat (Radioeins, 2017; Schulze, 2017). Für jüngere Generationen gelten annähernd gleich hohe Narzissmus-Werte, unabhängig davon ob sie in West- oder Ostdeutschland aufgewachsen sind.
Kultureller Kontext
Der kulturelle Kontext einer individualistischen versus einer kollektivistischen Kultur könnte hierbei durchaus eine Rolle spielen. Ist die Gemeinschaft eher von Zusammenhalt gekennzeichnet, wären narzisstische Tendenzen in der Persönlichkeit eher unwahrscheinlich, da man mit diesen Tendenzen in einer solchen Gemeinschaft nicht angesehen ist. Bei einer Gesellschaft, die auf das eigene Vorankommen und Wettbewerb orientiert ist, könnte ein größerer Fokus auf sich selbst verstärkt werden.
Verschiebt sich die Auffassung, von dem, was als krankhaft gilt?
Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist in den psychiatrischen Klassifikationssystemen aufgeführt. Sollten sich die Forschungsergebnisse von Röpke und Vater untermauern lassen, müssten einige zusätzliche Debatten auf medizinisch-psychologischer, aber auch philosophischer Ebene angestoßen werden.
Narzissmus: Ab wann ist er krankhaft?
Was gilt als abnorm? Und was ist normal? Würde man als Grundlage die Häufigkeitsverteilung eines Merkmals in der Gesellschaft nehmen, käme es unter der Annahme, dass wir narzisstischer werden, zu einer Verschiebung (siehe Abbildung). Denn sollte die Mehrheit der Menschen diese narzisstischen Tendenzen aufweisen, würden diese somit zur Normalität werden. Narzissmus wäre dann nicht mehr selten oder unnormal, sondern gängig. Der pathologische Narzissmus-Begriff müsste überdacht werden und womöglich eine stärkere Differenzierung der psychiatrischen Klassifikationskriterien erfolgen.
Aber: Normal ist nicht automatisch gut!
Bezieht man die aktuelle Definition einer psychiatrischen Störung mit ein, kommt ein weiterer Aspekt in der Debatte hinzu, der philosophischer Natur ist. Die gegenwärtige Definition einer psychiatrischen Störung sieht vor, dass individueller Leidensdruck und eine empfundene Einschränkung im persönlichen Leben mit den auftretenden Symptomen einhergeht. Zudem wird mit einbezogen, ob das Umfeld des Betroffenen durch die Symptome Leiden erfährt.
Inwiefern verursacht eine stärkere Ich-Zentrierung soziales beziehungsweise gesellschaftliches Leiden? Fragt man allen voran die Kinder und die sozial schwächer Gestellten. Aber auch körperlich oder geistig beeinträchtigte Personen. Was ist mit ihnen, wenn sich jeder vorrangig auf sich selbst konzentriert?
Alles halb so wild?!
Der Gegentrend folgt auf dem Fuße. Empathie und soziales Engagement erfahren stärkere Aufmerksamkeit. Betrachtete man vor einigen Jahren Organisationen wie „Greenpeace“ und „Peta“ eher als rebellische Randgruppen, werden sie heutzutage als allgemein anerkannte und von der Gesellschaft unterstützte Organisationen angesehen.
Ein gesundes Gleichgewicht scheint der richtige Maßstab zu sein: Konzentration auf sich selbst, ohne dabei die anderen aus den Augen zu verlieren. Kollektivismus und Individualismus können einander ergänzen und sich gegenseitig stützen. Sollten wir narzisstischer sein als frühere Generationen, wäre eine Bewusstmachung dessen notwendig, dass kein soziales Individuum überleben kann, ohne Teil einer Gemeinschaft zu sein. Gerade in diesen Zeiten, in denen die Menschheit vor komplexen Problemen wie Klimaerwärmung und Computerisierung steht, sind Teamarbeit sowie Wissensteilung unumgänglich.
Bei Schimpansen siegt die Empathie
Primatenforscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie aus Leipzig haben herausgefunden, dass Schimpansenmännchen von den Weibchen bevorzugt werden, wenn sie regelmäßig ihr Fleisch mit ihnen teilen. Geizige Schimpansenmännchen haben dagegen einen Fortpflanzungsnachteil (Max-Planck-Gesellschaft, 2009).
Schlechtere Fortpflanzungsmöglichkeiten? Eine immer älter werdende Gesellschaft, die nach sozialer Unterstützung dürstet? Weniger Teamwork zur Erarbeitung von Innovationen zur „Rettung“ der Welt? Welchen Vorteil würde es uns demnach verschaffen, dass wir narzisstischer werden? Wie es scheint, wird letztendlich – hoffentlich – Empathie siegen.