Nachdem wir im ersten Teil der Artikelreihe aufgemacht haben, wie Co-Abhängigkeit sich definiert und durch welche Ursachen man zu co-abhängigen Beziehungsmustern kommen kann, möchten wir im zweiten Teil einige Merkmale gruppieren, die verschiedene Bereiche des Lebens betreffen und bezüglich der Denk- und Verhaltensstrukturen für Co-Abhängigkeit in Beziehungen stehen könnten.
Co-Abhängigkeit in Beziehungen: Kognition und Emotion
In Anlehnung an das Buch der Schriftstellerin und Expertin der Co-Abhängigkeits-Selbsthilfe-Bewegung Melody Beattie Die Sucht, gebraucht zu werden (ab S. 54) gehen wir zunächst auf einige Punkte ein, welche das Fühlen und Denken von Co-Abhängigen in Beziehungen betreffen können.
Sorgenvoller Gedankenkreisel um den anderen
- mehr um das Leben, Wohlergehen, die Gefühlswelt, das Verhalten des Partners gedanklich kreiseln als um das eigene Leben
- beinahe zwanghaftes Grübeln über Probleme des anderen
- das Gefühl, erst wieder Ruhe finden zu können, wenn der »Ausnahmezustand« (wie ihn der problembehaftete Partner häufiger hat) aus der Welt geschafft ist; wollen, dass alles wieder »harmonisch« ist
- zugrundeliegende Überzeugung, das Verhalten und die Gedanken von anderen vorhersagen zu können
- Glaube, am besten zu wissen, wie andere sich verhalten sollten; benehmen sich richtend und kontrollierend
- sich regelrecht von der Bedürftigkeit anderer angezogen fühlen
- nicht erkennen beziehungsweise verdrängen der eigenen Probleme; sich über die Substanz der eigenen Probleme im Unklaren sein
- Fokus auf das eigene Leben schwindet mehr und mehr, sobald man eine Beziehung eingeht
Überfürsorglichkeit wird mit Liebe verwechselt
- verwechseln von Schmerz, Überfürsorge und Kontrolle mit Liebe und Zuneigung
- starke emotionale Einbindung in die Probleme des anderen, begleitet von übermäßiger Betroffenheit, Wut, Enttäuschung, Angst, Trauer – manchmal mehr, als wenn es das eigene Leben beträfe
- selbst bei verhältnismäßig kleinen Problemen übertriebenes Sorgen machen und Versteigen in Ängsten
- sich schuldig fühlen, wenn andere Probleme haben
- sich in übereifrigem Maße dazu veranlasst sehen, bei der Lösung des Problems des anderen behilflich zu sein
- Vernachlässigen der eigenen Pflichten, wenn man sich um die Probleme des anderen kümmert
- verantwortlich fühlen für das Leben des anderen
- Enttäuschung spüren und sich nicht ausreichend gewürdigt fühlen, wenn ihre Hilfe/Ratschläge nicht anerkannt werden bzw. nicht fruchten
- Enttäuschung spüren, wenn der andere sich nicht im gleichen Maße verantwortlich für sie fühlt
- eigene Wünsche und Bedürfnisse stellen sie hintenan
- bricht man es herunter: leben sie durch andere
Co-Abhängigkeit in Beziehungen: Ich-Gefühl
Die Sicht auf sich selbst und die empfundene Wertigkeit des eigenen Lebens wird ebenfalls durch die toxische Kindheitsprägung der Co-Abhängigkeit beeinflusst.
Schwaches Ich-Gefühl
- niedriges Selbstwertgefühl; tiefsitzende Überzeugung, nicht gut genug zu sein
- beständiges, indirektes Suchen nach Beweisen, die ihnen versichern, wertig zu sein
- Verleugnung der (zumeist desolaten) Beziehungs- und Familienverhältnisse vor sich selbst und anderen
- neigen zur Verstellung, schlüpfen in Rollen, um ihr Selbstbild oder die Fassade einer schadhaften Beziehung aufrechtzuerhalten
- schwer mit Komplimenten umgehen können
- sich selbst Vorwürfe für alles Mögliche machen
- sich selbst die Schuld geben für alles Mögliche
- Neigung zu Perfektionsstreben
- Angst, so zu sein, wie sie sind; Angst vor Ablehnung
- wirken streng und beherrscht
- vertrauen weder sich, noch anderen, noch dem Leben
- vertreten kaum klare Überzeugungen; sagen nicht direkt, was sie meinen; stehen nicht zu Gesagtem; verstricken sich in Andeutungen
- haben im Laufe ihres Lebens gelernt, sich anzupassen, unterzuordnen und mit nahezu jeglichem Umstand leben zu können
Negative Einstellung zum eigenen Leben
- empfinden eigenes Leben für weniger lebenswert
- Glaube, dass ihnen nie Gutes widerfahren ist und auch nicht zukünftig wird
- keine innere Zufriedenheit
- kein Wissen darüber, wie sie in ihrem Leben oder in ihrem Inneren nach der Zufriedenheit suchen sollen
Co-Abhängigkeit in Beziehungen: Verhalten
Auch die Verhaltensebene wird von der Co-Abhängigkeit in Beziehungen beeinflusst. Oftmals fragen sich Menschen, die zu emotional abhängigen Beziehungsmustern neigen, wer sie eigentlich sind und warum sie sich überhaupt so verhalten. Sie erkennen sich gar nicht wieder und wollen eigentlich auch nicht ein solches Verhalten an den Tag legen.
Schadhaftes Verhalten
- nach einer Trennung regelrecht in eine neue Beziehung stürzen und sich darin aufopfern
- verhältnismäßig viel weinen
- Gefahr zu Antriebslosigkeit und Depressionen, aber auch zu Aggressionen und kompensatorischem Verhalten wie Drogen- und Medikamentenmissbrauch
- Vernachlässigung der eigenen Kinder bei zu starker Konzentration auf den Partner
- fast märtyrerhafte Bereitschaft, ihr Glück und das Glück anderer zu opfern, ohne dass ein Opfer überhaupt nötig wäre
- weil durch die Verantwortungsübernahme von anderen das eigene Leben aus dem Fokus ist, alle Hoffnung in Bezug auf sich selbst verlieren und eventuell sogar an Suizid denken
- verspüren Angst vor ihrer eigenen Frustration und unkontrollierten Gefühlsausbrüchen, z.B. Wutausbrüche, ungerechte Verhaltensweisen, auch den Kindern gegenüber
Vermeiden Grenzen setzen
- wissen nicht, wo ihre eigenen Grenzen liegen, weil sie in der Kindheit nie gelernt haben, eigene Grenzen zu setzen bzw. diese nicht respektiert wurden
- beim Versuch, das Verhalten von anderen zu kontrollieren, leere Drohungen ausstoßen
- wenn Grenzen gesetzt werden, werden diese nach und nach wieder aufgeweicht
- Aushalten negativer Gefühle und das Einfordern von respektvollem Verhalten fällt schwer
- haben Angst davor, nicht geliebt zu werden, wenn sie Grenzen setzen und zu Bedürfnissen stehen
Ungesunde Sexualität
- durch negative Verhaltensmuster des Partners schwindet bei Co-Abhängigen das Verlangen nach ihm, Sexualität reduziert sich auf technischen Akt
- Abneigung gegen Partner verspüren aufgrund seines schädlichen Verhaltens
- manches Mal mit ihm schlafen um »des lieben Friedens willen«
- Interesse an Sexualität verlieren, befürchten frigide zu sein
- Flucht in Fantasien über Sex mit anderen bzw. außereheliche Affären
Dies ist zumeist ein Punkt, an welchem die toxischen Beziehungen aufbrechen. Oftmals übernehmen Co-Abhängige dann jedoch die Verantwortlichkeiten des neuen (häufig ebenfalls wieder stark bedürftigen) Partners. Der Kreislauf startet von Neuem.
Aber: Co-Abhängigkeit in Beziehungen ist veränderbar
Liest man die einzelnen Punkte, können diese erschreckend wirken. Oder verurteilend. Das sind sie aber keineswegs. Ein Großteil der Menschen, zuvorderst Frauen, neigt zu co-abhängigen Beziehungsmustern. Jenes ist durch die gesellschaftliche Prägung, die soziale Rollennormung sowie durch die zunehmenden narzisstischen und Suchtkranken-Tendenzen in der Gesellschaft bedingt.
Co-Abhängige: Dahinter steht ein starkes Ich
Hinter Co-Abhängigkeit steht ein starkes Ich, das verschütt gegangen ist. Im Grunde sind Co-Abhängige eigentlich oftmals viel stärker als ihre jeweiligen Partner. Aus dieser Stärke heraus haben sie einst in der Kindheit die Verantwortung für andere übernommen. Verantwortung, die andere nur allzu gerne an sie abgetreten haben – ungerechtfertigter Weise, denn schlussendlich gilt: Jeder muss Verantwortung für sich selbst tragen.
Das starke Ich bei Co-Abhängigen muss wieder hervorgebracht werden, indem man sich von den früher getriggerten Schuldgefühlen löst und den Mut und die Selbstverständlichkeit findet, sich um sich selbst zu kümmern.
Die Checkliste für Co-Abhängigkeit in Beziehungen ist selbstredend nicht erschöpfend und nicht alle Punkte müssen für jeden zutreffen. Wichtig ist, ein Gespür dafür zu bekommen, warum man sich so unzureichend fühlt und woran das liegen könnte. Als weiterführende Literatur wird Melody Beatties Die Sucht, gebraucht zu werden empfohlen. Alles Gute von Herzen!