Zwei Männer mit Helm und Sportdress beim Hindernislauf

Heute wirkt vieles beschwerlich und voller Hindernisse und das mitten im Alltag. © BFK Vöcklabruck under cc

Für viele Menschen ist der Alltag eine Art Slalomlauf geworden bei dem sie sich fragen, wie gesellschaftliche richtiges Verhalten heute noch klappen soll.

Fettnäpfchen, Stolperfallen und Vorwürfe, die Liste ist lang

Die Gesellschaft ist in einem ständigen Wandel, das zeichnet sie aus. War in den 1960ern das Tragen langer Haare schon eine Provokation, musste man sie sich 10 Jahre später schon Färben und eine Sicherheitsnadel durch die Haut stechen um aufzufallen, heute sind dezente Piercings und Tattoos gesellschaftlich etabliert.

Protest war lange Zeit automatisch links, etwa ab den 2000ern wanderte er schleichend ins rechtere Lager, weil wenigstens die Lifestylelinke mehr und mehr zum neuen Standard wurde. An sich ist es schön auch Minderheiten, Randgruppen und Marginalisierten eine Stimme zu geben und auf ihre Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, aber mit jeder neuen Gruppe, die diesen Anspruch reklamierte, wurde die Konkurrenz um Aufmerksamkeit untereinander immer größer und es ist keineswegs so, dass sich die zu wenig beachteten Gruppen untereinander alle grün sind und unterstützen.

Ebenso fraglich ist, ob der von den jeweiligen Gruppen apostrophierte Mainstream wirklich so homogen in seiner Einstellung ist, wie behauptet, man darf oft bezweifeln, dass er überhaupt noch existiert. Auch eine 80% Zustimmung der Bevölkerung in einer bestimmten Fragen, kann auf völlig unterschiedlichen grundsätzlichen Einstellungen beruhen.

So stolpert nicht nur der schwindende Mainstream durchs soziale Dickicht und versteht oft die Welt nicht mehr, für Randgruppen gilt das zuweilen auch. Wer arm ist und schauen muss, wie er mit dem wenigen Geld durch den Monat kommt und befürchtet demnächst zu hungern und zu frieren, wird Diskurse über Rassismus in Brettspielen oder gendergerechte Sprachregelungen, wenn überhaupt, dann eher kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen.

Der Fridays for Future Bewegung wird vorgeworfen, dass sie überwiegend aus gut gebildeten jungen Menschen der oberen Mittelschicht besteht. Wobei das nicht automatisch heißt, dass sie andere Probleme nicht sehen würden, sie gewichten sie nur anders. Manchmal hat man den Eindruck, dass vermeintliche Nachteile von ehedem zu einer Art neuen Auszeichnung geworden ist: ‚Ich bin hypersensibel und laktoseintolerant.‘

Überempfindlich oder unsensibel?

So wird den einen Überempfindlichkeit und den anderen Unsensibilität oder Empathiemangel vorgeworfen, ein unschönes Ping Pong Spiel, aber wie könnte eine Position oder ein Verhalten aussehen, von dem man begründet behaupten kann, es sei richtig und nicht einfach nicht eine weitere Meinung, zuzüglich der vielen, dies es bereits gibt?

Zwei Größen scheinen mir diskutabel und gut begründbar:

Wer Verständnis für sich einfordert, sollte sie auch anderen zukommen lassen

Oder auch Symmetrie genannt, eine der Hauptforderungen der Ethik. Wenn ich Rücksicht und Aufmerksamkeit für meine Gedanken einfordere, sollte ich dasselbe dem Anliegen anderer zukommen lassen. Das heißt aber nicht – ein wichtiger Punkt –, dass man sein eigenes Anliegen großherzig anderen überstülpt. Wer das Recht des Stärkeren oder maximalen Umweltschutz für sich reklamiert, wird immer sagen, der andere könne das gerne auch so handhaben, aber es geht darum die Art und Weise des anderen zu sehen und so gut es geht, zu respektieren.

Man darf erwarten, dass andere die eigene Position wenigstens versuchen zur Kenntnis zu nehmen, aber Aufmerksamkeit und Wohlwollen kann stets nur ein Spiel auf Wechselseitigkeit sein. Daher sollte man sich zumindest nicht wundern, dass, wenn man seine Position als die einzig wichtige ansieht, man immer mehr an Aufmerksamkeit verliert. Eigentlich eine Grundbedingung des Diskurses, die Haltung des anderen verstehen zu wollen, aber diese Selbstverständlichkeit ist heute leider hier und da verloren gegangen.

Die Umgebung allein nach einem Merkmal scannen

Vielleicht ist dieser Punkt noch wichtiger. Um Strukturen der Diskriminierung aufzudecken und darzustellen, muss man sie erkennen, benennen und präsentieren, so gut und genau, wie es geht. Dass man alles genau aus dieser einen Perspektive betrachtet, gehört in gewisser Weise dazu, für Aktivisten und Fachleute.

Der Preis dieser Sicht ist eine Verzerrung der Wahrnehmung, die Déformation professionnelle, die man durch Reflexion wieder zurechtrücken kann. Tut man das nicht, sieht man überall auf der Welt nur noch Rassismus, Umweltzerstörung, sexuelle Diskriminierung oder schlecht gestaltete Innenstädte oder was eben gerade das eigene Thema ist. Richtiges Verhalten heute heißt aus dieser Sicht, dass alle mein Thema gleichermaßen bedeutsam finden.

Man sollte sich selbst ein wenig davor schützen, dass das eigene Leben zu monothematisch wird. So wichtig einem das eigene Thema ist, so klar sollte werden, dass anderen Menschen ihr dominantes Thema ebenso wichtig ist. Das kann nun zu einem Gerangel führen, wer wirklich wichtiger ist oder zur Kooperation. Kooperation ist besser, weil sie zu Synergieeffekten führt und man einfach mehr Menschen bewegen kann. Wenn man für sein Thema brennt, kann das ungeheuer motivieren, nur brennt eben nicht jeder gleichermaßen dafür. Hier agiert man dann oft mit immer mehr Nachdruck, um die Wichtigkeit der eigenen Sicht zu betonen, aber die Bedeutung des eigenen Themas im Leben anderer kann ganz anders gewichtet sein, selbst bei denen, die ihm durchaus Bedeutung zumessen.

Wenn aus Opfern Täter werden

Gelingt die Reflexion und Anerkennung, kann man ein guter Anwalt in der Sache werden, die einem wichtig ist, aber das Thema auch wieder loslassen und einordnen, doch nicht allen gelingt das und manchmal schießen sie dann übers Ziel hinaus. Schwierig für alle wird es, wenn sich reale Opfer oder Menschen, die sich als solche fühlen, mit dem Recht ausgestattet sehen, dass alle anderen ihr erlittenes Leid nun wieder gut zu machen hätten.

Oder, wenn erzählt wird, bestimmte Menschen könnten immer nur Täter sein, ob ihnen das jetzt bewusst sei oder nicht, weil sie eben aus ihrer Haut niemals raus können. Das ist eine Absage an die prinzipielle Fähigkeit zur Empathie, zirkulär argumentiert und macht aus Opfern Täter. Menschen können zweifellos empathisch sein, nur nicht zu gleichen Teilen allen Anliegen maximale Empathie zukommen lassen, man hat ja auch noch sein eigenes Leben zu bewältigen. Das ist gerade für viele kein leichter Spaziergang, die Sorgen sind groß, manche ziehen sich da auf sich zurück, weil sie weder Zeit noch Kraft haben, die Sorgen anderer auch noch in ihr Leben hinein zu lassen.

Da werden Themen wie kulturelle Aneignung dann irgendwann nicht mehr verstanden, dabei ist eine erhöhte Sensibilität etwas, von dem alle profitieren. Timing ist allerdings auch eine wichtige Größe und wenn die Sorgen um eine warme Wohnung und steigende Preise größer werden, ist die Frage nach dem Rassismus in Märchenbüchern etwas, was gerade nicht verfängt oder sogar zum Kopfschütteln und der Frage führt, ob da jemand keine echten Probleme hat. Für viele ist der Diskurs dann beendet, noch bevor er begonnen hat, andere bleiben beharrlich bei ihrem Thema, manche werden übergriffig. Manches davon spaltet die Gesellschaft weiter in immer kleinere Lager.

Elitenbashing

Es entsteht auf der einen Seite das Gefühl, dass es eine weltfremde Elite gibt, die versucht, die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen und sich entweder um die ’normalen Menschen‘ nicht kümmern will oder deren Sorgen ganz einfach nicht versteht. Wenn wir uns jedoch überlegen, was wir der Welt gerne anbieten würden, dann sicher nicht nur, dass wir gelernt haben nicht zu frieren und zu hungern, sondern was uns stolz macht ist in der Regel anderes.

Stolz sein, dürfen wir durchaus auch darauf, dass es uns gelungen ist Verfehlungen der Vergangenheit aufzuarbeiten, aber eben längst nicht nur daraus. Das ist ein nie endender Prozess und für diesen brauchen wir Kritik und da wir im Grunde auf einem guten Fundament stehen, können wir uns durchaus in neue Bereiche der Komplexität vor wagen, dürfen dabei nur nicht vergessen, dass auch die grundlegenden Bereiche des Lebens wichtig sind und wie wir gerade erleben, keinesfalls selbstverständlich für alle Zeiten sind. Statt davor zurückzuschrecken oder zu behaupten, Rückschritte würde es keine mehr geben, sollten wir auch diese Bereiche integrieren.

Wir merken gerade, dass die grundlegenden Dinge es Lebens, wie eine warme Wohnung und genug zu Essen zu haben, tatsächlich wichtig sind, wenn auch erst im Angesicht eines drohenden Mangels. Es bringt nichts Menschenrechte und Privatsphäre gegen Kalorien und Zimmertemperaturen auszuspielen, wir haben nicht nur die Forderungen der Spitze, um die wir uns kümmern sollten, auch grundlegende Fähigkeiten der Beherrschung des Alltags sind uns verloren gegangen und der Schritt nach vorne bedeutet auch, Praktiken der Vergangenheit wieder zu integrieren.

Wir haben vieles etwas vorschnell über Bord geworfen, vom dem, was die Alten noch konnten, oft einer Aversion gegen Traditionen. Das fällt uns nun auf die Füße und es ist für alle Seiten schwer, das zu würdigen, was man einige Jahrzehnte zu Unrecht verkannt hat. Ein Pluralismus der den Namen verdient, ist kein politisches Elitenprogramm einer Wellness Clique, sondern die Einbindung der besten neuen und alten Strukturen, mit einer Anerkennung aller Lebensformen, auch jener, die es gerne etwas kleiner haben und unter sich bleiben wollen.

Richtiges Verhalten heute, wie geht das? Es geht um eine umfassende Würdigung aller, auch in ihrer Widersprüchlichkeit. Man kann eine hierarchische Gewichtung vornehmen, aber was komplexer ist, ist nicht automatisch besser oder wichtiger. Eine Würdigung aller heißt, dass jeder das Recht hat und einen Platz finden sollte, seine Vorstellungen ein Stück weit zu verwirklichen. Gebraucht werden alle und der Mensch ist gerade deshalb erfolgreich, weil wir verschieden sind. Wo die einen auf der Stelle treten, kommen die anderen weiter.