Oh Ja(hr)

Schieben Sie die Wolken zur Seiten und schauen Sie, was passiert … © MJ Klaver under cc

Gib‘ mir mehr davon? Auf dem Wunschzettel für das Christkind wird es wohl eher nicht stehen. War die erzwungene Ruhe des ersten Lockdowns bei gutem Wetter für viele noch eine Wohltat und wurde er als angemessen empfunden, so wird spätestens beim zweiten gefragt, wie den die Strategie für die Zeit danach aussieht. Es wird alles auf die Impfkarte gesetzt, die stechen muss, wir hoffen, dass sie es tun wird.

Zu Trump wurde viel gesagt, darum nun auch nicht mehr von uns.

10 Jahre Psychologie Magazin hätten wir tatsächlich feiern können, man reibt sich verwundert die Augen, aber bei aller Freude reißt es nicht das raus, was an Verwerfungen sichtbar wurde. Diese Pandemie deckte vor allem jene Missstände auf, die vorher auch schon da waren, sei es in der Fleischindustrie, bei den Leiharbeitersystemen in der Ernte (mit ihren alljährlichen Wanderungen), in den Schulen und dem Gesundheitswesen und dort vor allem in der Pflege der Alten und Kranken. Was für ein Jahr.

Ausblick

Ich gehe davon aus, dass die Kombination von warmem Frühlingswetter, erlernten Routinen und einsetzenden Impfungen das Thema CoronaPandemie allmählich vom Platz der Nummer 1 Meldungen verdrängen wird. Aber wenn schon schlechte Laune, machen wir doch gleich weiter damit.

Wenn ich mir Stand heute die Füllstände der Talsperren anschaue und die Erfahrungen der letzten Jahre ein wenig hochrechne, dann kann ich mir gut vorstellen, dass Wasserrationierungen 2021 ein Thema werden, bei uns in Deutschland, ausgeprägter als 2020. Etwas, was dann nicht mehr virtuell ist, sondern direkt erlebbar, wie braunes Gras und tote Fichten. Welche Insekten sich bei uns einnisten ist auch noch nicht ausgemacht, vermutlich auch solche, über die wir nicht nur erfreut sind, mit anderen Worten die Themen Klimawandel und Artensterben, mit den Folgeproblemen eines verstärkten Aufkommens von Seuchen und weiterer Migrationsbewegungen bleiben uns erhalten, das Thema Rente beginnt langsam an Horizont herauf zu dämmern.

Nun sind nicht nur paranoide Einstellungen selbstverstärkend, sondern diese Tendenz gilt mehr oder minder auch für alle anderen Systeme, denen man – ob tot oder lebendig – gerne nachsagt, an einer gewissen Selbsterhaltung ‚interessiert‘ zu sein. Pessimismus und Optimismus sind ebenfalls selbstverstärkend oder mindestens -erhaltend. Wer also Gründe sucht das Glas halb leer vorzufinden, der wird sie finden. Optimisten geht es ähnlich, obendrein sind sie dabei besser gelaunt.

Nun kann man den Schalter nicht einfach so umlegen und beschließen ab Morgen seine Einstellung zu ändern, auf der anderen Seite, sind wir aber auch nicht ganz und gar unseren Stimmungen und Vorurteilen ausgeliefert.

Die Krise ist der Ort der Wandlung und mit den Pessimisten würde ich anerkennen, dass wir in einer krisenhaften Situation sind. Viele wüschen sich wieder die seligen Zeiten vor Corona zurück, allein, auch die waren nicht sonderlich toll, sondern die Stimmung war gereizt, die Institutionen verloren von der Politik über die Kirche bis zur Wissenschaft massiv an Vertrauen. Die vielen Probleme, die uns in der Zukunft erwarten, das kann man bereits pessimistisch oder optimistisch deuten, bringen eine Notwendigkeit zum Wandel mit sich. Viele sind der Auffassung, dass die Pandemie in vielerlei Hinsicht eine Zäsur darstellen wird, mit anderen Worten: Es wird nie wieder so wie vorher.

Die psychologische Strategie zum Umgang mit der Situation

Man kann das feiern oder erschrecken, aber noch der Abschied von einem gewohnten Unglück beinhaltet eine gewisse Trauer, einfach weil es eine Teil des eigenen Lebens, der eigenen Identität ausmacht. So oder so, egal wie sehr man dran hing oder sich das Ende herbei sehnt, müssen wir Abschied nehmen und ein Stück weit trauern. Um vielleicht sogar rituell abzuschließen mit einer Lebensphase und um innerlich Raum zu schaffen, für das, was kommen wird.

Leicht wird es nicht die kommenden Aufgaben zu stemmen, aber weil es nicht leicht ist, haben wir gleichzeitig wieder so etwas wie Sinn und Ziel am Horizont. Fixieren wir uns nicht auf die Vermeidung von Unglück, sondern auf ein positives Ziel, das da heißt ein besseres Leben. Vor allem sollte das nicht die werbewirksame Umformulierung von Verzicht und ängstlichem Anklammern an das sein, was noch nicht verloren ist, sondern ein ernsthafter Blick nach vorne.

Entwickeln Sie diese Welt mit. Sie werden gebraucht. Auch das sind nicht nur Floskeln, sondern etwas, was man ernst meinen und nehmen muss. Es kommt mehr denn je auf uns alle an, nicht als Drohung, sondern als Angebot. Sie werden gebraucht. Auch wenn Sie es noch nicht wissen oder glauben, auch wenn andere es noch nicht wissen. Es geht nicht darum, was die anderen erst mal tun müssten, Sie haben die Freiheit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Wir werden immer mehr Menschen auf der Welt, aber einige sind in besonderer Weise dazu geeignet eine Wende herbei zu führen und die Verantwortung zu übernehmen. Der Lohn dafür ist eine neue Rolle, eine neue Identität, auch dann, wenn man Ihnen bisher das Gefühl gegeben hat, Sie seien überflüssig.

Identitätsdiffusion, die andere Seuche unserer Zeit

Der Begriff der Identität ist in einigen Bereichen inzwischen fast phobisch besetzt. Das ist idiotisch und auf einen höchst oberflächlichen und geradezu wortmagischen Umgang mit Begriffen zurück zu führen. Identität, davon reden auch die Rechten, es klingt auch irgendwie so ähnlich wie identitär. Man darf sich aber auch zutrauen erwachsen mit Begriffen umzugehen.

Eine integrierte oder normale Identität zu haben, ist einer der wichtigsten Bausteine der gesunden Psyche, besonders in unserer Zeit. Identität heißt hier, zu wissen, was einen ausmacht, von anderen unterscheidet und zu dem unverwechselbaren Menschen macht, der man ist. Es heißt auch, von Menschen, die einen sehr nahe stehen zu wissen, was sie im Kern bewegt, ausmacht, wie sie denken und fühlen, wovor sie Angst haben, was die erfreut, begeistert, wie sie normalerweise gestimmt sind, kurz: was sie zu den unverwechselbaren Menschen macht, die sie sind. Kann man beides sehen, so ist das ungeheuer wertvoll und man verfügt über eine normalgesunde Identität, kann man einen oder beide Aspekte nicht sehen, liegt eine Identitätsdiffusion vor, die auf eine schwere Persönlichkeitsstörung hinweist.

Ich hörte neulich ein Interview mit einem Lehrer an einer Schule, die viele ausländische Kinder hat. Der Lehrer besuchte einige Schüler in ihren Heimatländern und er sah, vollkommen zurecht, nach einer oft längeren Kette von Fluchterfahrungen die Identität der Kinder und jungen Erwachsenen: hier angekommen zu sein, eine Rolle zu haben und das Gefühl gebraucht zu werden und etwas in und für die Gesellschaft tun zu können zu empfinden, als das Wichtigste an. Dies zu erreichen oder zu verfehlen, macht den Unterschied zwischen einem wichtigen Mitglied unserer Gesellschaft aus und Intensivtätern, denen es nie gelungen ist, für sich eine Rolle zu finden und denen man sie teilweise auch verwehrt hat.

Die Karten werden neu gemischt

Was für ein Jahr! An seinem Ende mutiert das fiese Virus noch, das macht unsere Situation nicht leichter und zwingt uns das Risiko immer wieder neu zu bewerten und unsere persönliches Risikoprofil anzupassen. Die Weihnachtstage werden für viele anders als gewohnt werden, vielleicht auch zu einer Chance sich darauf zu besinnen, was dieses Fest bedeutet, auch einem selbst bedeutet.

Für die Christenheit, aber auch analog vielen älteren und anderen Religionen, die Zeit in der es genau in der dunkelsten Stunde, der Wintersonnenwende nahezu entsprechend, das Licht wieder geboren wird. Wer diese stille Nacht dazu nutzen kann, über sich nachzudenken, dem könnte vielleicht auch ein Licht aufgehen und vielleicht gelingt es dem einen oder anderen sich zu fragen, ob er mit seinem Leben eigentlich (noch) zufrieden ist, oder was eventuell fehlt.

Vielleicht gelingt es eine neue Rolle und Aufgabe für sich zu finden, unabhängig davon, wie weit andere sind und was diese tun oder lassen sollten. Dieses mal kann man in der dunklen Stunde vielleicht selbst etwas dazu beitragen, um selbst zur Lichtung, zur Öffnung zu werden. Das wird möglicherweise nicht jedem passieren, aber warum nicht gerade Ihnen?