Der Tod ist zurück in unser aller Leben. Der Dreiklang von Klima, Corona und Krieg hat es vollbracht.
Über Jahrzehnte ist es uns mehr oder weniger erfolgreich gelungen, ihn an den Rand unserer Gesellschaft und unseres eigenen Lebens zu drängen. Menschen starben und sterben überwiegend allein, im Krankenhaus, in irgendeinem einsamen Zimmer, in das von Zeit zu Zeit jemand schaut, damit die anderen Patienten nicht erschreckt werden.
Manches ist da schon besser geworden, durch die wunderbare Arbeit auf den neu entstehenden Palliativstationen und in den Hospizen, aber der Tod bleibt ein Randphänomen unserer Gesellschaft, eben nach Möglichkeit ausgelagert in Institutionen.
Damit einher geht ein gefühltes Anrecht, dass das Leben nicht vor dem 87. Lebensjahr, nach Möglichkeit bei geistiger Fitness und ohne größeres Leiden zu Ende gehen sollte. Andere Fälle schockieren, wenn jemand ‚viel zu früh‘ oder ‚viel zu jung‘ aus dem Leben geschieden ist. Sie erinnern daran, dass jederzeit passieren kann, was so eigentlich nicht geplant war. Aber der Tod ist eben nicht planbar. Man kann sein Leben früher beenden, ob es aber möglich ist, Jahre zu gewinnen, darüber kann man streiten. Der Streit muss aber schnell wieder Enden, weil niemand weiß, welche Zeitspanne an Leben uns eigentlich zusteht.
Der Tod ist immer ein Skandal
Er beendet, was noch hätte sein können. Das Potential kann nicht vollständig ausgeschöpft werden. Irgendwie eine seltsam inkonsistente Festlegung. Sie lässt uns alte Menschen als solche betrachten, die ihr Leben gelebt haben, womit oft einher geht, dass sie es größtenteils hinter sich haben, ihre Erkenntnisse interessieren dabei schon nicht mehr sonderlich. Würde oder gar Weisheit des Alters? Produktiv muss man sein und danach möglichst die Produktivität anderer nicht zu sehr einschränken und nach Möglichkeit keinen Dreck machen. Niemandem zur Last zu fallen, dass ist das letzte Ziel, wenn man durch den Eintritt ins Rentenalter als unproduktiv erklärt wurde.
Die Jungen haben ihr Leben noch vor sich, das Potential ist noch voll da. Erfahrung scheint nicht viel wert zu sein, potentielle Erfahrung, die vielleicht demnächst erworben wird, hingegen um so mehr. In Abtreibungsdebatten kehrt sich das wieder um, da wird die Potentialität wieder kassiert, aber wenn ein Kind dann auf der Welt ist, sollte ihm eigentlich unsere volle Aufmerksamkeit zukommen. Doch dass Deutschland übermäßig kinderfreundlich ist, ist auch noch keinem aufgefallen. Die Prämisse ist auch hier eher, die reibungslosen Produktionsabläufe der Eltern nicht zu stören.
Die Trauer über den Verlust und das was noch möglich gewesen wäre, mit diesem Menschen, führt dazu, dass die Hinterbliebenen Ideen, die im Geiste des verstorbenen Menschen gewesen wären, in ihr Leben einflechten. Insofern lebt man, wenigstens auf der Ebene, ein Stückchen weiter. Aber vollends zu beruhigen sind wir so natürlich nicht. Der Tod bleibt ein Skandal.
Floskeln helfen nicht. Weder die von der Natürlichkeit, dass es doch eben ganz normal sei zu sterben, noch von seiner Nichtgegenwart während Lebzeiten und wenn er dann da ist, ist man selbst nicht mehr. Das ist Epikurs Idee, aber der Tod ist kein Logikrätsel und die Hinterbliebenen tröstet das auch nicht. Gut wäre freilich, wenn der Tod in unserer Kultur wieder mehr stattfinden dürfte.
Der Tod ist zurück
Insofern ist es bei allem Schrecken gut, dass er wieder mehr in unser Bewusstsein tritt. Junge Menschen könnten den Älteren zurecht vorwerfen, sie hätten so etwas selbst nicht erlebt. Das Leben der Nachkriegsgeneration, vielleicht nach den ersten Hungerjahren, war gut. Wirtschaftswunder, schneller als erwartet und dann nur noch Aufstieg, so scheint es.
Selbst wenn der Fortschrittsoptimismus irgendwann schwand, Tod, das Ende der physischen Existenz, war nie ein Thema. Die ersten Hitzetoten in Deutschland konnte man noch unter statistischem Ausrutscher verbuchen, doch Hochwasser und Stürme lassen die lebensbedrohende Seite des ehedem abstrakten Klimawandels ganz konkret bei uns ankommen.
Die weiteren Aussichten sind tatsächlich eher für die Jungen interessant und beängstigend, wer alt ist kann hochrechnen, dass sie oder ihn das kaum betrifft, allerdings ist die Idee falsch, dass die Zukunft damit allen egal ist. Selbst kinderlosen Menschen sollte man nicht unterstellen, dass sie kein Interesse an anderen haben. Dafür sind die Alten mehr von Corona betroffen – und den Jungen ist es nicht egal – vor den Folgen des Krieges dürfen sich dann alle gleichmäßig fürchten, wobei Alte noch retraumatisiert werden könnten.
Also neue Bedingungen, seit kurzer Zeit? Ein lange nicht da gewesener Grund sich zu fürchten? Erstaunlicherweise erleben und erlebten gerade junge Menschen Angst, bis zur Todesangst besonders stark. Auch in rosigeren Zeiten. 50% der Angsterkrankungen beginnen vor dem 14. Lebensjahr, sogar 75% vor der 24. Was ist da los?[1]
Einerseits wird gesagt, die Entwicklung in dieser frühen Zeit sei noch nicht fertig, andererseits sollen genetische Faktoren einen Einfluss haben, aber beides ist ja keine Erklärung. Todesangst ist ein radikaler Entwurf eines weit, aber doch nicht zu Ende gedachten Ansatzes, indem man sich die Frage stellt, was einem eigentlich wirklich garantiert, dass man morgen wieder aufwachen wird, angesichts der reichlichen Möglichkeiten zu Tode zu kommen.
Diese Befürchtung ist im Grunde intelligent, weil sie nach Gewissheiten fragt und sich nicht mit Beruhigungsversuchen abspeisen lässt: ‚Och, wird schon nicht.‘ Da wird dann als Möglichkeit genommen, was die Phantasie hergibt. Der unentdeckte Hirntumor, Herzfehler, das kann zu einem psychosomatischen Großfeuerwerk werden, das man zwar selbst zündet, dem man aber aus der ebenfalls selbst gemachten Gefängniszelle zusieht.
Vielleicht fiel das in einer Zeit nicht so auf, als Tod durch Tuberkulose, Typhus oder eine Entzündung noch eine durchaus übliche Möglichkeit des Lebensendes war. Manche wurden schon damals sehr alt, aber auch viele Berühmtheiten gerade mal um die 30 oder 40 Jahre. Dazu noch der frühe Tod im Krieg, das Leben war einfach gefährlich und das gefühlte Anrecht auf 80+ gesunde Lebensjahre war der Sonderfall. Der Tod ist zurück in unserer Gesellschaft und nun müssen wir damit umgehen.
Wie gehen wir mit dem Tod um
Der Tod ist gewiss eine natürliche Sache und Menschen sind eben zu einem Teil ein Naturprodukt, aber eben ein denkendes und fühlendes, das um seine Sterblichkeit weiß und sich davor fürchtet. In aller Regel nicht, da gelingt es uns, den Gedanken an den möglichen Tod zu verdrängen, so dass dieser keine Rolle in unserem Leben spielt, obwohl er als ständige Möglichkeit über uns schwebt.
Geraten wir dann doch in Kontakt mit ihm, durch Suizid, Unfall oder Drogentod eines nahen Menschen in frühen Jahren oder doch mal eine frühe schwere Krankheit, so ist das Entsetzen groß. ‚Plötzlich und unerwartet.‘ Wenn der Tod zurück in unsere kollektive Mitte kommt, wirken die, die Angst haben nicht mehr so seltsam.
Die gute Nachricht ist, dass es sehr gute Therapiemöglichkeiten gibt und dass sich das mit der Todesangst auch auswächst, wenn man Schritte ins Leben wagt. Denn auch wenn man keine Garantie dafür bekommt, dass man morgen noch lebt, was folgt daraus? Selbstmord aus Angst vor dem Tod ist erkennbar seltsam, also doch etwas wagen?
Wenn man sein eigenes kleines Reich errichtet, ist man vom Alltag oft so absorbiert, dass man keine Gelegenheit mehr hat, ständig über den Tod nachzudenken. Den Punkt kann man Epikur zugestehen, eigentlich hat ein erfülltes Leben für den Tod keine Zeit. Selbst wenn das nur Verdrängung ist, es hilft oft. Die Rituale des gesunden Lebens sind zwar vielleicht nicht so effektiv gegen den Tod, aber doch gegen die Angst vor ihm.
Dabei schaut der Tod immer wieder um die Ecke. Wenn jemand in unserem Umfeld stirbt, bekommen wir Kontakt mit ihm, immerhin. Dies passiert oft nach Drehbuch, wenn die alten Eltern sterben, aber manchmal eben auch, wenn ein Klassenkamerad gestorben ist – viel zu jung. Dabei hätte er noch so viel erleben können. Doch die Qualität wird selten erfragt. Auch sich selbst fragt man nicht. Vieles, was man erleben will, wird auf später vertagt. Gerade ist man vom Alltag absorbiert. Die Konfrontation mit dem realen Tod, aber auch mit der Angst können wir immer dazu nutzen uns zu fragen, was wir denn eigentlich von unserem Leben erwarten. Und wenn wir das halbwegs herausgefunden haben, ist die Zusatzfrage danach, warum wir eigentlich genau das erwarten oft nicht schlecht.
Lebt man dann so vor sich hin, wird die Frage nach dem frühen Tod jedes Jahrzehnt unwichtiger, da man ja älter wird. Viele alte Menschen erzählen, man solle die Zeit nutzen, wenn man jung ist, später macht man ohnehin nicht mehr viel von dem, was man all die Jahre nach hinten geschoben hat.