Verweigerer in der Literatur
‚Bartleby der Schreiber‘ ist vielleicht einer der bekanntesten Verweigerer in der Literatur, nach einer Erzählung des Moby Dick Autors Herman Melville. Bartleby ist ein stiller, höflicher Mensch, der als Schreiber in einem Büro Texte kopiert, aber darüber hinaus gehende Anfragen und Anweisungen mit den knappen Worten: „Ich möchte lieber nicht“ ablehnt. Man rätselt, was der tiefere Sinn dieser kuriosen Geschichte ist.
Herr Laponder, aus dem Kapitel ‚Mond‘, aus Gustav Meyrinks Roman ‚Der Golem‘ ist ein ebenfalls ausnehmend höflicher und rücksichtsvoller Mann, der mit dem letztlich unbekannten Ich-Erzähler des Romans in einer Gefängniszelle sitzt, wie sich herausstellt, wegen eines Lustmordes. Der Ich-Erzähler schwankt zwischen Entsetzen und Zweifeln und wäre bereit zu versichern, dass dieser Mann überhaupt nicht – wenn er klaren Sinnes ist – zu einer solche bestialischen Tat fähig sei, doch Herr Laponder unternimmt keinerlei Anstalten sein Leben überhaupt retten zu wollen. Auch das wirft Fragen auf.
Denn die Moral von der Geschicht‘, die wir in vielen Fällen und ganz nebenbei mitgeliefert bekommen, gibt es hier nicht. So gilt Meyrink als irgendwie okkult, als Schriftsteller phantastischer Romane, die uns helfen sollen, das was wir nicht einordnen können, doch einzuordnen. Ähnlich ist es mit Franz Kafkas Geschichten, von denen uns einige ratlos, aber nicht stimmungslos, zurück lassen. Samuel Beckett (‚Warten auf Godot‘) und Knut Hamsun (‚Hunger‘) wären weitere Autoren und noch ‚Der Zauberberg‘ von Thomas Mann führt uns schon zu Beginn ein in die Geheimnisse der Zeit, die hier oben, auf dem Zauberberg so eigenartig anders vergeht.
Aber heißt Romane, Erzählungen, Phantasiewelten zu zeichnen eigentlich sich der Realität zu verweigern? Häufig sind es gerade Phantasiegeschichten, denen es gelingt Typisches einzudampfen und auf den Punkt zu bringen, weit mehr als die realen Ereignisse des Alltags, die immer dem Momentanen verhaftet bleiben. Realität oder Phantasie? Die Frage stellt sich in der Form gar nicht, aber wir sind es gewohnt, die Welt in Wahrheiten und Richtigkeiten einzuteilen, der Raum des Dazwischenliegenden ist uns fremd, bleibt uns fern, denn er verweigert sich dem Wunsch nach Eindeutigkeit und Einordnung. Das Überdeutliche, Grelle, Eindeutige ist das Kennzeichen des Kitsches und die Stereotype unserer gesellschaftlichen Rollen, die sich durch Wiederholung immer tiefer einbrennen, werden gerade in den Massenmedien immer und immer wiederholt.
In einem lesenswerten, sich der gegenwärtigen Kollektivdeutung über Peter Handke verweigernden Artikel, schreibt der Autor Mladen Gladić über den Soziologen und Systemtheoretiker Niklas Luhmann:
„Alles, was wir von der Welt wissen, sagte der Soziologe bekanntlich, wüssten wir aus den Massenmedien. Aber, diese weitere Beobachtung des Systemtheoretikers ist weniger bekannt, wir wissen so viel über diese Medien, „daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt.“ Eine Zwickmühle: „Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren sehen – und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen.“[1]
Wir wissen, dass die Geschichten, die wir hören oft Murks sind, aber wir können dennoch nicht anders, als auf sie Bezug zu nehmen, einfach, weil sie das sind, was alle kennen.
Westliches Denken – Das geht auch ganz anders
Und so ‚wissen‘ wir, wie die Indianer und die Piraten, die Bösewichte und die Kommissare so sind, aus Spielfilmen. Moral kennen wir aus Krimis, Vorabendserien und aus im Vorfeld bereinigten Märchen. Wenn wir uns die Mühe machen, in ein Thema tiefer einzusteigen ist es in der Regel so, dass die Standard Erzählungen, die unseren Teppich grundlegender Wahrheiten bilden oft irgendwo zwischen dramatisch verkürzt und ganz und gar falsch liegen. Aber es geht noch grundlegender.
Andere Sprachen und Kulturkreise setzen ganz andere Akzente, erzählen die Geschichte der Welt in anderen Begriffen, die nicht das Feste, Starre betonen, hier ein Ding, da ein anderes, sondern den Prozess, das Dynamische, die Beziehung, das Dazwischen. Etwa die chinesische Sprache, in der es weniger ums Machen geht, als um ein Erspüren von Strömungen und um schleichende Prozesse, allmählich sich Veränderndes, das bei uns auf den Begriff fixer Zustände gebracht wird. Jemand ist krank oder gesund, arm oder reich, ein Guter oder ein Böser. Im tibetischen Kulturkreis gibt es die Trennung von Gedanken und Emotionen in der Weise, die wir kennen nicht.
Auch bei uns finden wir diese Betonung bisweilen, aber wir können nicht so recht was damit anfangen, sie kommt uns immer ein wenig gegen den Strich gebürstet vor. Bei Heidegger finden wir die Bezeichnung ‚Ding‘, für das, was wir kennen. Das Buch da, der Stuhl dort. Doch so als Ding ist es seiner Wesentlichkeit beraubt, die darin besteht, dass der Stuhl ein Ding zum Sitzen und das Buch eines zum Lesen ist. ‚Zeug‘ nennt Heidegger das. In Fahrzeug und Feuerzeug begegnet uns diese Beziehung noch. Das Auto, mit dem man nicht fahren kann ist noch immer ein Ding, aber ihm fehlt das Wesentliche, Zeughafte, sofern man kein Sammler ist.
Die anderen Zwischentöne finden wir eher in der Kunst, die wir dann vom Wahren abgrenzen wollen, nicht ganz wissend, was eigentlich der Sinn dahinter ist, wozu das gut ist. Gut heißt bei uns, dass es einen Nutzen haben muss, so erklären wir uns die Welt. Dinge müssen für etwas gut sein, wenn man sich ’nur‘ irgendwie dran erfreuen kann, so sind wir ein wenig verstört, sofern sie nicht wertvoll sind und dadurch wieder einen Nutzen haben.
Dabei decken Romane auf, was fehlt, zeigen Bilder und Musik gerne, dass etwas ‚da‘ aber nicht sichtbar ist, wohl aber erlebbar. Das was dazwischen liegt erscheint uns oft, wie die hauchfein geschnittene Schinkenscheibe zwischen zwei dicken Brötchenhälften, sie machen das Ganze schmackhaft, aber nicht satt. Dabei ist es aus einer anderen, durchaus auch psychologischen Sicht genau umgekehrt, die äußere Realität ist das, was wir nie groß zur Kenntnis nehmen, statt dessen bewegen wir uns unentwegt im Raum unserer Verinnerlichungen und Projektionen und Romane kommen diesen Zuständen oft näher, als dröge Funktionszuschreibungen.
Man kann sich dieser Sicht verweigern, uns fällt es schwer zu verstehen, dass man damit nicht zwingend falsch liegen muss, doch allmählich gerät auch unsere gewohnte Sicht ins Trudeln und sogar in der Basiswissenschaft unserer Weltsicht, der Physik verweigern sich ganze Bereiche, etwa in der Quantenphysik, bei der bis heute nicht geklärt ist, was eigentlich der alles entscheide bewusste Beobachter im Rahmen einer Messung macht:
„Wenn aber die Quantenmechanik die zutreffende grundlegende Theorie aller physikalischen Vorgänge ist, müsste sie alle physikalischen Systeme – inklusive der Messvorrichtung selbst – und deren wechselseitige Wirkung aufeinander beschreiben können. Der Quantenmechanik zufolge überführt der Messvorgang das untersuchte System und die Messvorrichtung in einen Zustand, in dem sie miteinander verschränkt sind. Wenn dann – spätestens durch das Ablesen an der Messvorrichtung – das Messergebnis festgestellt wird, stellt sich wieder das Problem der Zustandsreduktion. Offenbar mangelt es an einer Definition in physikalischen Begriffen, was genau den Unterschied einer „Messung“ zu allen anderen physikalischen Prozessen ausmacht, so dass sie den Kollaps der Wellenfunktion verursachen kann. Insbesondere bleibt offen, wo man die Grenze zwischen dem zu beschreibenden Quantensystem und der klassischen „Messapparatur“ festlegen soll. Dies wird als Demarkationsproblem bezeichnet. Für die konkrete Vorhersage der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Messergebnisse am untersuchten System ist es allerdings unerheblich, wo man diese Grenze zieht, also welche Teile der Messapparatur man mit in die quantenmechanische Betrachtung einbezieht. Fest steht nur, dass zwischen dem Beginn der Messung und dem Registrieren des einzelnen eindeutigen Ergebnisses die Zustandsreduktion erfolgen muss.
Die Kopenhagener Interpretation erklärt den Kollaps und die Fragen zur Demarkation nicht weiter: Eine Messung wird schlicht beschrieben als Interaktion eines Quantensystems mit einem Messgerät, das selber als klassisches physikalisches System aufgefasst wird. Die oben gegebene Beschreibung von Observablen und Zuständen ist an dieser Interpretation orientiert. Davon stark unterschieden ist die Interpretation nach der Viele-Welten-Theorie. Sie betrachtet die im Kollaps verschwundenen Komponenten nicht als verschwunden, sondern nimmt an, dass in der Messung für jede einzelne Komponente ein Universum neu erschaffen wird, in dem sie als einzige weiterexistiert. Zu diesen und weiteren Sichtweisen siehe Interpretationen der Quantenmechanik.“[2]
Einfach formuliert, ist uns im Alltag klar, was es bedeutet, wenn man sagt, dass die Frau am Fenster die Katze beobachtet. Folgt man unserer Erzählung, in der große Einheiten wie Katzen aus kleineren bestehen und zusammengesetzt sind und geht immer mehr ins Detail, gelangt man zu den Zellen der Katze. Dann zu den einzelnen Molekülen, schließlich zu den Quanten, den kleinsten Einheiten der Materie. Hier aber fällt die Trennung zwischen Beobachtung oder Messung bei der jemand (oder etwas) etwas beobachtet (oder misst), was vorher so war, wie es nachher ist, in sich zusammen. Und da alles auch Quanten besteht … .
Eine Erklärung geht in die Richtung, dass wir dabei gar nicht zu wenig wissen, sondern, dass die Superpositionen (von denen nicht klar ist, ob sie nun reale Zustände oder mathematischen Möglichkeiten sind, oder ob beides überhaupt ein Unterschied ist oder eben gerade der alles entscheidende) ein zu viel an Wissen bedeutet. Erst der Kontakt, die Messung, die Beobachtung legt fest, was mit dem Teilchen geschieht, es ist daher nicht dadurch definiert, was es ist, sondern was er werden kann.
In der Wisssenschaftstheorie hat man gerade den Arzt und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck wiederentdeckt, der die wissenschaftliche Tatsache ebenfalls nicht als etwas ansieht, was einfach so da ist und für alle gleich vorliegt, sondern als soziale Konstruktion.
In der tibetischen Religionsmythologie gibt es zwischen Leben und Leben die Bardoreiche. Zwischenzustände, die mythologisiert dort beginnen, wo bei uns der Tod einsetzt, mit der Möglichkeit sehr verschiedende Ausgänge zu benutzen, die sich jeweils nach dem Bewusstseinsstand des Sterbenden richten. Wobei betont wird, dass jeder den Ausstieg aus dem Rad der Wiedergeburten finden kann, er normalerweise aber nicht erkannt wird und nicht attraktiv erscheint.
So geht man daran vorbei, hin zum dem was im der tibetischen Mythologie eigentlich als große Niederlage und nicht Trost gilt, zur nächsten Geburt und zur nächsten Runde Leid durch Anhaftung. Aber, die Bardozustände sind nicht nur nach dem Tod da, sondern bilden auch die Lücke zwischen allen Momenten des Lebens. Im Leben geht man nur noch leichter drüber hinweg, als im Sterben. Hier gilt jedoch der gleiche Mechanismus, man landet in der Welt, die man kennt und mag, in der man sich auskennt. Alle offensichtlichen Beweise, dass die Welt doch nun genau so ist, wie man denkt, liegen buchstäblich vor den eigenen Füßen und jede andere Erklärung erscheint absurd, man ist in keiner Weise offen für sie, da man ja noch nicht mal dabei ist zu sterben. In Todesnähe ist man fähiger bestimmte Vorstellungen loszulassen und verbunden mit einem Leben aus vorbereitenden Übungen, den Ausstieg aus dem Rad der Wiedergeburten zu schaffen. Das wäre gewissermaßen die erste Form sich zu verweigern, noch vor Geburt und Empfängnis oder die letzte.
All diese Sichtweisen verweigern sich der bei uns antrainierten Lesart. Sind sie denn nun richtig? Man weiß es nicht, aber wahr ist, dass diese Art zu fragen, den Fragenden in einen selbst errichteten Käfig steckt.