Wenn wir uns der üblichen Lesart verweigern, dann kann man behaupten, die zu späte, wie auch die viel zu frühzeitige Geburt sei die zweite oder dritte Verweigerung im Leben.
Da hält sich jemand schon ganz zu Beginn nicht an den Fahrplan und kommt einfach zur Unzeit. Die zu späte Geburt kommt heute kaum noch vor, weil man sie hormonell steuern kann, bei zu frühen Geburten ist es dafür möglich Kinder zu retten, die früher kaum Chancen gehabt hätten, zu überleben. Und in gewisser Weise ist ja auch die Kultur insgesamt eine Verweigerung gegenüber der reinen Eingebundenheit in die Natur.
Einmal sah ich alte Filmaufnahmen eines fröhlichen kleinen Mädchens, das die elterliche Fütterung mit kurzen, aber entschiedenen Bewegungen des Kopfes nach links oder rechts, nur für einen Moment die Fröhlichkeit verlierend, verweigerte. Sie wollte nicht. Kinder sind oft begabte Frühverweigerer, wie etliche Eltern wissen.
Verweigerung aus Prinzip
Eine Zeit der kindlichen Verweigerung bekommt in der Psychologie besondere Aufmerksamkeit, die Trotzphase. In der Trotzphase sagt das Kind zu allem ‚Nein‘, in Wort und Tat, es verweigert sich, will nicht, testet dadurch Grenzen aus und setzt eigene. Freud schenkte dieser Phase besondere Beachtung, weil ein ‚Nein‘ nicht nur zu sagen, sondern auch zu verstehen und in Wort und Tat zu leben, ein erster fundamentaler Akt ist, mit dem man sich gegen die Natur auflehnt, die durch das Kind zunächst hindurch fließt, meistens in die Windel. Doch wir wissen, dass das Kind irgendwann auch anders können wird, auf dem Topf merkt das Kind das dann auch und spielt mit dieser Erkenntnis in kindlicher Spielfreude und Hemmungslosigkeit.
Die Macht der reinen und rohen Verweigerung ist jedoch begrenzt, so geht diese Runde dann irgendwann an die Eltern, nicht ohne dass Kinder sich nicht zwischendurch immer wieder verweigern. Die Phase in der Kinder Warum-Fragen stellen wird als Form der Verweigerung gedeutet, auf der anderen Seite sind diese Fragen nicht unberechtigt, Ausdruck von Neugier und überdies passiert etwas, dem wir uns oft nicht verweigern, weil wir es für alternativlos halten: Wir lassen uns einfädeln in eine Sichtweise, die Warum-Fragen, Fragen nach Sinn und Bedeutung, als Kinderfragen deklarieren. Man hat sich im Laufe der Zeit damit abzufinden, dass es auf bestimmte Fragen keine Antworten gibt, also gilt es als Zeichen der Reife und Vernunft, danach auch nicht mehr zu fragen.
Ein frühes Revival erfährt die Verweigerung dann in der Pubertät, in der die ihrer Kindheit entwachsenden Kinder ganz eigene Vorstellungen entwickeln und zu denen der Eltern zumindest eine klare Haltung, dass nämlich diese nervenden Eingriffe vollkommen überflüssig sind. Die Pubertät erscheint von außen nicht immer zielgerichtet, doch nicht selten erwachsen dieser Zeit der inneren und äußeren Veränderung und der routinemäßigen Einfädelung der Sexualität in den Alltag, die nun nicht mehr unterdrückt wird, ganz klare Vorstellungen.
Das geht auch ganz anders: Einsicht und Idealismus
Die Pubertierenden und Adoleszenten sehen das Leben ihrer Eltern und haben in den meisten Fällen die Idee, dass das auch irgendwie anders gehen muss. So wie die Eltern, will man auf jeden Fall nicht leben, auch wenn man oft noch nicht genau weiß, wie sonst, wie soll man auch? So wird innerlich und äußerlich jede Menge durchgespielt und ausprobiert und wenn eine Phase im Leben eine idealistische ist, dann die Adoleszenz und/oder das frühe Erwachsenenalter. Die Fridays for Future Bewegung wird wesentlich von dieser Kraft getragen, aufgrund der bekannten Klimaproblematik und den immer gravierenderen Veränderungen.
Doch auch andere Zeiten hatten ihre idealistischen Strömungen und immer waren junge Menschen daran beteiligt. Wenn die Zeiten ruhiger sind, spielt man innerlich durch, wie man gerne leben würde, Zuspitzungen und Einseitigkeiten gehören notwendig dazu. Im Grunde oft Träume von einem Aussteigerleben, bevor man richtig eingestiegen ist. Zugleich eine versuchte oder reale Abwehr gegen die gnadenlos vernünftigen Vorschläge der Eltern, die das alles schon durch und erlebt haben, ihre Kinder nachvollziehbarer Weise vor Fehlern und Gefahren bewahren wollen. Weil sie wissen, dass ihr eigener Weg oftmals nur so eben noch gut gegangen ist und zumindest genügend Kreuzungen kannte, denen man auch hätte folgen können, es aber dann doch nicht getan hat.
Die Choreographie hiesiger Lebenswege sieht dann auch so aus, dass man den Idealismus der Jugend als Phase wertet, die nicht sonderlich ernst genommen wird, bei der man sich die Hörner abstoßen muss, bevor man dann später vernünftig und einsichtig wird. Das impliziert, dass man erkennt, dass die Eltern doch recht hatten. Spätestens dann, wenn man arbeitet oder eigene Kinder hat und sieht, wie das Leben wirklich ist.
Geht doch: Vernunft oder gebrochenes Rückgrat?
Doch einige verweigern sich dieser Zwangsläufigkeit. Man muss auch diese Verweigerung nicht idealisieren, diese Menschen haben es vermutlich oft schwerer als diejenigen, die dem Drehbuch folgen. Glück ist nach Erkenntnissen der Forschung zu einem großen Teil eine Frage der Anpassung. Aber ist es nicht irgendwie auch schrecklich, seine Ideale zu verlieren, zu verraten und zu verkaufen? Oder ist gerade das die Stimme der Vernunft, dass man eben einsieht, dass und wo man früher übertrieben hat und heute einfach reifer geworden ist?
Diesen Zwiespalt hat die Werbung gut erkannt und bedient. Die Vitalität und Spontaneität der Jugend würde man gerne behalten: ‚Ich will so bleiben, wie ich bin‘, heißt es in einem alten Werbespot. Verheißungsvoll wurde geflüstert, dass man das darf, wenn man fettreduzierte Wurstwaren isst. Sie soll dann ihre Linie behalten, er seine rauhe Wildheit, die passenden Produkte stehen auch hier bereit: das Bier, das einen ‚einzig, nicht artig‘ macht. Obwohl dies gleich die nächste Idealisierung ist, die Kindheit und Jugend zu verklären, zur guten alten Zeit, in der man noch so schlank und frei war und alles noch so unbeschwert.
Wobei auch das Teil der Choreographie ist, festzustellen, dass alles nicht so leicht ist, wie man anfangs dachte und sich zurück zu sehnen. Immerhin, wenn man in der Erinnerung an alte Lieder, Klamotten, Möbel, Filme und Fernsehsendungen die glücklichen Momente der Kindheit zurückholen oder neu erzeugen kann, ist dagegen vielleicht nichts einzuwenden, wenn man nicht zu sehr in Klischees eingefädelt wird. Klingt einfach. Nur ist es so, wie mit anderem, die Gewohnheit hat auch Macht. So sehnt man sich dann zurück in das, dem man endlich entwachsen war, um frei, selbstständig und groß zu leben zurück: Wie unbeschwert Kindheit und Jugend doch angeblich waren.
Gehen lernt man am besten beim Gehen, nicht indem man ein Buch darüber liest. So prägen sich auch die Klischees der heilen Kinderwelt mit jedem Bad in ihnen ein wenig mehr ein. Sie begleiten uns weiter auf unserem Lebensweg und seinen Ausschmückungen. Da hatte man so seine Flausen, früher, aber irgendwann dann doch, zum Glück, noch die Kurve gekriegt. Einige sind anders geblieben, sie sind ihren Idealen oder Talenten, manchmal ihrer Berufung treu geblieben. Das ist in mehrfacher Weise herausfordernd. Wir brauchen einerseits diese Ausbrecher, um in uns zu spüren, dass wir das auch könnten … jederzeit … immer noch. Einfach noch mal neu anfangen und alles auf Null stellen. Zu gut darf es den Ausbrechern aber auch nicht gehen, das würde uns zu klein machen und Neid erzeugen. So blicken wir manchmal schadenfroh auf jene, die sich verweigert haben und gescheitert sind.
Die dyssozialen Verweigerer mögen wir ohnehin nicht. Doch auch die oft verräterisch große Fürsorge, wenn es jemand versuchte und dann doch nicht schaffte, hat etwas verdrängt Hämisches. Einerseits hört man doch ganz gerne die Geschichten der Ausbruchsversuche, denn irgendwie ahnen auch wir, dass das nicht alles gewesen sein kann. Andererseits ist es doch ganz gut, wenn sich am Ende herausstellt, dass es sich nicht lohnt und liebevoll können wir die gefallenen Engel in die Geschichte vom ganz normalen Leben einfädeln, für das wir die Experten sind. Wir freuen uns, wenn die anderen auch nur mit Wasser kochen, darum auch die Mischung von Sehnsucht und Genugtuung beim Blick auf die Promis: Glanz und Glamour, Shampus und Blitzlich, aber eben auch Cellulite an den Schenkeln, Scheidung und Entziehungskur, vielleicht alles ein bisschen greller und größer, aber im Grunde wie bei uns.
Die beruhigende Seite der Massenunterhaltung, die beständige Versicherung, dass ein Ausweg gar nicht vorhanden ist. Im Grunde sind alle Leben identisch, mitsamt ihrer Wünsche, Höhen und Tiefen, so die stille Botschaft. Die einen trinken eben Schampus und essen Kaviar, die anderen Bier und Grillwürstchen. Man will was haben und wer sein, es aber nicht nötig haben, das raushängen zu lassen. Alles ganz gechillt.
Das durchorganisierte Leben und seine Brüche
Oft genug, man muss es zugeben, geht der Plan auf. Ob zum Glück oder leider ist eine Frage der Perspektive, die meisten werden es eher als Glück empfinden. Doch gibt es in vielen Leben immer wieder auch Brüche. Etwa wenn die geplanten Kinder ihr Kommen verweigern. Wenn Sie sich am Anfang gefragt haben, warum die Geburt die zweite oder dritte Verweigerung ist, die Empfängnis wäre die wahlweise erste oder zweite. Wobei man sagen kann, das sei ja nun keine Entscheidung des Kindes, sondern Pech, Unfruchtbarkeit oder was auch immer, so kann man sich dieser Sichtweise eben auch verweigern. Wer weiß schon, wie das Leben wirklich funktioniert? Wir haben uns nur auf bestimmte Lesarten geeinigt, die wir übernehmen und von deren Richtigkeit wir zutiefst überzeugt sind. Doch dazu später, immerhin ist es ein Bruch, der Plan geht hier nicht auf.
Anderes kommt dafür oft früher im Leben, als man denkt. Nehmen wir exemplarisch Rückenschmerzen und Depression, verbreitete Krankheiten, die zu vielen Fehlzeiten führen und daher Sand im Getriebe des großen Systems darstellen. Denn eigentlich waren wir ja mal als produktive Mitglieder der Arbeitswelt gedacht. Krankheit ist eine Methode sich dem unbewusst zu entziehen, eine stille Form der Verweigerung. Auf unseren Gesellschaftsvertrag haben wir uns geeinigt, manche sind dafür, andere eher nicht, manche protestieren offensiv, andere still. Krankheit ist ein Weg, sich dem still zu entziehen. Auch das darf nicht einseitig überhöht werden, aber die Befunde kennt man nicht erst seit gestern.