Stabilität ist ein hoher Wert für unsere Psyche
Das psychische Immunsystem sorgt jedoch dafür, dass an dieser dynamischen Stabilität nicht groß gerüttelt wird und das gleich in mehrfacher Weise. Zum einen ist das Wiedererkennen von Mustern mit einem gewissen Lustgefühl verbunden. Der hier zuständige Neurotransmitter ist Dopamin, bekannt ist, dass unsere Lernfähigkeit sinkt, wenn der Dopaminspiegel sinkt und vermutlich geht der Effekt in beide Richtungen. Das heißt, wir lernen besser mit Lust und Erfolgserlebnissen, doch das Erkennen von Bekanntem löst seinerseits eine Lustempfindung aus, was Muster, die immer wieder von uns erkannt werden, immer stärker werden lässt, zugleich werden sie als immer wohltuender empfunden, allein dadurch, dass sie wiedererkannt werden.
Dass Stabilität einen hohen Wert haben muss, sieht man an eher tragischen Ereignissen. Denn längst nicht alles, was bekannt ist, ist auch objektiv gut. So neigen Kinder, die von Eltern schlecht behandelt werden, dazu, die Schuld für das Verhalten der Eltern bei sich zu suchen, auch wenn sie gar nichts falsch gemacht haben und die Eltern nur willkürlich agieren. Die Interpretation, dass man offenbar ein böses Kind sein muss, das zurecht bestraft wird, scheint für das psychische Immunsystem besser zu sein, als die fraglos richtigere Deutung, dass die Eltern oder ein Elternteil uninteressiert, willkürlich oder sadistisch agieren.
Der etwas kuriose psychische Vorteil dieser Situation liegt darin, dass die Eltern nach wie vor gute und liebenswerte Eltern bleiben können, auch wenn sie es nicht sind, da das Kind in jungen Jahren noch nicht in der Lage ist, zu verstehen, geschweige zu verändern. Auch in diesen Situationen kommt es aber darauf an, psychisch zu überleben und auch dafür sorgt verschiedene Mechanismen, die in der Kindheit das Überleben sicher, später aber oft hinderlich sind. Diese aufzuarbeiten wäre in solchen Konstellationen ein Fall für die Psychotherapie, die einem dann helfen kann, die Ereignisse von damals heute zu verarbeiten und richtig einzuordnen.
Bei traumatischen Ereignissen in späteren Lebensjahren finden wir ein ganz ähnliches Muster, bei dem relativ bekannten Stockholm-Syndrom. Das Stockholm-Syndrom ist die Identifikation des Opfers einer Geiselnahme, mit einem übermächtigen Aggressor, der potentiell das Leben des Opfers bedroht. Die Situation ist erkennbar dominiert von Ohnmacht und Ausweglosigkeit, doch bemerkenswerterweise werden auch hier die Aggressionen des Täters, vom Opfer nicht auf diesen projiziert, sondern die Opfer bringen auf einmal Verständnis für die Situation des Täters auf, finden seine Handlungen und Ansichten ganz rational und einsichtig, das Verhalten der potentiellen Retter draußen hingegen gefährlich und irrational.
Offenbar ist auch das Erfassen der Ausweglosigkeit in dieser Situation, von der man nicht weiß, wie sie enden wird, ein Grund für unser psychisches Immunsystem umzuschalten und sich der neuen Situation anzupassen, indem man in diesen Ausnahmesituationen mit fliegenden Fahnen die Seiten wechselt, was die Chancen zu überleben vermutlich erhöht. Denn dieser Seitenwechsel bringt einen in die Lage nicht nur das zu sagen oder zu tun, was ein anderer hören will, so wie man es manchmal tut, wenn man im inneren Widerstand mit einer Situation ist, die man aktuell nicht ändern kann und an die man sich zähneknirschend anpasst, ohne das innerlich so zu meinen, man macht lediglich gute Miene zum bösen Spiel. Ist die Situation aber traumatisch, kann es von Vorteil sein, tatsächlich emotional das Lager zu wechseln und so ganz aufrichtig zu empfinden, dass ein Geiselnehmer oder Entführer ja alles richtig macht oder zumindest gute Gründe hat. Wie das Kind, das sich keine anderen Eltern suchen kann, ist man nun in der Obhut eines Menschen, der ja im Grunde gar kein schlechter Kerl zu sein scheint, wenn man sich nur Mühe gibt, seine Motive zu verstehen.
Wenn die Wirklichkeit uminterpretiert wird
All das soll nicht zeigen, dass das psychische Immunsystem nicht richtig arbeitet oder gar von Beginn an eine Fehlkonstruktion ist, denn das Stockholm-Syndrom ist aus der Sicht des Immunsystems keinesfalls verrückt, sondern eine Möglichkeit sich radikal neuen Bedingungen so anzupassen, dass man nicht geschädigt wird. Dahinter verbirgt sich ein genialer Mechanismus, der es uns erlaubt, in einem dynamischen Wechselspiel uns einerseits der Welt und andererseits die Geschehnisse der Welt unserer Deutung anzupassen, oft in so kleinen Schritten, dass sich unsere Vorstellungen der Welt nicht ändern müssen.
Bei echten traumatischen Erfahrungen werden bekannte Deutungsmuster geknackt. Das ist auch einer der Gründe dafür, warum wir so erschüttert sind. Unsere Welt ist buchstäblich aus den Angeln gehoben worden. Vordergründig könnte man sagen, dass, wenn wir eine solche Situation überstanden haben, sie ja nun, wie schlimm diese auch gewesen sein mag, vorbei ist. Was auch immer passiert ist, im Grunde könnten wir einen Haken drunter machen und das Leben geht weiter. Doch so ist es in den meisten Fällen nicht. Wir wollen verstehen, warum etwas passiert ist und Antworten wie Pech, Glück oder Zufall sind da nicht sehr befriedigend. Auch wenn wir Glück im Unglück hatten und eine Situation überstanden haben, die andere nicht überlebten, ist das Gefühl was bei sehr vielen zurück bleibt nicht Glück oder Dankbarkeit, sondern eher eine Form der Schuld. Warum nur, habe ausgerechnet ich den Autounfall oder die Massenpanik überlebt, aber andere nicht? Auch hier wollen wir verstehen aber eine zu einem nicht unwesentlichen Teil auf Zufällen, Statistiken und Wahrscheinlichkeiten beruhende Weltsicht kann uns diese Erklärungen nicht geben. Das heißt nicht einmal, dass diese Weltsicht falsch sein muss, sie entspricht nur nicht den Bedürfnissen mancher traumatisierter Menschen, sie ernährt unsere Seele nicht, weil sie die Ereignisse in keinen größeren Sinnkontext stellen kann.
Erstaunlicherweise können viele Menschen nicht einmal mildere Formen des in ihren Augen unverdienten Glücks gut annehmen, wie etwa einen großen Lottogewinn, der das Leben keineswegs immer besser macht. Ein hilfreicher Ansatz ist daher manchmal, das schwer zu ertragende unverdiente Glück umzuwidmen und das erhaltene Geschenk mit Sinn zu erfüllen, indem man sein Leben nun anders lebt und in den Dienst von etwas stellt. Damit wird das Ereignis in einen neuen Deutungskontext gestellt, wenn der alte nicht erklären konnte, warum mir und anderen etwas widerfahren ist. Wir müssen einen neues Deutungsmuster finden, was uns die Ereignisse befriedigend einordnen lässt. Unser Glück soll kein bloßer Zufall sein, sondern einen Sinn haben.
Das psychische Immunsystem räumt in weniger drastischen Fällen andere Deutungen schon im Vorfeld beiseite. Wir nehmen Ereignisse, die unsere Weltsicht stützen, als Bestätigung derselben besonders gut wahr. Denn diese sind ein positiver Beleg dafür, dass die Welt so funktioniert, wie wir es glauben. Da ist wieder etwas, was in dieses Deutungsmuster passt, sogleich fühlen wir uns bestätigt und da wir ein Muster wiedererkannt haben, springt unser Belohungssystem an und das erfolgreiche Muster gräbt sich nur noch tiefer in unsere Psyche ein. Ereignisse die nicht zu diesem Muster passen werden zunächst buchstäblich ignoriert, sie schaffen es gar nicht so viel Aufmerksamkeit zu erregen, dass wir uns ernsthaft herausgefordert sehen, uns mit ihnen näher zu beschäftigen.
Treten Ausnahmen wiederholt auf, so dass sie nicht komplett ignoriert werden können, versucht man sie zu bagatellisieren. Bestenfalls stellen sie die Ausnahme der Regel dar, nichts, was eine nähere Beschäftigung rechtfertigen würde, allenfalls handelt es sich um Übertreibungen von Menschen, die etwas groß reden wollen, was in Wahrheit unbedeutend ist. Man will etwas nicht sehen, hat aber immer noch das authentische Empfinden, dass es tatsächlich belanglos ist. Denn Ereignisse, die nicht ins eigene Weltbild passen, würden uns herausfordern, dieses zu revidieren und bevor dies wirklich geschieht, zieht das psychische Immunsystem alle Register.
Die Bereitschaft die Daten oder Interpretationen anderer abzuwerten oder verächtlich zu machen, ist bei vielen Menschen recht groß. Wenn die anderen Lügner sind, gerissen, dumm oder naiv, sind ihre Daten nicht mein Problem, sondern ihres. Die Ansichten der anderen können mich dann sogar noch motivieren, meine eigenen noch stärker zu vertreten. Hier nun schon mit einer verärgerten Komponente, die wirre bis problematische Ansichten bei anderen sieht, während es die eigene Position unverändert lassen kann.