Reflexion
Die Reflexion geht immer weiter und fragt immer weiter, lässt sich nicht mit Floskeln abspeisen sondern macht auch hier nicht Halt. Sie ist philosophisches Denken im eigentlichen Sinne. Der Bewusstseinsforscher Ken Wilber beschreibt es so:
„Das Auftauchen der formal-reflexiven Basisstruktur eröffnet die Möglichkeit der D-5-Selbstentwicklung: eine hochdifferenzierte, reflexive und introspektive Selbststrukturierung. Das D-5-Selbst ist nicht mehr unreflektiert an soziale Rollen und konventionelle Moral gebunden; zum ersten Mal kann es sich auf seine eigenen individuellen Prinzipien von Vernunft und Gewissen stützen (Kohlbergs postkonventionelles, Loevingers gewissenhaft-individualistisches Selbst etc.). Zum ersten Mal kann das Selbst eine mögliche (oder hypothetische) Zukunft konzipieren (Piaget) mit ganz neuen Zielen, neuen Möglichkeiten, mit neuen Wünschen (Leben) und neuen Ängsten (Tod). Es kann mögliche Erfolge und Misserfolge abwägen auf eine Art, die es sich zuvor nicht vorstellen konnte. Es kann nachts wachliegen vor Sorge oder Begeisterung über alle seine Möglichkeiten. Es wird Philosoph, ein Träumer im besten und höchsten Sinn; ein innerlich reflexiver Spiegel, staunend über seine eigene Erkenntnis. Cogito, ergo sum.
„Identitätsneurose“ bezeichnet spezifisch alle Dinge, die beim Auftauchen dieser selbstreflexiven Struktur schiefgehen können. Ist sie stark genug um sich von Regel/Rollen-Geist freizumachen und für ihre eigenen Gewissensprinzipien einzustehen? Kann sie, wenn nötig, den Mut fassen, nach einer eigenen Melodie zu marschieren? Wird sie es wagen, selbst zu denken? Wird sie von Angst und Depressionen erfasst angesichts ihrer eigenen Möglichkeiten? Diese Dinge – die leider von vielen Theoretikern der Objektbeziehungen auf die D-2-Dimension von Trennung und Individuation reduziert werden – bilden den Kern des D-5-Selbst und seiner Identitätspathologie. Erikson (1959, 1963) hat die vielleicht definitiven Studien über die D-5-Selbstentwicklung geschrieben („Identitiät vs. Rollenkonfusion“). Hier kann nur die Beobachtung hinzugefügt werden, dass philosophischen Probleme ein integraler Bestandteil der D-5-Entwicklung sind und philosophische Erziehung ein integraler und legitimer Bestandteil der Therapie auf dieser Ebene ist.“[1]
Die Gefahr wieder zurück zu fallen, in die Welt der bequemen Versatzstücke, aber auch in die emotionale Nestwärme des Mainstream ist eine reale Kraft und der Weg in die Philosophie, die den Anspruch hat mehr zu sein, als technische Erbsenzählerei ist nicht einfach, auch und vor allem zu Beginn nicht, wie der Philosoph Daniel-Pascal Zorn in Es gibt keinen Weg in die Philosophie ausführt. Es ist eher ein Sprung, als ein Weg und wie Zorn berichtet, ist der Philosoph immer auch ein Ärgernis für andere und manchmal auch für sich. Man könnte es leichter haben, in der Tat.
Dennoch ist es für einige nicht attraktiv im Mainstream zu verharren, gerade wenn sie jung sind und der Idealismus blüht, was wunderbar ist. Doch bei vielen Versuchen scheitert es daran, dass man zur Antithtese, zum Dagegensein und zum Widerspruch aus Prinzip gelangt, aber dann nicht mehr weiter. Man bleibt in der kritischen Haltung stecken und wird zum Wutnbürger oder Skeptiker, über die dann Karl-Otto Apel schreibt:
„Der Skeptiker – als Repräsentant philosophischer Aufklärung – kann mit scheinbar guten/oder wirklich guten Gründen jede Form der faktischen Sittlichkeit in Frage stellen und mit großem existentiellen Risiko auch verleugnen; aber, wenn es ihm gelingt, zu Ende zu denken (den „Skeptizismus zu vollbringen“ bzw. – frei nach Kohlberg – die Krisenstufe 4 ½ der „sophistischen“ Aufklärung hinter sich zu bringen), so kann er einsehen, dass er das Prinzip der Moralität im Sinne der Diskursethik nicht rational (d.h. nicht ohne einen performativen Selbstwiderspruch zu begehen) verleugnen kann. Dann hat er jenen Vernunftsmaßstab der Moralität gewonnen, den Habermas selbst in seiner Auseinandersetzung mit Bubner (1984) so überzeugend gegen die substanzialistische Versuchung verteidigt hat.“[2]
Was aber heißt das alles für den Alltag, für uns und die Fragen nach der Reflexion? Reflexion ist kostbar, begeisternd, aber auch anstregend. Reflexion heißt, sich mit den vermeintlichen Gewissheiten nicht zufrieden zu geben – mit denen beider Seiten nicht – bis die Fragen so gründlich und gewissenhaft geklärt sind, oder man keine weitergehenden Antwort mehr finden und ein Weiterfragen selbst idiotisch würde, das heißt zu einem Akt, der sich nicht mehr rechtfertigen lässt. Das passiert wenn man wie ein Kind ständig „Aber warum?“ fragt, oder wenn man alles infrage stellt, um zu provozieren. Die Frage, mir der Bitte um Rechtfertigung, warum man seine Frage für sinnvoll hält, ist durchaus auch erlaubt.
Für den Einzelfall, also die Frage, ob man Medizin studieren sollte, weil der Vater diese gut gehende Praxis hat, wäre zu klären, was man wirklich will und kann und inwieweit das mit einer Nachfolge in Einklang zu bringen wäre, oder nicht. Geht es mir darum, dass der Beruf unbedingt Berufung sein muss oder reicht es, gut zu verdienen und dann entspannt in der Freizeit seinen Hobbys nachzugehen? Oder ist das viel zu wenig Freiraum? Was will ich, was soll ich, wie hängt das eine mit dem anderen zusammen? Was würde des bedeuten, die Eltern zu enttäuschen? Wären Sie enttäuscht?
Bei aller Fragerei: Wo sollte ich nicht mehr fragen? Man kann auch alles zu Tode reiten, drehen und wenden und noch mal bereden und irgendwann ist das dann eher wieder Grübelzwang als Reflexion. Deshalb: Wo ist das legitime Ende?
Intuition
Das muss jeder selbst entscheiden und das unterscheidet die Reflexion deutlich von dem Denken in Puzzleteilen und Versatzstücken. Man kann, darf und muss sich selbst den Punkt erlauben, an dem es genug ist mit den Informationen und Fragen, an dem hinreichend geklärt ist, was man klären wollte. Es bringt in den Bereich des reflexiven Denkens automatisch eine subjektive und intuitive Komponente hinein, aber damit auch automatisch Verantwortung für das, was man tut und lässt und einen gewissen Zwang sind selbst immer genauer kennen zu lernen.
Die Frage ist, ob ich nun alles weiß was ich wissen muss, um mir ein Bild zu machen und vernünftig entscheiden zu können. Unter Berücksichtigung alle der Beratungen, Gespräche und aller Literatur, aber irgendwann muss das Ende und eine vorläufige Entscheidung kommen und sei es nur, dass man die Antwort vorerst vertagen muss, weil man keine Entscheidung treffen kann. Das für sich festzustellen, heißt die eigene Entscheidung zu verantworten und bedeutet gleichzeitig auch eine immense Freiheit.
Aber ist das dann nicht nur ein Trick? Wer so fragt, zeigt, dass er in der Welt der Reflexion noch nicht angekommen ist, denn wer sich in der reflexiven Sphäre bewegt, tut das nicht um des Vorteils willen oder um jemanden hinters Licht zu führen, sondern aus einen inneren Bedürfnis heraus. Man kann nicht anders. Oft sieht man es gerade bei Geisteswissenschaftlern oder Philosophen, die – außer sehr wenigen Stars – lausig bezahlt sind und dennoch voller Elan ihr oft karges Leben leben. Am Lohn kann es im Land der Dichter und Denker nicht liegen.
Man verliert ein Stück weit die Fähigkeit und Lust, sich selbst zu betuppen und aus diesem Grund tut man es auch mit anderen nicht. Es bringt nicht viel andere hinters Licht zu führen, weil man in dem Moment, wenn es einem um Erkenntnis geht, nichts davon hat. Erkenntnis steht dann oberhalb von Anerkennung und Erfolg, die man durchaus genießen kann, die aber nicht das primäre Ziel sind.
Es gibt Menschen, die das prinzipiell anders sehen und die Welt nur als große Trickserei, als Machtkampf, der immer über das Streben nach Erkenntnis dominiert, dieser Sicht haben wir uns in Macht und Wahrheit in der heutigen Zeit gewidmet.
Denkgebäude in ihre Zutaten
Man kann nicht alles hinterfragen. Schon deshalb nicht, weil jedes Kind in eine Welt hineingeboren wird, die bereits gedeutet ist. Sprache, Überzeugungen, verbale und nonverbale, Herangehensweisen an die Welt und ihre Bewohner bekommt jedes Kind aus seinem direkten Umfeld mit.
Man sollte auch nicht alles hinterfragen, denn das hieße, dass man das Rad immer wieder neu erfinden muss, in jedem Leben. Es ist schön und bequem an Traditionen anknüpfen zu können. Doch wir greifen nicht nur gerne auf Strom, Wasser das dem Hahn, Kommunikationstechnik und Heizung zurück, sondern eben auch auf Erkenntnisse in im Laufe der Zeit gewonnen wurden. Wissen um dies oder das, von binomischen Formel, über die Dichte des Goldes bis zur Gesellschaftstheorie oder wie man einen guten Pudding macht. Wir erben die Berechtigung, dieses Wissen der Vorfahren zu verwenden, insbesondere dann, wenn wir die Ideen verstanden haben.
Und das sind nicht nur abstrakte Ideen, sondern die Kombination aus Ideen, Praktiken, Gewohnheiten und Einstellungen, die damit implizit verbacken sind (etwa im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher Konventionen oder Tabus), sie machen den Kohl fett und bringen uns zu jenen Versatzstücken des vorgestanzten Lebens, die wir uns dann zu einem passenden Ganzen zurechtlegen, zuerst allerdings ebenfalls eher zurecht gelegt bekommen. Wir finden darin verborgen implizite Prämissen, die dann logisch folgerichtig kombiniert werden.
Reflexion heißt sich zu den Prämissen, zu den Grundannahmen der eigenen Weltsicht konsequent vorzuarbeiten und dann noch mal zu fragen, was davon eigentlich wirklich gesichert ist. Dabei kann einem allerdings schwindelig werden, denn dort angekommen, werden unsere Überzeugungen noch mal zur Bearbeitung vorgelegt. Dabei lernen wir aber nicht nur Theorien kenne, sondern uns selbst und das ist durchaus zweischneidig, wie Otto Kernberg ausführt:
„Ich stimme Ihnen zu, dass Selbstreflexion und eine ehrliche Suche nach den unbewussten Motivationen das Wissen und den Sinngehalt des Lebens bereichern. Man sagt: „Nur ein erforschtes Leben ist lebenswert.“ Und dabei hat die Psychoanalyse geholfen. Diese forschende Selbstreflexion nach unbewussten Motivationen kann nicht nur zu größerer Selbsterkenntnis führen, sondern kann auch helfen, sich – zumindest teilweise – von den destruktiven Aspekten unterdrückter Konflikte zu befreien. In dieser Hinsicht helfen die Selbstreflexion und die ehrliche Suche nach den eigenen Motivationen der Spiritualität, doch macht dies nicht unbedingt glücklich; es bringt auch den Schmerz und Kummer der Entdeckung, dass wir weniger ideal sind, als wir von uns glauben möchten.“[3]
Die Dauerbotschaft spiritueller Lehrer ist ebenfalls, dass die Motivation mit Spiritualität zu beginnen, eine andere ist, als man anfangs meint. Es kommt nie derjenige an, der am Anfang los marschiert ist. Die Tiefen-, dynamische oder aufdeckende Psychologie; die Philosophie, wo man sie nicht als reine Klärung von Begriffen reduziert, sondern darunter tatsächlich die Lieben zur Weisheit versteht, die immer Lebensweisheit ist; die Spiritualität, wo sie nicht zum Glauben gemacht wird; vielleicht noch manche Formen der Kunst und seltener, der Wissenschaft, statten uns mit Möglichkeiten aus, unser reflexives Potential zu entfalten, die Welt und gleichzeitig uns selbst immer besser kennen zu lernen.
Der Lohn ist, dass das Leben zu prickeln beginnt, man weiß, wofür man morgens aufsteht. Die Lust nach Erkenntnis ist wie eine Droge, man sieht Zusammenhänge in der an sich eher zufälliger oder von fremden Mächten gesteuert wirkenden Welt, die man vorher nie gesehen hat, gleichzeitig wird die Welt und die Rollen, die man ihr spielt, immer komplizierter. Die Gewissheiten der anderen verliert man ein Stück weit. Es wird nicht immer verstanden, warum man sich mit so etwas abgibt, wo das Leben doch auch viel leichter sein könnte. Das ist der Sprung, den man machen muss. Man kann schlecht übersetzen, was man daran interessant findet, weil viele Erklärungen auf erstaunte und oft verständnislose Blicke stoßen. Man ist ein Exot, für das Partygespräch sind die Themen oft ungeeignet und so besteht die Herausforderung für diejenigen, die nach dem Sprung irgendwo angekommen sind, darin, das Band nicht ganz reißen zu lassen, sich nicht selbst zu verschanzen und von der Welt abzusondern.
Der Weg vom Grübelzwang zur Reflexion geht über Stereotype und Orientierungsgrößen, die man qua Herkunft in sein Denken eingebaut hat und dann irgendwann mal infrage stellt. Wie weit es sinnvoll ist, die Grenze nach außen zu schieben oder wo diese Fragen sich verselbstständigen und einem den Boden wegziehen, findet irgendwann jeder für sich heraus. Ratgeber für diese Welt gibt es nicht mehr, weil man die Trampelpfade schnell verlässt. Das macht die Sache spannend und immer auch ein wenig einsam.