Kafka Statue

Kafka vereinte in sich komplizierte Verworrenheit bis zur kafkasken Ausweglosigkeit, brachte diese aber zugleich so präzise auf den Punkt. wie kein anderer. © VasenskaPhotography under cc

Vom Grübelzwang zur Reflexion kann unser Denken reichen und unser Leben dadurch in die Depression stürzen oder extrem bereichern und in höchste Höhen treiben. Wir alle tun es und das nahezu unablässig, wir sind geradezu zum Denken verdammt, in welcher Erscheinungsform auch immer. Die allerdings ist ziemlich entscheidend und ob der Grübelzwang nun ein Auslöser oder eine Folge von Depressionen ist, er gehört in jedem Fall dazu.

Fragt man sich ganz grundsätzlich, was das Denken überhaupt ist, so findet man zwar Definitionen, aber bei einer Untergrenze ist man sich noch immer herzlich uneinig. Wo beginnt unser Denken? Für die einen ist Denken tatsächlich gleichbedeutend mit Reflexion, das heißt Denken bedeutet sagen zu können, was man aus welchem Grund macht, alles andere ist für diese Fraktion, Neigung, Treib oder dergleichen.

Aber wenn wir aus der Säuglingsforschung eines wissen, dann, wie ungeheuer komplex schon die Innenwelt von Babys ist und wie ungemein viel sie von Anfang an lernen. Auch wenn das im präverbalen Bereich stattfindet, fällt es schwer sich vorzustellen, dass das kein Denken sein soll. Wenn das Denken aber ein Wiedererkennen von Mustern ist, dann kann in Grunde auch die App eines Smartphones denken, wenn sie uns sagt, ob wir einen Pilz im Wald essen können oder nicht oder welchen Baum wir da vor uns haben. Denn was machen wir eigentlich anderes, wenn wir unser irgendwann mal gelerntes Wissen über Bäume aus dem Allgemeinen auf das Konkrete übertragen und zu dem Baum „Birke“ sagen, weil er einen weißen Stamm hat. Wir scannen Bäumen, nach ein paar Parametern, wie Größe, Rinde, Blatt und Frucht, nichts anderes tut eine App auch. Der Unterschied ist wiederum, dass wir wissen, was wir da tun – nämlich versuchen zu bestimmen, welcher Baum das ist – während die App einfach nur tut, ein Programm ausführt und nicht gleichzeitig auch versteht was (und warum) sie es tut.

Explizites und implizites Wissen

Doch nur als Denken gelten zu lassen, was man lückenlos begründen kann, ist ein Spiel was nicht aufgeht, denn man kennt die Unterscheidung zwischen expliziten und implizitem Wissen. Explizites Wissen ist das, was man lückenlos begründen kann, implizites Wissen ist nahe mit den Begriffen des Könnens oder der Intuition verwandt und trifft auf Menschen zu, die sich auch noch als Experten von einer Ahnung leiten lassen Ärzte, Anwälte, Psychotherapeuten, Musiker, die selbst nicht immer begründen können, warum sie tun, was sie tun, doch einem erfahrenen Operateur das Wissen abzusprechen, wäre nun auch nichts, was sich gut begründen ließe.

Es gibt also Menschen, mit eindeutigen Fähigkeiten, die bis in Spezialbereiche etwas können, wo andere scheitern, aber selbst nicht in jedem Moment genau sagen können, was sie da tun. Aber dass das geschieht, ohne zu denken, ist wiederum nahezu undenkbar. Interessant ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Denken und Intuition, der wir uns später widmen.

Doch zunächst zu jenen Bereichen, in denen uns das Denken runter zieht:

Der Grübelzwang – Pathologisches Denken

Der Grübelzwang ist eine Form pathologischen Denkens, wobei nicht der Inhalt der Gedanken gestört ist, sondern das Problem liegt darin, dass man zu keinem Ende der Gedanken kommt. Denken ist normalerweise dafür da, dass wir uns ein Problem vorlegen, das wir im Geiste so lange drehen, wenden und es von verschiedenen Seiten betrachten, bis wir eine Lösung gefunden haben, oder aufgeben und den Kram zu den inneren Akten legen.

Nicht so beim Grübelzwang. In einer fiesen und zermürbenden Endlosschleife tauchen dabei die immer gleichen Probleme auf, die man dreht und wendet, ohne von der Stelle zu kommen. Wie in einem Spinnennetz oder unendlichen Labyrinth scheint man sich im eigenen Denken verheddert oder verlaufen zu haben und wie zum Hohn startet man oft am nächsten Tag oder kurze Zeit später wieder mit dem selben ausweglosen Szenario, alles erscheint unendlich zäh, kompliziert und auf lauter blinde Enden hinauszulaufen, wie in einem von Kafka entworfernen Szenario. Dabei sind Grübelzwänge keine Gedanken, die man mal eben so hat, die flüchtig sind, wie Gedanken eben so sind, sondern, die verfolgen einen, die drängen oder zwingen sich eben immer wieder auf, rauben einem dem Schlaf und machen mürbe, manchmal treiben sie zur Verzweiflung. Man kommt an keinem Ziel an, aber auch nicht an den Punkt, an dem man sagt: „Dann eben nicht“ und die Dinge innerlich wegschließt und abhakt.

Es gibt andere Formen pathologischen Denkens, aber der Grübelzwang soll hier exemplarisch für eine Variante des Denkens stehen, die Leiden verursacht.

Vorgestanztes Denken – Das kleine Glück?

Wie wir feststellten, wissen wir nicht genau, wo die Untergrenze des Denkens verläuft, was genau schon Denken ist und was noch nicht. Wir haben gesehen, dass es schwierig ist, jemandem das Denken abzusprechen, der etwas sehr gut kann, aber nicht genau sagen kann warum er etwas tut. Dieses Wissen, warum man etwas tut, kann man Verstehen nennen. Die App erkennt Bäume vielleicht besser als wir selbst, aber sie versteht nicht, was sie da tut. Wir wissen vielleicht nicht genau welchen Nadelbaum wir da vor uns haben, aber wir wissen, dass wir gerade dabei sind oder es zumindest versuchen, Bäume zu bestimmen.

Und wir wissen stets einen Grund dafür anzugeben, was wir gerade tun und warum wir das machen, auch wenn es ein Klassiker von Freud ist, nachgewiesen zu haben, dass unsere Begründungen durchaus nicht immer richtig sind.

Nehmen wir also mal an, wir haben die Aufgabe, immer wenn ein rotes Licht aufleuchtet, einen Knopf zu drücken, zum Beispiel im Rahmen eines Experiments oder einer Arbeit, der wir nachgehen. Wir tun dies zuverlässig und dann fragt uns jemand, was wir da eigentlich machen. Wir sagen es. Dann werden wir gefragt, warum wir das machen. Nun, wenn wir nicht weiter nachgefragt haben, können wir nur sagen, dass wir es tun, weil uns gesagt wurde, dass wir es tun sollen. Wir tun also auch etwas, wissen aber in dem Moment ebenfalls nicht warum. Vielleicht war es uns einfach nicht wichtig nachzufragen, vielleicht wollten wir jemandem einen Gefallen tun, vielleicht haben wir nicht damit gerechnet mit der Frage nach dem ‚Warum?‘ konfrontiert zu werden. Nun, wir wissen es zwar nicht, wir könnten es aber immerhin wissen. Wir hätten nachfragen können. Und wir könnten: „Es war mir nicht wichtig, näher nachzufragen“, durchaus als gültigen Grund angeben.

Aber wenn wir nur ein wenig komplexer werden, dann finden wir viele vorgestanzte Bauteile, von denen wir viele einfach übernommen haben, ohne uns immer ganz genau zu fragen, warum wir das tun. Für viele Kinder von Eltern aus einem Handwerksbetrieb in vierter Generation war der Beruf oft schon mit der Geburt klar, bei Anwälten oder Ärzten findet man häufig ähnliches, immer mit dem guten Argument, dass man ja etabliert ist und die Nachkommen davon profitieren können. Ob man darauf Lust hat, ist eine Frage, die dabei nicht immer erörtert wird. Vielleicht schluckt man auch, ohne sich selbst wirklich zu fragen, die Begründungen der anderen, redet von Tradition, festem Kundenstamm und dergleichen und findet das alles ganz vernünftig. Manchmal passt das zur inneren Überzeugung, manchmal sind es reine Glaubenssätze.

Aber ab wenn denkt man auf dem Weg vom Grübelzwang zur Reflexion eigentlich selbst? Pure Verweigerung kann ja auch gedankenlos sein und aus einem Affekt oder reinem Widerspruchsgeist entstehen. Sie ist nicht besser, als gedankenlose Zustimmung, man steht dann nur auf der anderen Seite oder verweigert sich aus Prinzip, weil man sich allem aus Prinzip verweigert.

Was man bei uns oft als Denken ansieht ist ein Zusammenbauen eines Puzzles mit mittelgroßen Stücken oder eines Bausatzes aus Fertigbauteilen, die am Ende irgendwie gut zusammenpassen und im besten Fall ein schönes Bild ergeben, aber die Frage ist, ob es nicht auch ganze anderen Bilder gibt, als das vorgestanzte. Die Kraft der Konventionalität liegt darin, dass sie ihren Anhängern eine gewisse Sicherheit gibt schon das Richtige zu tun, andere kommen schließlich zu den gleichen Schlüssen und sind auch glücklich und erfolgreich, außerdem ist das Leben kein Wunschkonzert, so hört man. Man will heute nicht zum Mainstream gehören, doch mindestens das kleine Glück ist hier zu finden, in der Konventionalität und Anpassung an übliche Normen.

So richtig ist man bei dem Bausatz-Denken noch nicht in der Reflexion angekommen, aber auch die ist nicht ohne Tücken.

Reflexion

Mann sitzt neben Zelt auf Gebirgswiese

Schön, aber einsam, so wird die Sphäre der Reflexion oft erlebt. © Theo Crazzolara under cc

Die Reflexion geht immer weiter und fragt immer weiter, lässt sich nicht mit Floskeln abspeisen sondern macht auch hier nicht Halt. Sie ist philosophisches Denken im eigentlichen Sinne. Der Bewusstseinsforscher Ken Wilber beschreibt es so:

„Das Auftauchen der formal-reflexiven Basisstruktur eröffnet die Möglichkeit der D-5-Selbstentwicklung: eine hochdifferenzierte, reflexive und introspektive Selbststrukturierung. Das D-5-Selbst ist nicht mehr unreflektiert an soziale Rollen und konventionelle Moral gebunden; zum ersten Mal kann es sich auf seine eigenen individuellen Prinzipien von Vernunft und Gewissen stützen (Kohlbergs postkonventionelles, Loevingers gewissenhaft-individualistisches Selbst etc.). Zum ersten Mal kann das Selbst eine mögliche (oder hypothetische) Zukunft konzipieren (Piaget) mit ganz neuen Zielen, neuen Möglichkeiten, mit neuen Wünschen (Leben) und neuen Ängsten (Tod). Es kann mögliche Erfolge und Misserfolge abwägen auf eine Art, die es sich zuvor nicht vorstellen konnte. Es kann nachts wachliegen vor Sorge oder Begeisterung über alle seine Möglichkeiten. Es wird Philosoph, ein Träumer im besten und höchsten Sinn; ein innerlich reflexiver Spiegel, staunend über seine eigene Erkenntnis. Cogito, ergo sum.

„Identitätsneurose“ bezeichnet spezifisch alle Dinge, die beim Auftauchen dieser selbstreflexiven Struktur schiefgehen können. Ist sie stark genug um sich von Regel/Rollen-Geist freizumachen und für ihre eigenen Gewissensprinzipien einzustehen? Kann sie, wenn nötig, den Mut fassen, nach einer eigenen Melodie zu marschieren? Wird sie es wagen, selbst zu denken? Wird sie von Angst und Depressionen erfasst angesichts ihrer eigenen Möglichkeiten? Diese Dinge – die leider von vielen Theoretikern der Objektbeziehungen auf die D-2-Dimension von Trennung und Individuation reduziert werden – bilden den Kern des D-5-Selbst und seiner Identitätspathologie. Erikson (1959, 1963) hat die vielleicht definitiven Studien über die D-5-Selbstentwicklung geschrieben („Identitiät vs. Rollenkonfusion“). Hier kann nur die Beobachtung hinzugefügt werden, dass philosophischen Probleme ein integraler Bestandteil der D-5-Entwicklung sind und philosophische Erziehung ein integraler und legitimer Bestandteil der Therapie auf dieser Ebene ist.“[1]

Die Gefahr wieder zurück zu fallen, in die Welt der bequemen Versatzstücke, aber auch in die emotionale Nestwärme des Mainstream ist eine reale Kraft und der Weg in die Philosophie, die den Anspruch hat mehr zu sein, als technische Erbsenzählerei ist nicht einfach, auch und vor allem zu Beginn nicht, wie der Philosoph Daniel-Pascal Zorn in Es gibt keinen Weg in die Philosophie ausführt. Es ist eher ein Sprung, als ein Weg und wie Zorn berichtet, ist der Philosoph immer auch ein Ärgernis für andere und manchmal auch für sich. Man könnte es leichter haben, in der Tat.

Dennoch ist es für einige nicht attraktiv im Mainstream zu verharren, gerade wenn sie jung sind und der Idealismus blüht, was wunderbar ist. Doch bei vielen Versuchen scheitert es daran, dass man zur Antithtese, zum Dagegensein und zum Widerspruch aus Prinzip gelangt, aber dann nicht mehr weiter. Man bleibt in der kritischen Haltung stecken und wird zum Wutnbürger oder Skeptiker, über die dann Karl-Otto Apel schreibt:

„Der Skeptiker – als Repräsentant philosophischer Aufklärung – kann mit scheinbar guten/oder wirklich guten Gründen jede Form der faktischen Sittlichkeit in Frage stellen und mit großem existentiellen Risiko auch verleugnen; aber, wenn es ihm gelingt, zu Ende zu denken (den „Skeptizismus zu vollbringen“ bzw. – frei nach Kohlberg – die Krisenstufe 4 ½ der „sophistischen“ Aufklärung hinter sich zu bringen), so kann er einsehen, dass er das Prinzip der Moralität im Sinne der Diskursethik nicht rational (d.h. nicht ohne einen performativen Selbstwiderspruch zu begehen) verleugnen kann. Dann hat er jenen Vernunftsmaßstab der Moralität gewonnen, den Habermas selbst in seiner Auseinandersetzung mit Bubner (1984) so überzeugend gegen die substanzialistische Versuchung verteidigt hat.“[2]

Was aber heißt das alles für den Alltag, für uns und die Fragen nach der Reflexion? Reflexion ist kostbar, begeisternd, aber auch anstregend. Reflexion heißt, sich mit den vermeintlichen Gewissheiten nicht zufrieden zu geben – mit denen beider Seiten nicht – bis die Fragen so gründlich und gewissenhaft geklärt sind, oder man keine weitergehenden Antwort mehr finden und ein Weiterfragen selbst idiotisch würde, das heißt zu einem Akt, der sich nicht mehr rechtfertigen lässt. Das passiert wenn man wie ein Kind ständig „Aber warum?“ fragt, oder wenn man alles infrage stellt, um zu provozieren. Die Frage, mir der Bitte um Rechtfertigung, warum man seine Frage für sinnvoll hält, ist durchaus auch erlaubt.

Für den Einzelfall, also die Frage, ob man Medizin studieren sollte, weil der Vater diese gut gehende Praxis hat, wäre zu klären, was man wirklich will und kann und inwieweit das mit einer Nachfolge in Einklang zu bringen wäre, oder nicht. Geht es mir darum, dass der Beruf unbedingt Berufung sein muss oder reicht es, gut zu verdienen und dann entspannt in der Freizeit seinen Hobbys nachzugehen? Oder ist das viel zu wenig Freiraum? Was will ich, was soll ich, wie hängt das eine mit dem anderen zusammen? Was würde des bedeuten, die Eltern zu enttäuschen? Wären Sie enttäuscht?

Bei aller Fragerei: Wo sollte ich nicht mehr fragen? Man kann auch alles zu Tode reiten, drehen und wenden und noch mal bereden und irgendwann ist das dann eher wieder Grübelzwang als Reflexion. Deshalb: Wo ist das legitime Ende?

Intuition

Das muss jeder selbst entscheiden und das unterscheidet die Reflexion deutlich von dem Denken in Puzzleteilen und Versatzstücken. Man kann, darf und muss sich selbst den Punkt erlauben, an dem es genug ist mit den Informationen und Fragen, an dem hinreichend geklärt ist, was man klären wollte. Es bringt in den Bereich des reflexiven Denkens automatisch eine subjektive und intuitive Komponente hinein, aber damit auch automatisch Verantwortung für das, was man tut und lässt und einen gewissen Zwang sind selbst immer genauer kennen zu lernen.

Die Frage ist, ob ich nun alles weiß was ich wissen muss, um mir ein Bild zu machen und vernünftig entscheiden zu können. Unter Berücksichtigung alle der Beratungen, Gespräche und aller Literatur, aber irgendwann muss das Ende und eine vorläufige Entscheidung kommen und sei es nur, dass man die Antwort vorerst vertagen muss, weil man keine Entscheidung treffen kann. Das für sich festzustellen, heißt die eigene Entscheidung zu verantworten und bedeutet gleichzeitig auch eine immense Freiheit.

Aber ist das dann nicht nur ein Trick? Wer so fragt, zeigt, dass er in der Welt der Reflexion noch nicht angekommen ist, denn wer sich in der reflexiven Sphäre bewegt, tut das nicht um des Vorteils willen oder um jemanden hinters Licht zu führen, sondern aus einen inneren Bedürfnis heraus. Man kann nicht anders. Oft sieht man es gerade bei Geisteswissenschaftlern oder Philosophen, die – außer sehr wenigen Stars – lausig bezahlt sind und dennoch voller Elan ihr oft karges Leben leben. Am Lohn kann es im Land der Dichter und Denker nicht liegen.

Man verliert ein Stück weit die Fähigkeit und Lust, sich selbst zu betuppen und aus diesem Grund tut man es auch mit anderen nicht. Es bringt nicht viel andere hinters Licht zu führen, weil man in dem Moment, wenn es einem um Erkenntnis geht, nichts davon hat. Erkenntnis steht dann oberhalb von Anerkennung und Erfolg, die man durchaus genießen kann, die aber nicht das primäre Ziel sind.

Es gibt Menschen, die das prinzipiell anders sehen und die Welt nur als große Trickserei, als Machtkampf, der immer über das Streben nach Erkenntnis dominiert, dieser Sicht haben wir uns in Macht und Wahrheit in der heutigen Zeit gewidmet.

Denkgebäude in ihre Zutaten

Man kann nicht alles hinterfragen. Schon deshalb nicht, weil jedes Kind in eine Welt hineingeboren wird, die bereits gedeutet ist. Sprache, Überzeugungen, verbale und nonverbale, Herangehensweisen an die Welt und ihre Bewohner bekommt jedes Kind aus seinem direkten Umfeld mit.

Man sollte auch nicht alles hinterfragen, denn das hieße, dass man das Rad immer wieder neu erfinden muss, in jedem Leben. Es ist schön und bequem an Traditionen anknüpfen zu können. Doch wir greifen nicht nur gerne auf Strom, Wasser das dem Hahn, Kommunikationstechnik und Heizung zurück, sondern eben auch auf Erkenntnisse in im Laufe der Zeit gewonnen wurden. Wissen um dies oder das, von binomischen Formel, über die Dichte des Goldes bis zur Gesellschaftstheorie oder wie man einen guten Pudding macht. Wir erben die Berechtigung, dieses Wissen der Vorfahren zu verwenden, insbesondere dann, wenn wir die Ideen verstanden haben.

Und das sind nicht nur abstrakte Ideen, sondern die Kombination aus Ideen, Praktiken, Gewohnheiten und Einstellungen, die damit implizit verbacken sind (etwa im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher Konventionen oder Tabus), sie machen den Kohl fett und bringen uns zu jenen Versatzstücken des vorgestanzten Lebens, die wir uns dann zu einem passenden Ganzen zurechtlegen, zuerst allerdings ebenfalls eher zurecht gelegt bekommen. Wir finden darin verborgen implizite Prämissen, die dann logisch folgerichtig kombiniert werden.

Reflexion heißt sich zu den Prämissen, zu den Grundannahmen der eigenen Weltsicht konsequent vorzuarbeiten und dann noch mal zu fragen, was davon eigentlich wirklich gesichert ist. Dabei kann einem allerdings schwindelig werden, denn dort angekommen, werden unsere Überzeugungen noch mal zur Bearbeitung vorgelegt. Dabei lernen wir aber nicht nur Theorien kenne, sondern uns selbst und das ist durchaus zweischneidig, wie Otto Kernberg ausführt:

„Ich stimme Ihnen zu, dass Selbstreflexion und eine ehrliche Suche nach den unbewussten Motivationen das Wissen und den Sinngehalt des Lebens bereichern. Man sagt: „Nur ein erforschtes Leben ist lebenswert.“ Und dabei hat die Psychoanalyse geholfen. Diese forschende Selbstreflexion nach unbewussten Motivationen kann nicht nur zu größerer Selbsterkenntnis führen, sondern kann auch helfen, sich – zumindest teilweise – von den destruktiven Aspekten unterdrückter Konflikte zu befreien. In dieser Hinsicht helfen die Selbstreflexion und die ehrliche Suche nach den eigenen Motivationen der Spiritualität, doch macht dies nicht unbedingt glücklich; es bringt auch den Schmerz und Kummer der Entdeckung, dass wir weniger ideal sind, als wir von uns glauben möchten.“[3]

Die Dauerbotschaft spiritueller Lehrer ist ebenfalls, dass die Motivation mit Spiritualität zu beginnen, eine andere ist, als man anfangs meint. Es kommt nie derjenige an, der am Anfang los marschiert ist. Die Tiefen-, dynamische oder aufdeckende Psychologie; die Philosophie, wo man sie nicht als reine Klärung von Begriffen reduziert, sondern darunter tatsächlich die Lieben zur Weisheit versteht, die immer Lebensweisheit ist; die Spiritualität, wo sie nicht zum Glauben gemacht wird; vielleicht noch manche Formen der Kunst und seltener, der Wissenschaft, statten uns mit Möglichkeiten aus, unser reflexives Potential zu entfalten, die Welt und gleichzeitig uns selbst immer besser kennen zu lernen.

Der Lohn ist, dass das Leben zu prickeln beginnt, man weiß, wofür man morgens aufsteht. Die Lust nach Erkenntnis ist wie eine Droge, man sieht Zusammenhänge in der an sich eher zufälliger oder von fremden Mächten gesteuert wirkenden Welt, die man vorher nie gesehen hat, gleichzeitig wird die Welt und die Rollen, die man ihr spielt, immer komplizierter. Die Gewissheiten der anderen verliert man ein Stück weit. Es wird nicht immer verstanden, warum man sich mit so etwas abgibt, wo das Leben doch auch viel leichter sein könnte. Das ist der Sprung, den man machen muss. Man kann schlecht übersetzen, was man daran interessant findet, weil viele Erklärungen auf erstaunte und oft verständnislose Blicke stoßen. Man ist ein Exot, für das Partygespräch sind die Themen oft ungeeignet und so besteht die Herausforderung für diejenigen, die nach dem Sprung irgendwo angekommen sind, darin, das Band nicht ganz reißen zu lassen, sich nicht selbst zu verschanzen und von der Welt abzusondern.

Der Weg vom Grübelzwang zur Reflexion geht über Stereotype und Orientierungsgrößen, die man qua Herkunft in sein Denken eingebaut hat und dann irgendwann mal infrage stellt. Wie weit es sinnvoll ist, die Grenze nach außen zu schieben oder wo diese Fragen sich verselbstständigen und einem den Boden wegziehen, findet irgendwann jeder für sich heraus. Ratgeber für diese Welt gibt es nicht mehr, weil man die Trampelpfade schnell verlässt. Das macht die Sache spannend und immer auch ein wenig einsam.

Quellen