Sexuelle Superreize lassen uns zum Spielball eines gefräßigen Belohnungssystems werden

Pornodreh

Eindeutig, grell und schnell belohnend, sind auch die Reize der neuen sexuellen Revolution. © Justin Hall under cc

Heute stehen sexuelle Superreize der Pornografie und unverbindliche und käufliche Sexkontakte rund um die Uhr und über den heimischen Laptop, Tablet oder Smartphone steuerbar in Hülle und Fülle zur Verfügung. Sex ist dabei der mit Abstand stärkste natürliche Aktivator, vor allem des männlichen Lustzentrums und wird dabei nur noch von Drogen wie Kokain getoppt.

2014 entdeckte ein Forscherteam in Cambridge, dass die Gehirnaktivitäten von Sex- und Kokainsüchtigen beim Anblick ihres Suchtmittels ganz ähnlich reagieren. Dabei arbeitet unser Belohnungssystem unspezifisch wie ein stumpfes Messer nach besagtem archaischen Alles-oder-Nichts-Prinzip. Einmal auf „An“, oder besser ausgedrückt auf „Geil“, geschaltet, wird ein kaskadenartig evolutionär eintrainiertes Reiz-Antwort-Muster freigesetzt, das nach sexueller Befriedigung sucht.

Männer und Frauen reagieren bei der Darreichung von Pornografie gleichsam mit einer starken sexuell-genitalen Aktivierung. Bei Frauen nimmt innerhalb weniger Minuten die Beckendurchblutung zu, die Klitoris und die Schamlippen schwellen an, die Scheide wird feucht, die Gebärmutter stellt sich auf und die Brüste werden größer und steifer. Beim Mann kommt es zu einer Erektion, der Hodensack zieht sich zusammen und die Hoden werden dabei näher an den Körper gezogen. Die Atemfrequenz steigt ebenso wie der Blutdruck und die Muskulatur nimmt an Tonus zu, während die Haut sich leicht rötet und die Pupillen sich weiten.

Bei dem Bewerten unterscheiden sich Männer jedoch signifikant von Frauen, denn Männer erleben die körperliche Erregung zumeist stimmig zu ihrem subjektiven Lustempfinden, während Frauen irritiert sind, wenn sie eine Diskrepanz zwischen körperlicher Erregung zu für sie abstoßenden Pornosequenzen erleben. Dies liegt vermutlich an einem über Jahrtausende antrainierten Schutzprogramm, das Frauen selbst bei körperlichen Übergriffen wie Missbrauch und Vergewaltigungen vor Schmerzen und Verletzungen bewahrt.

Logischerweise ist unserem Stirnhirn bewusst, dass in der Pornografie nicht die Realität abgebildet wird und wir hier vor unseren Monitoren lediglich sexuelle Trockenschwimmübungen aus der Konserve machen. Wenn sich das Ergebnis nur nicht so verdammt gut und befriedigend anfühlen würde! Wir haben mit den Angeboten im Internet einen mächtigen Hebel in die Hand bekommen, um unser archaisches Lustzentrum völlig autonom ohne Bindungspartner mächtig in eruptive Schwingungen zu versetzen.

Sexsucht ist eine Stoffwechselstörung des Dopaminhaushaltes im Gehirn

Im Übermaß genossen, gehen Verhaltenssüchten, zu denen auch Sex- und Pornosucht gehören, mit einer Stoffwechselstörung des Dopamin-Haushaltes im Gehirn einher, das evolutionär auf derartig hohe sexuelle Dauerstimuli nicht ausgerichtet ist.

Nach ersten Schätzungen liegt die Zahl von weltweit Sex- und pornosüchtigen Betroffenen ähnlich hoch wie die von Diabetes Mellitus. Sie hängt maßgeblich mit der zeitlichen Verfügbarkeit von schnellem und kostengünstigem Internet zusammen und kennt weder Alters-, Bildungs- noch Ländergrenzen. Selbst Königshäuser, Politiker und Prominente aus Funk und Fernsehen bleiben davon nicht verschont, wenn man den Enthüllungen der Medien Glauben schenken darf.

Weltweit kommt es aktuell zu einem Aufhorchen, denn die Anzahl von Berichten über gravierende gesundheitliche, partnerschaftliche und berufliche Schwierigkeiten durch Verhaltenssüchte nehmen rasant zu. Porno- und Sexsüchtige sind die besten Kunden der Pharmaindustrie, denn sie reagieren auf natürliche Reize nur noch abgedämpft und unterstützen eine mangelnde Potenz oftmals schon in jungen Jahren mit Potenzmitteln.

Wissenschaftliche Publikationen bringen immer mehr Licht in die Dunkelheit, auch wenn nur schwerlich mit der atemberaubend dynamischen Entwicklung Schritt zu halten ist. Im Gegensatz zum Übergewicht, das für alle ab einem gewissen Zeitpunkt sichtbar wird, konsumieren Junkies im Triebmodus aus Scham und Unwissenheit häufig unsichtbar im Verborgenen. Es dauert in der Regel Jahre bis Jahrzehnte bis die Symptomatik zum Vorschein kommt, dann oftmals im fortgeschrittenen Stadium und zu spät, um die Notbremse zu ziehen. Von daher sind die Berichte, die wir aktuell hören, nur der Gipfel des Eisberges, denn viele Einzelschicksale und Doppelleben sind noch unsichtbar und liegen unterhalb der Oberfläche.

Sexfasten ist eine Option, seine Sinne für natürliche Reize zu schärfen

Die Verbreitung von fundiertem Wissen, präventive Maßnahmen und Möglichkeiten zur Früherkennung in einem auf Verhaltenssüchte sensibilisierten Gesundheitswesen wären wichtige Voraussetzungen, um die Erkrankungsrate zu reduzieren und um Betroffenen schnell und nachhaltig zu helfen. Diejenigen, die das Steuer in der Hand behalten, die sich informieren und das gewonnene Wissen in konkrete Handlungen für sich umsetzen, die es schaffen starken Reizen eine klare Absage zu erteilen und ähnlich einer Fastenzeit im Rahmen eines Reboots auf sexuelle Superreize für eine gewisse Zeit zu verzichten, um ihren Dopamin-Haushalt in Ordnung zu bringen, sind die Gewinner der Entwicklung. Sie genießen die dazugewonnene Freiheit ohne ihre Lebensziele und Werte aus den Augen zu verlieren. Die Verlierer agieren oftmals im Verborgenen und werden über Jahre hinweg zu Gefangenen ihres Suchtkreislaufes, in dem sie alles, was ihnen lieb und wichtig ist, aufs Spiel setzen.

Nach dem Motto erkennen – verstehen – handeln erwachen aktuell viele Menschen aus dem Rausch der vergangenen Jahre. Sie werden hellhörig, informieren sich und schließen sich in Gruppen zusammen, die dem Konsum von Sexualität als Ware eine konkrete Absage erteilen. Dabei spielt weniger eine Abneigung gegen Pornografie und Masturbation an sich, sondern vielmehr die bewusste Entscheidung gegen die Machenschaften der Porno- und Sexindustrie und den Schattenseiten von Sexarbeit eine Rolle. Sie wollen nicht an der Nadel der Sex- und Pharmaindustrie enden, sondern bei Zeiten bewusst gegensteuern, um für sich und andere ein Statement zu setzen.

Schauen wir einmal in die USA, dort gibt es eine immer größer werdende Gruppe an Menschen, die sich der „No-Fap“-Bewegung anschließen, um ganz bewusst auf Pornografie und Masturbation zu verzichten. Viele Menschen sehen mittlerweile einen reflektierten Umgang mit der Thematik als entscheidendes Qualitätsmerkmal bei der Wahl eines verbindlichen Partners an, zumindest für die Gründung einer Familie mit Kindern. Im deutschen Raum bin ich dabei, ähnlich der No-Fap-Bewegung, die Reboot-Initiative zu gründen. Dem Forum, das Betroffenen und Angehörigen eine Plattform für einen breit gefächerten Austausch zu der Thematik bietet, wird ein Trainingsprogramm folgen, das Menschen begleitet, die ganz bewusst einmal in der Abstinenz ihre Sinne wieder für natürliche Reize schärfen wollen.

Ein Paar, das meine Hilfe suchte, hat im Verlauf der Therapie einen wie ich finde sehr guten Deal gefunden. Der Mann, der häufig im Keller einsam vor Pornografie seine Freizeit verbracht hat, verpflichtete sich, mit Pornografie gänzlich aufzuhören. Er beklagte jedoch die starke Gewichtszunahme seiner Frau seit Eheschließung. Diese willigte daraufhin ein, parallel zu der Abstinenz des Mannes ein straffes Diätprogramm durchzuführen, in der sie ihre überschüssigen Kilogramm erfolgreich abspeckte. Somit hatten wir zwei Personen, die gleichsam in Richtung Verhaltensveränderung zogen und sie motivierten sich in der Verfolgung eigener Ziele positiv wechselseitig.

Auf Vorträgen oder in Workshops werde ich immer wieder vor allem von jungen Menschen gefragt, ob die ganze Entwicklung nicht auch etwas Positives habe. Mir liegt dann immer am Herzen, mich von denen zu distanzieren, die mit einer moralischen Keule daherkommen, Ängste schüren und versuchen, ein Schwarz-Weiß-Denken zu zementieren. Auch die triebhafte Seite unserer Sexualität ist, ähnlich wie bei Alkohol oder Süßigkeiten, weder gut noch schlecht, denn sie ist ein Teil von uns, die ihre Existenzberechtigung hat. Wichtig ist die Frage der Dosis, der Auswahl und des Umgangs, der es manchen Menschen ermöglicht, ein Gefühl der Freiheit und Leichtigkeit zu erleben, während andere in einem Gefühl von Enge und Schwere in repetitiv süchtigen oder zwanghaften Schleifen steckenbleiben.

Das „Ja“ zu etwas gewinnt erst durch ein „Nein“ zur Abgrenzung an Bedeutung

Warum sich nicht einmal durch Pornos klicken, ähnlich dem Genuss einer Praline, solange es ein Genussmittel bleibt. Wir müssen aktuell lernen, mit der Freiheit, Sex und Nahrung nach Lust und Laune konsumieren zu können, konstruktiv umzugehen. Dabei kommt in einer Zeit der Fülle der Abgrenzung und dem „Nein“ eine immer größere Rolle zu, um dem „Ja“ Kontur und Bedeutung zu geben, damit man nicht in den Tunnel rutscht, in dem aus Luststeigerung Verhaltenssüchte werden.

Die Entwicklung ist nicht mehr zu stoppen. Nutzen sie die neuen Freiheiten und Veränderungen verantwortlich, damit sich die Steine, die unaufhaltsam ins Rollen gekommen sind, nicht zu einem Steinschlag auswachsen, sondern für sie mit der Leichtigkeit und dem Move von „Rolling Stones“ daherkommen.