Die sonderbare Wende

Gibt es wirklich noch ganz andere Welten? © Anders Sandberg under cc
Detranszendentalisierung heißt das komplizierte Wort, das auf der philosophischen Ebene die eben beschriebene Marschroute ausdrückte, und bedeutet: der Geist wird abgerüstet und zur sozialen Praxis deklariert. Das ist eine gute Erklärung, der sich etliche Philosophen von Rang verschrieben haben. In diesem Sinn ist die Welt in ihrer Entwicklung schon vernünftig, aber die Vernunft, die wir dort erblicken, ist eine, die zunächst aus den Notwendigkeiten des Überlebenskampfes im Rahmen der biologischen Evolution und dann aus dem Umgang des Menschen mit der Welt geboren wurde. Die Praktiken, die sich dort etablierten, wurden tradiert und das ist ein als Summe sozialer Praktiken gedeuteter Weltgeist.
Und dann erstarkte die Neurologie, der Ast Hirnforschung wurde populär und startete mit einem lange nicht gesehenen Impact. War es nun an der Zeit die letzten Reste zu sortieren? Der Vorteil, Welt als materielles Ganzes zu betrachten, liegt auf der Hand. Die lästige Notwendigkeit die Fragen, die der Dualismus mit sich brachte zu klären, fiel nun auf einmal weg. Die Frage der wechselseitigen Beeinflussung, wie oben erläutert.
Wenn alles Materie ist, dann geht es letztlich nur noch darum, Erklärungslücken zu schließen. Denn zwischen der Welt wie sie ist (oder: woraus sie besteht = Ontologie) und dem, wie man sich Zusammenhänge erklärt (= Erkenntnistheorie / Epistemologie), besteht ein Unterschied. Man kann dadurch weiter Maschinen, biologische Körper, grammatische Regeln, die Psyche und so weiter als getrennt und eigenen Regeln folgend behandeln, mit der Idee im Hinterkopf, dass sie alle letztlich ohne Materie nicht existieren würden.
Der Geist ist damit zur Konsequenz von Welt, von einer physikalistischen Definition von Welt geworden und hat seine Eigenständigkeit eingebüßt, auch wenn man noch nicht immer erklären kann, wie das alles genau zusammenwirkt und im Zuge der Systemwissenschaften und der Chaosforschung klar wurde, dass dies vermutlich prinzipiell nicht gelingen wird. Auf die Psychologie übertragen heißt das ganz einfach, dass sich bei der Psyche alles ums Gehirn dreht.
Aber die Kombination aus ontologischem Physikalismus oder Materialismus (d.h. alles ist letztlich physisch, auch wenn es Wellen und Felder sind) und der Erkenntnis, dass man die Erklärungslücken vermutlich nie wird schließen können, ist unbefriedigend, denn nun wird die Geschichte zur Glaubenssache. Und da war noch was. Die Psyche gebärdet sich merkwürdig eigenständig. Es ist keine Frage, dass materielle Umstände die Psyche beeinflussen: Medikamente, illegale Drogen, Alkohol und selbst Kaffee sprechen eine eigene Sprache und jeder kennt irgendeine Wirkung davon. Aber umgekehrt beeinflussen auch unsere Gedanken, Deutungen und die Art, wie wir die Welt betrachten, unsere Stimmung, unsere Körperreaktionen und verändern Gehirn und Körper sogar dauerhaft.
Ist das dann nicht doch eine eigene Welt? Eines ist klar, aus den Naturgesetzen lassen sich Verkehrsregeln oder das juristische Recht nicht ableiten. Zwar widersprechen die Verkehrsregeln nicht den Naturgesetzen (falls es welche gibt, auch das ist unklar), aber sie erzwingen auch nichts. In England fährt man links, in Deutschland nicht, beides geht.
Wir sind innerliche Wesen und es besteht kein Zweifel daran, dass unsere Innerlichkeit einen hohen Grad an Eigenständigkeit aufweist und wie ein Vogel, der übers Wasser fliegt, gelegentlich von der materiellen Welt und ihrer Beschaffenheit nippt, wissend, dass da immer etwas ist, auf das man sich beziehen kann. Man muss sich wohl damit abfinden, dass man die höheren Komplexitätsstufen der Welt aus der unmittelbar darunter vielleicht noch hier und da, doch darüber hinaus nicht wird erklären können. Die vier Reiche sind Materie, Leben, Emotionen und Geist und der einst so starke Geist ist nun im Verhältnis Geist und Welt in einer schwachen Position.
Und was stimmt jetzt wirklich?
Wenn man der Frage näher auf den Grund gehen will, wird es tatsächlich ungeheuer kompliziert, aber ebenso spannend. Es tut sich gehörig etwas an der Forscherfront. Denn die Frage, was denn nun wirklich stimmt, kann man nur vor einem bestimmten Hintergrund stellen und dieser Hintergrund ist die stille Überzeugung, dass die Welt auf eine bestimmte Art und Weise fertig vorliegt. Eine Aufgabe (oder Teilaufgabe) des Geistes wäre also nun die Welt, wie sie ist, möglichst richtig zu erkennen. Abgesehen davon, dass die Welt sich stetig verändert, könnte man einen gedachten Moment herausgreifen und sagen, dass zu diesem Zeitpunkt an jenem Ort dies und das der Fall ist.
Nun gibt es den ernsthaften Einwand, dass Welt durchaus nicht (auch nicht hier und jetzt) für alle gleich ist. Und dass es eine richtige, objektive Art, die Welt zu betrachten, nicht gibt. Aber noch immer könnte man denken, dass der eine Welt eben scharf und der andere etwas verschwommen sieht, aber immer dieselbe Welt dahinter ist. Und man könnte weiter denken, dass Welt, so wie sie ist, auch ohne einen Beobachter so ablaufen würde, wie sie ohnehin abläuft. Die Ampel springt von grün auf rot, eine Meteorit verglüht am Himmel, Uran zerfällt auch ohne dass jemand zuschaut. In der Physik hat diese Idee eine Namen und heißt dort realistisches Universum. Doch es sieht so aus, als gäbe es dieses realistische Universum nicht, sondern, als hinge vieles davon ab, wie sich andere Teilchen und Wesen im Universum verhalten, kurz, der Weltverlauf steht nicht bereits fest.
Und mit Verhalten ist hier nicht nur gemeint, ob ich die Tasse in den Schrank stelle oder ob sie mir runter fällt, sondern es reicht bereits wann, wie und als was wir etwas betrachten. Dass dies Effekte auf unsere Mitmenschen hat, wussten wir bereits und es ist als soziale Wahrnehmung bekannt, doch nun meint der Philosoph Kelvin J. McQueen den Kollaps der Wellenfunktion demnächst darstellen zu können. Das wäre ein direkter Einfluss des Geistes auf die Quantenwelt.
Sollte es sich als wahr erweisen, dass wir mit unserem Bewusstsein die Materie gezielt verändern können, wäre das nichts anderes als das was man früher Magie nannte und dadurch die erneute Regentschaft des Geistes über die Materie. Doch auch die Mathematiker unter den Kosmologen sind der Ansicht, unser Universum sei ein durch und durch mathematisches.
Der junge deutsche Philosophieprofessor Markus Gabriel ist indes der Meinung, dass es die Welt als ein letztes Ganzes gar nicht gibt. Stattdessen heißt existieren bei ihm, in einem Sinnfeld zu erscheinen und davon gibt es indefinit viele. Selbstverständlich leugnet Gabriel nicht, dass es Autos, Menschen und verkalkte Adern gibt, aber diese kommen in einem Sinnfeld vor, Zahlen, Logik und Märchenwesen in anderen. Nach Gabriel sind das nicht nur andere Perspektiven, wie wir es aus den Gedanken der Postmoderne kennen, sondern ontologisch eigenständige Welten, anders ausgedrückt: es soll sie wirklich geben.
Dabei beinhaltet die Frage, was es wirklich gibt, schon eine Vorauswahl, denn Wirklichkeit bringen wir oft in einen Zusammenhang mit Materie und einem Raumzeit-Universum (das als Modell auch schon Konkurrenz bekommen hat) als einer Art letztem, großen Container. Gabriel meint allerdings, dass es genau dieses Referenzsinnfeld nicht gibt und Existenz ist für ihn keine materielle Existenz.
Damit werden auf diversen Ebenen, die sich mit Geist und Welt beschäftigen, die Karten neu gemischt und unser Bild von der Welt könnte sich tatsächlich noch einmal (es wäre nicht das erste Mal) drastisch verändern. Wir werden die Entwicklung verfolgen.