Sibylle ist Anfang 50, arbeitet in der Pflege und konsumiert Alkohol seit sie 14 Jahre alt ist. Sie hat sich dafür entschieden, einen Entzug in einer stationären Einrichtung zu absolvieren und wird aktuell weiterhin ambulant betreut. Sie hat sich dazu bereit erklärt, ihre Erfahrungen im Alkoholentzug mit psymag.de zu teilen.

Wie sind Sie denn das erste Mal mit Alkohol in Berührung gekommen und was waren Ihre ersten Erfahrungen damit?

Bei meiner allerersten Erfahrung mit Alkohol war ich noch sehr jung. Meine Mutter hat im Sommer ein Bier aufgemacht, weil sie die Wohnung geputzt hat. Da war ich vielleicht 6 oder 7. Ich habe daran genippt, fand es sehr bitter und habe es sein lassen bis ich 14 wurde. Zu der Zeit war ich bei einer Schulfreundin auf dem Land. Dort war das mit der Altersgrenze bei Alkohol nicht so streng wie bei uns in der Stadt.

Wie hat sich ihr Konsumverhalten danach entwickelt?

So mit 16 hatte ich eine Mädchen-Clique. Da habe ich schon gearbeitet. Wir haben uns dann Freitagabend bei der Kirsten getroffen. Die war Punkerin und hatte meistens schon vorgeglüht als wir ankamen. Dann sind wir weiter durch die Stadt, haben viel gelacht, sind zu McDonalds gegangen und keiner hat sich vorne getraut eine Dose Bier zu bestellen. Das war ein typischer Freitagabend. Damals hat man auch nicht so genau kontrolliert, oder wir haben andere angepumpt, ob die uns einen Cocktail ausgeben. Damit gings dann los. Die waren schön bunt und süß. Der Sonntag war dann wieder nur zum Schlafen da, damit man wieder für den Montag fit ist.

Wie sah das direkt vor dem Entzug aus?

Also im Teenie-Alter, so mit 16, ging das dann weiter. Da hat man alles ausprobiert. Als ich dann in meiner Kneipenzeit hinter dem Tresen gearbeitet habe, hat man sich teilweise einen Ekel an bestimmten Getränken angetrunken und da war eigentlich meine Hoch-Zeit. Dann war Pause und vor ein paar Jahren habe ich wieder angefangen mit Tetrapack-Wein. Da habe ich dann auch täglich so 2-3 Liter gekauft. Dann irgendwann ging kein Rotwein mehr und ich habe, bis vor dem Entzug, exzessiv Bier getrunken.

Getränkeflaschen, Gläser und fotografierende Person als Wandschatten

Mit der Zeit wird es immer schwerer die Sucht zu verstecken © Matthias Ripp under cc

Gab es für Sie einen Wendepunkt in Bezug auf Alkohol und Sucht?

Ja, zwei sogar. Vor ein paar Jahren im Ausland war ich schon Mal vier Tage im Entzug und hab davor zu Hause entzogen, weil ich übergriffig wurde. Das zweite Mal jetzt hier vor ein paar Wochen, aufgrund von Angst vor Arbeitsplatzverlust, falls ich auffällig werde. Davor wollte ich mich dann schützen. Außerdem war es mir peinlich, immer in denselben Supermärkten mit demselben Personal das Pfand abzugeben. Deswegen habe ich immer zwischen Supermärkten gewechselt und mal hier und da 8 – 14 Dosen abgegeben. Das ist auch üblich bei Suchterkrankten, habe ich in der Therapie gelernt und machen wohl viele, damit es nicht auffällt.

Warum sind Sie nach Ihrem ersten Entzug wieder rückfällig geworden?

Ich bin relativ schnell rückfällig geworden nach dem ersten Entzug. Da ich vorher zu Hause entzogen hatte und dabei keine Nebenwirkungen hatte, habe ich mir dadurch irgendwie suggeriert, dass ich wahrscheinlich doch gar kein Problem habe. Beim zweiten Mal ist mir aber aufgefallen, dass ich starke Hitzewallungen am Tag bekommen habe. Ich dachte, das käme von meiner Menopause, das war aber lediglich der Entzug am Tag. War dann doch nicht so leicht wie ich gedacht habe. Dadurch habe ich mich dann doch noch in den zweiten Entzug begeben. Es waren am Abend dann nicht sechs Dosen, sondern eher zehn. Ich merke es immer noch, wenn ich Spätschicht habe und mich nach der Arbeit mit jemandem treffe, dass ich sehr schnippisch und gereizt werde. Das ist dann eben meine normale Zeit gewesen. Das ist merkwürdig, aber auch augenöffnend.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, einen Entzug in einer dafür ausgelegten stationären Einrichtung zu absolvieren?

Weil es mir wichtig war, dass ich medizinisch überwacht werde, falls ich durch den Entzug einen epileptischen Anfall bekommen sollte.

Wie waren Ihre ersten Eindrücke?

Eigentlich recht freundlich. Auch die sogenannten „Mitinsassen“ haben nett gegrüßt. Alle waren sehr nett. Manche waren nicht so ganz in Form, die haben sich dann eher auf dem Zimmer aufgehalten, aber ansonsten waren die Patienten und auch das Personal sehr nett.

Bänke und Bäume im Park

Bei Abhängigkeit ist es wichtig, in Bewegung zu bleiben und den Alltag neu aufzubauen © Allen Chu under cc

Wie sah ein typischer Tag für Sie aus?

Man wurde meistens kurz vor sieben geweckt. Dann hat man sich fertig gemacht. Um acht Uhr gab es Frühstück. Im Anschluss gab es Medikamente, wenn man welche bekommen hat. Um 12 gab es Mittagessen und ansonsten hat man sich davor im Hof betätigt oder es war Morgengruppe. Nach dem Mittagessen gab es meistens Ergotherapie für 2,5 Stunden oder man konnte sich draußen sportlich betätigen. Um drei Uhr gab es Kaffee und Kuchen und um sechs Uhr Abendbrot. Nach jeder Mahlzeit und einmal nachts gab es Medikamente. Das Wochenende konnte man sich gestalten, wie man wollte. Wir haben meistens Wikingerschach, Badminton oder Tischtennis gespielt. Worauf wir eben Lust hatten. Ansonsten haben wir uns ausgetauscht und unterhalten. Es waren aber nicht alle so sozial, da es mir relativ schnell wieder gut ging. Abends haben wir Kniffel, Uno oder „Mensch ärgere Dich nicht“ gespielt oder eine Doku geguckt.

Das klingt strukturiert, mit vielen Freizeitmöglichkeiten. Was war denn für Sie am schwersten in der Zeit?

Das Gelände nicht verlassen zu können. Ich wollte mir mal andere Getränke oder ein Eis holen, wenn es heiß war. Das Angebot war dort etwas eingeschränkt. Das war das Einzige, ansonsten hat mir alles gut gefallen.

Was denken Sie, hat Ihnen am meisten geholfen?

Mein Willen meinen Job zu behalten und die Geschichten der Mitinsassen. Das hat mich dann schon abgeschreckt. Zum Beispiel, dass viele schon Langzeitrehabilitationen gemacht haben und trotzdem immer wieder im Entzug auftauchen. Die kannten sich schon untereinander aus Krankenhäusern oder einer Reha. Das fand ich bizarr.

Hat Sie eine Geschichte besonders berührt?

Ja, eigentlich sogar die meisten. Es gab mehrere, die eine Langezeittherapie gemacht haben und direkt wieder da waren. Das hat mich schon berührt. Ich will kein Drehtürpatient werden. Auch die harten Sachen haben mich sehr berührt. Man sieht schon, wie manche wirklich leiden im Entzug und das geht dann schon eine ganze Woche. Mir ging es zum Glück schon nach drei Tagen wieder gut.

Was hat Ihnen im Allgemeinen am meisten geholfen?

Meine familiäre Unterstützung hat mir am meisten geholfen. Auch dass ich wusste, dass ich dadurch eventuell noch ein paar Jahre bekomme, nicht krank werde, oder eine Leberkrankheit bekomme.

Was hat Ihnen aus dem Entzug und der Therapie am meisten geholfen?

Die Verbundenheit mit den Mitinsassen war in der einen Woche sehr harmonisch. Das hatte schon fast Klassenfahrt-Charakter. Auch dass wir uns Pläne gemacht haben, wie wir uns beschäftigen können, je nach Wetter. Auch die Besuche haben sehr gut getan und mich motiviert weiterzumachen. Andere Leute waren auf jeden Fall eine große Hilfe. Auch dass mein betreuender Arzt mir immer zugehört hat und einen nicht so eingestuft und abgeschrieben hat. Das Personal war generell sehr locker und hat mir viel geholfen.

Das Wort Hilfe mit Scrabble-Buchstaben auf einer Tastatur gelegt

Es ist nicht einfach, Hilfe anzunehmen und in das Leben zu integrieren © Dennis Skley under cc

Was ist für Sie jetzt der nächste Schritt?

Erstmal weiterhin ambulant betreut werden, nach Bedarf. Der ist im Moment nicht so hoch, alle zwei Wochen. Ansonsten trocken bleiben. Das ist das wichtigste für mich. Alles andere wird sich zeigen. Ansonsten noch weiterhin für mich reflektieren, was bestimmte Auslöser sind und wie sie zu vermeiden sind. Also auch präventiv handeln.

Warum haben Sie sich für eine ambulante Betreuung entschieden?

Hätte ich gewartet und mich für eine stationäre Betreuung auf die Warteliste setzen lassen, wären sechs Wochen vergangen. Da hätte ich mich wahrscheinlich schon tot gesoffen. Ich habe ja auch keine Nahrung mehr zu mir nehmen können und mir hat auch alles weh getan, von Speiseröhre bis Verdauungstrakt. So lange hätte ich nicht warten können. Da hätte ich mir einen sehr großen Schaden zugefügt. Das wollte ich nicht.

Was würden Sie anderen Leuten raten, die überlegen einen Alkoholentzug zu machen?

Definitiv mit jemandem reden, der einen kennt. Am besten lange. Sich der Person anvertrauen und um Unterstützung bitten. Das ist für mich ganz wichtig. Ansonsten nicht aufgeben. Auf gar keinen Fall aufgeben.