Die Wohlgesinnten

Der brav aussehende Mann war gebildet, SS-Führer und fanatischer Judenhasser. © Bundesarchiv, Bild 183-S72707 under cc
Jonathan Littell hat in dem Buch „Die Wohlgesinnten“ die fiktive Geschichte eines kultivierten Nazis in historisch stimmigem Umfeld nachgezeichnet. Der promovierte Jurist Dr. Max Aue ist ein homosexueller, kultivierter Nazi, hört Bach, reagiert als feinsinniger Geist psychosomatisch auf die Erschießungen, deren Zeuge er ist, will, dass KZ-Insassen anständig behandelt werden, um ihre Arbeitskraft zu erhalten.
Littell zeichnet das vielschichtige Bild eines gebildeten Menschen, der dennoch überzeugter Nazi ist. Keine Bestie, kein dumpfer, denkunfähiger Befehlsempfänger.
Und auch jenseits der Fiktion und hierarchisch noch einen Schritt weiter auf den Normalbürger zugehend, hat man herausgefunden, dass es keinesfalls Psychopathen brauchte um die Funktionen der Vernichtungslager aufrecht zu erhalten, es reichten normale Narzissten und Opportunisten.
Nun, das ist lange her, könnte man sagen. Und vielleicht kamen in der Zeit des NS-Regimes viele Umstände zusammen, die sich so schnell nicht wiederholen. Vielleicht braucht es ja diese besonderen Umstände, wenn normale Menschen grausam werden.
Doch das wirkliche Problem ist, dass die Umstände gar nicht so außergewöhnlich sein müssen, um Menschen dazu zu bringen, anderen Leid anzutun, sie sogar zu foltern und zu töten. 1961 fand das berühmte sozialpsychologische Milgram-Experiment statt. In diesem Experiment wurden Versuchspersonen dazu gebracht, einem fremden Menschen immer heftigere fiktive Stromstöße als Strafe zu verabreichen (das Ganze war eine Inszenierung mit einem Schauspieler).
Das Experiment wurde in Variationen wiederholt und brachte kulturübergreifend stabile Ergebnisse hervor, die meisten Menschen traktierten den zu Strafenden am Ende sogar mit der maximalen Dosis der Stromstöße, fragende Zweifel wurden mit einfachen Formulierungen, wie: „Das Experiment erfordert, dass Sie weiter machen.“, für viele ausreichend erklärt.
Es zeigte sich eine Abhängigkeit des Gehorsams von verschiedenen Variablen. Ein guter Schutzfaktor gegen blindes Gehorsam war das Gefühl für persönliche Verantwortung im Selbstbild der Probanden. Erschreckend war, dass normale Menschen, ohne Hass oder Aversion gegenüber dem anderen, fähig und bereit waren, diese zu quälen, theoretisch sogar zu töten. Es reichten minimale Vorwände.
Zehn Jahre später wurde ein anderes sozialpsychologisches Experiment ersonnenen, das Stanford-Prison-Experiment von Zimbardo, Haney und Banks. Teilnehmer waren Studenten der Mittelschicht, ohne besondere psychische Auffälligkeiten, wie man zuvor testete. Diese wurden zufällig in zwei Gruppen aufgeteilt, Wärter und Gefangene. Die Wärter bekamen Uniformen, die andere Gruppe Gefangenenkleidung.
„Die Gefangenen erhielten Nummern, die sie statt ihrer Namen zu verwenden hatten. Diese Nummern waren auch auf der Vorder- und Rückseite ihrer Kittel angebracht. Im Falle eines Ausbruchs, so wurden die Wärter informiert, würde das Experiment abgebrochen werden. Ansonsten hatten die Wärter die Freiheit, eigenständig Regeln auszuarbeiten und alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um Ruhe und Ordnung im „Gefängnis“ zu wahren.“[6]
Das Ergebnis war, dass die an sich spielerische Lage schnell eskalierte:
„Das Experiment geriet schnell außer Kontrolle. Nach drei Tagen zeigte ein „Gefangener“ extreme Stressreaktionen und musste entlassen werden. Einige der Wärter zeigten sadistische Verhaltensweisen, speziell bei Nacht, wenn sie vermuteten, dass die angebrachten Kameras nicht in Betrieb waren. Teilweise mussten die Experimentatoren einschreiten, um Misshandlungen zu verhindern. Nach nur sechs Tagen (zwei Wochen waren ursprünglich geplant) musste das Experiment abgebrochen werden, insbesondere, weil die Versuchsleiter feststellten, dass sie selbst ihre Objektivität verloren, ins Experiment hineingezogen wurden und gegen den Aufstand der Gefangenen agierten.“[7]
Auch hier hatten die Menschen an sich freie Hand und es bestand keine anfängliche Feindschaft oder Aversion zwischen den Gruppen, wieder zeigte sich, wie weit an sich normale Menschen zu gehen bereit waren und auch vor Sadismus nicht zurückschreckten. Wenn normale Menschen grausam werden, braucht es scheinbar keine großen Anlässe.
Wie sieht es heute aus?
Terror wird heute und bei uns überwiegend mit dem IS-Terror assoziiert. Jan İlhan Kızılhan ist Orientalist und Psychiater und hat sich vor allem intensiv mit den Terroristen und ihren Opfern auseinander gesetzt und dabei beide Seiten interviewt. Anders als man denken sollte, findet man hinter den monströsen Taten keine Monster. Vielmehr sind auch hier viele Terroristen geradezu erschreckend normal.
„Die Elite des IS besteht aus Intellektuellen, mit hohem akademischem Grad. Von hohen Generälen, Offizieren bis [zu] Leuten mit Doktorabschluss in Philosophie, Religion, Medizin“, so Kızılhan in einem Interview der WDR 5 Redezeit[8].
Doch jeder totalitäre Staat, jedes Terrorregime braucht Anhänger. Und auch diese, sagt Kızılhan, der auch andere Gewalt- und Terroropfer untersuchte, sind oft recht normale Menschen, die in einem anderen Umfeld vielleicht eine normale Biographie gehabt hätten. Kızılhan benennt als Ursachen den Islam, archaische Strukturen und Erfahrungen aus Regionen der Welt, in denen im Grunde nie Frieden geherrscht hat.
Für die moderne Radikalisierung in den europäischen Städten reicht aber auch das Internet und die von vielen Kindern und Enkeln der Migranten erlebte soziale Ausgrenzung, sowie familiäre Probleme, die bei einigen Jugendlichen von einer Kränkung in Wut und Aggression umschlägt. Den Rest besorgt eine faschistische Ideologie, die zwischen Menschen und Nichtmenschen unterscheidet. Diese Ideologie versorgt Menschen mit einer Identität und das zieht besonders Leute an, die sich ihrer Identität nicht sicher sind. Diese Sogwirkung sieht man an den Konvertiten, die nach Kızılhan Aussage als IS-Kämpfer weitaus brutaler sind, da sie sich als besonders linientreu zeigen wollen, da ihnen die „natürliche“ Zugehörigkeit fehlt.[9]
Kızılhan sprach mit IS-Kämpfern im Irak und war unsicher, ob diese das Gespräch führen würden, doch er erlebte sie als ruhig und besonnen, da sie, wenn sie mit ihrer Ideologie nicht gebrochen hatten, den Interviewer als Kanal sahen, um die Botschaft, die sie für richtig hielten, weiter in die Welt zu tragen.[10]
„Wie können Sie Kinder umbringen, Sie haben doch selbst Kinder?“, fragte der Psychiater und die Antwort ging stets in die Richtung, dass die Getöteten in der Augen ihrer Mörder keine Menschen mehr waren.[11] Das ist es, was eine faschistische Ideologie vermag, in Menschen und Menschen zweiter, dritter Wahl oder gar Unmenschen zu unterscheiden.