Der merkwürdige Wunsch nach Unfreiheit
„Dass der Mensch ein moralisches Wesen ist, frei und selbstbestimmt – an dieser betagten Maxime haben Neurologen und Hirnforscher bereits gekratzt. Ihre Gegenthese: Menschliches Handeln ist festgezurrt, determiniert durch Gene und Gehirn. Daraus ergibt sich die irritierende Frage: Kann der Mensch als ausführendes Organ seines inneren Chefs eigentlich noch schuldfähig sein, schuldig werden? Der Glaube ans Determinierte macht zumindest frei, untergräbt die Moral, verleitet zur Unwahrhaftigkeit – das fanden jetzt Psychologen und Marketingexperten der nordamerikanischen Universitäten in Minnesota und British-Columbia heraus. Mehr als 150 Probanden wurden einem einfachen gehaltenen Mathe-Test unterzogen, einem Test, der außerdem zum Schummeln fast einlud und richtige Antworten mit je einem Dollar belohnte. Einige Versuchsteilnehmer bekamen vorher eine „Info-Text“, darin wurde der freie Wille als Illusion enttarnt. Ergebnis: Die solcherart informierten Probanden fühlten sich zum Schummeln viel mehr aufgelegt als die Vergleichsgruppe, der Unterschied lag bei deutlichen 27 Prozent. „Um Versuchungen zu widerstehen“, so Kathleen D. Vohs, eine der Autorinnen der Studie, „muss man daran glauben, dass man frei ist.“[2]
Das ist allenfalls die halbe Wahrheit, denn man muss nicht nur daran glauben, dass man frei ist, sondern ebenso, dass man unfrei ist. Die eigentliche Botschaft der Studie ist, dass der Glaube daran, wie es um mich steht, einen konkreten Einfluss hat, in diesem Fall auf meine moralische Ausrichtung. Auffallend ist: Wo die Religionen zunehmend an Einfluss und Stimme verloren, musste nun auch hier die Wissenschaft in die Bresche springen und den Menschen erklären, dass ihr Einfluss begrenzt ist. Nicht „Empört Euch!“, sondern „Entspannt Euch“ ist hier die Devise.
Aber wenn der moralische Kompass fehlt und man obendrein gesagt bekommt, dass es auch gar keinen moralischen Pol gäbe, ist der Schritt zur Enthemmung nicht weit. Mit Demut und Gelassenheit hat das freilich nichts mehr zu tun. Der Schritt zu einem breiteren Verständnis, dass ein gesellschaftliches Herunterdimmen der elterlichen und besonders väterlichen Strukturierung eben nicht automatisch dazu führt, dass von ansonsten gehemmten Kindern eine Zentnerlast fällt und nun alle kreativ und genial ihr Potential entfalten, ist noch nicht gegangen. In Das Lob: Zuviel des Guten?, sowie in Warum wir den Ödipuskomplex brauchen und Narzissmus in der Gesellschaft sind wir auf verschiedene Aspekte des gleichen Themas eingegangen, Interessierte sind eingeladen, es dort zu vertiefen.
Welche Strategie ist die richtige?

Die Pracht der Natur kann uns Demut empfinden lassen. © Nik Cyclist under cc
In perfektionistischen Zeiten lautet die Antwort, dass man natürlich nach Möglichkeit beides haben will, einerseits Freiheit und andererseits auch die nötige Gelassenheit. Bestimmt ist das hinzukriegen, denn nicht jedes Leben scheitert und viele bringen das, wenigstens einige Jahre, unter einen Hut. Auch macht es Spaß die eigenen Grenzen kennenzulernen und auszutesten. Ratschläge von anderen sind gut, dass man sich in der Regel nicht dran hält, ist jedoch bekannt.
Wer sich aber auch hier wieder ein flottes Optimierungsprogramm bastelt, rennt im Hamsterrad einfach nur etwas schneller. Das stärkt zwar die Ausdauer, aber man kommt dennoch nicht von der Stelle. Demut und Gelassenheit stellen sich bei denen, die ihren Burnout bereits hinter sich haben, in aller Regel von selbst ein. Aber sich in so selbstbestimmten Zeiten wie nie, in Eigenregie kaputt zu stressen, ist ein Phänomen, was Beachtung und Deutung verlangt. Längst ist der Manager in eigener Sache hier und da an seine Grenzen geraten und versteht oft nicht warum. Gemäß dem, was man gelernt hat zu tun, versucht man es nicht selten mit noch mehr Kontrolle und Effizienz, nicht erkennend, dass genau das die Zutaten sind, die einem den Schlamassel eingebrockt haben.
Und weil man es so gelernt hat, kann man nicht mal eben so aussteigen, man hat in aller Regel ohnehin keinen Plan B. Die richtige Dosis von Kontrolle und Gelassenheit zu finden, ist schon nicht schlecht. Man kann die eigenen Neigungen dabei durchaus als Symptom oder Hinweis verstehen. Wer sich in religiösen Kontexten wohl fühlt und hier kein Ehrgeizprogramm fährt, wird Demut und Gelassenheit schon halbwegs unter einen Hut bekommen, zumindest wird ihm der Aspekt der Demut nicht gänzlich fremd sein.
Wer auf den Neurodeterminismus abfährt oder allgemeiner darauf, dass das Leben entweder vorherbestimmt oder in wesentlichen Teilen nicht in Eigenregie durch freien Willen zu leben ist, sitzt im selben Boot wie der religiös Gläubige, oft zur eigenen Überraschung. Tatsächlich gibt es sogar eine Art naturalistisches Karma. Der Wunsch nach mehr Gelassenheit oder moralischer Enthemmung steht hier oft Pate. Und, wenn auch nicht immer in sehr bewusster Weise, auch nach einer Form von Demut, zu der man auch in der Begegnung mit dem Wunderwerk der Natur finden kann.
Wer hingegen alles auf Freiheit setzt und darunter nicht Willkür versteht, sondern um die Verantwortung weiß und das dennoch attraktiv findet, wird sich kaum überfordert, sondern höchstens gebremst fühlen. Er leidet dabei eher unter orientierungslosem Aktionismus, als unter wirklicher Herausforderung. Chic ist im Moment, sich als Mitglied einer Leistungselite zu sehen und sich und sein Leben weiter durchzuoptimieren. Demut und Gelassenheit hören sich da eher drohend wie eine Bremse an, zumal einem für die Demut oft der passende Adressat fehlt. Es ist eher ungünstig, dieser Mode hinterher zu rennen, wenn man eigentlich jemand ist, der gerne seine Ruhe hätte und es im Leben lieber gemächlicher angehen würde.
Demut und Gelassenheit
Demut und Gelassenheit wirken als Forderung etwas fremd, weil sie oft etwas damit zu tun haben, den Einfluss auf das eigene Leben zu überdenken. Zu fatalistische Menschen verpassen dabei manchmal die Momente, in denen sie selbst etwas am Leben ändern könnten, verkennen, dass es heißt: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Doch die gleichen Menschen überstehen Krisensituationen und Katastrophen im Leben oft besser, weil sie ohnehin nie dachte, dass alles in der eigenen Hand liegt.
Der Einfluss auf unser eigenes Leben ist begrenzt und sich das klarzumachen, ist besser als sich eisern an phantasierten Vorstellungen davon festzubeißen, was man alles selbst regeln kann und muss. Es ist gut, wenn man einen Teil der Verantwortung auch abgeben kann, denn das heißt, auch eigene Grenzen anzuerkennen und anderen Menschen oder Einflüssen zu vertrauen. Und hier ist es wie bei dem kurzen Zitat über Moral, es kommt darauf an, wie man sich entscheidet und diese Entscheidung hat reale Auswirkungen auf den Lebensweg.
Es ist eine neue Dimension, die wir noch nicht verstanden haben. Einerseits wissen wir, dass unsere inneren Entscheidungen reale Auswirkungen haben, andererseits wissen wir noch nicht, warum das so ist und wie weit dieser Einfluss reicht. Das führt beim aktuellen Stand des Wissens zu den etwas merkwürdigen Erkenntnissen, dass unser Grad an Gelassenheit steigen kann, wenn wir bereit und in der Lage sind, etwas Verantwortung zu delegieren, wie wir es oben schon formulierten. Wir haben den Stress nicht, weil wir zu wenig Kontrolle haben, sondern zu viel. Die andere nicht minder kuriose Erkenntnis ist, dass unser Einfluss aufs Leben wachsen könnte, je mehr wir auch von dieser bereit sind loszulassen. Nicht Verantwortungslosigkeit ist die Maxime der Stunde, sondern unsere oft überzogenen Ansprüche auf ein Maß zurückzuschrauben, was zu unserem Leben passt und was wir auch bewältigen können. So wachsen Demut und Gelassenheit zusammen.
Quellen:
- [1] Christian Geyer, Herausgeber und Mitautor, Hirnforschung und Willensfreiheit, Suhrkamp 2004, S.14
- [2] Der Spiegel Nr.13/22.3.08, S.57