Kränkungen sind sowohl in der Psychologie, als auch in der Umgangssprache ein gebräuchlicher Begriff, aber eigenartig wenig und dünn definiert. Im Begriff steckt das krank Machende. Kränkungen können oft tatsächlich im landläufigen Sinne krank machen, da unser Körper, wie wir immer mehr verstehen, eine psychosomatische Einheit ist.
Emotionen als Bindeglied
Emotionen sind außerordentlich komplex in ihrer Funktion. Es gibt keine einheitliche Sprachregelung, aber es macht Sinn, zwischen Affekten und Emotionen zu unterscheiden. Manchmal redet man statt Affekten auch von Grund- oder Basisemotionen. Mit Affekten ist hier das gemeint, was das Kind zu äußern imstande ist, wenn es auf die Welt kommt und noch nicht unter dem Einfluss erzieherischer oder soziokultureller Einflüsse steht. Es ist umstritten, wie viele angeborene Affekte es gibt, die Fähigkeiten Wut, Ekel, Trauer und Überraschung auszudrücken gehören zum Beispiel dazu.
Doch schnell werden diese Affekte überformt, beispielsweise dadurch, dass manche von ihnen gern gesehen sind und manche in ihrem Ausdruck unterdrückt werden. Und so hat jede Kultur auch ihre weiterreichenden Vorstellungen, die ein Mädchen oder Junge, eine Frau oder ein Mann zu sein hat und demzufolge werden manche Affekte im Ausdruck verändert, unterdrückt, andere gefördert, kurz: kulturell überformt.
So sind beim Ausdruck von Emotionen immer schon und irgendwann untrennbar mentale Konzepte, Vorstellungen, Ideale und Weltbilder mit eingebaut. Das ist gerade auch im Zusammenhang mit Kränkungen bedeutsam. Die andere Seite, mit der die Emotionen verbunden sind, ist der Körper, der in mancher Weise ein Eigenleben führt, in anderer nicht. Auch hier ist es von der Kultur und dem Individuum abhängig wie gut und genau wir unseren Körper kennen. Artisten, Sportler, Schauspieler, Qi Gong und Yoga Meister sicher besser, als der Durchschnittsmensch. Und doch heißt verstehen nicht dasselbe wie beherrschen und ist der Umgang mit diesem Gebiet ein schwieriger.
Wie schon beim Priming gezeigt, ist es auch bei den Emotionen so, dass diese keine scharfen Abgrenzungen kennen, sondern fließend in andere Emotionen übergehen können und die Erregung einer Emotion zum Teil Nebenemotionen erweckt. Und Emotionen sind, wie wir sagten, zum einen mit kognitiven oder mentalen Konzepten verbunden, zum anderen mit dem Körper und seinen Gegebenheiten und Rhythmen. Dieser Zusammenhang ist das, was Psychosomatik bedeutet. Es scheint bei Kränkungen einen hohen psychosomatischen Anteil zu geben, wir widmen uns dem später.
Was sind Kränkungen?
Wenn wir uns die psychische Seite der Kränkungen anschauen, so ist die vielleicht beste, knappe Definition die von Johann Christoph Adelung, der sie als „Ärgerniß mit Traurigkeit verbunden“ bezeichnet.[1] Wir sehen, dass hier zwei Emotionen zusammen wirken, der Ärger und die Trauer. Erst ihr Zusammenspiel macht die Kränkung aus, denn traurig kann man auch sein, wenn das Haustier stirbt, ärgerlich, wenn man sich den Kopf stößt. Wer jedoch gekränkt ist, fühlt sich getroffen, erschüttert.
Meist deshalb, weil man sich etwas anders vorgestellt hatte, als es nun gekommen ist. Eine Idee, eine Phantasie oder Vorstellung und oft eine besondere Erwartung, die wir hatten, erfüllt sich nicht, löst sich in Luft auf, fällt zusammen. Ein Geschenk, was wir liebevoll ausgesucht haben und von dem wir dachten, der andere würde sich darüber sehr freuen, kommt vielleicht nicht wie erwartet an. Das kann kränken. Wir sind traurig, weil wir dem anderen eine Freude machen wollten und ärgerlich, weil es ihn nicht freut oder er es nicht würdigt.
Kränkend ist es auch, wenn eine Leistung von uns nicht so gewürdigt wird, wie wir es meinen verdient zu haben. Etwa, wenn wir uns besondere Mühe gegeben haben, aber nur eine knappes „Danke“ hören, wenn überhaupt. Wir möchten, dass unsere Mühe und Sorgfalt beachtet wird und sind verletzt und gekränkt, wenn das nicht geschieht.
Die Grundstimmung bei Kränkungen scheint zu sein: Ich werde nicht gebührend gewertschätzt oder beachtet.
Kränkungen sind vom Selbstbild abhängig
Daran ist schon zu erkennen, dass das, was der Einzelne als gebührend oder ausreichend empfindet von seinem aktuellen Selbstbild abhängt. Wenn alles im Leben rund läuft, wird manches vielleicht gar nicht als Kränkung erfahren, was im anderen Fall, wenn einer Kränkung schon drei weitere voran gingen ganz anders sein kann. Was der eine hilfreiche Kritik empfindet ist für den anderen eine beleidigende Kränkung. Menschen mit einem gefestigten Selbstbild können besser mit Kränkungen umgehen, als solche mit labilem Selbstbild.
Hier müssen wir noch mal kurz einhaken. In dem Artikel Wie wichtig ist ein starkes Ich? wurde erläutert, dass ein starkes Ich oder gefestigtes Selbstbild oft nicht mit dem identisch ist, wie es zu sein scheint und da dies wichtig ist, wiederholen wir es noch einmal.
Ein stabiles oder starkes Ich ist nicht rücksichtslos und egozentrisch, nur auf sich und seine Ziele und Vorstellungen bezogen, sondern offen, dialogbereit und fähig Kritik anzunehmen. Seine Stärke zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es andere Eindrücke und Sichtweise in Betracht ziehen und in seine Weltsicht einbauen kann, ohne daran zu zerbrechen. Es ist eher dankbar für konstruktive Kritik und fühlt sich nicht auf den Schlips getreten.
Derjenige, der scheinbar unbeirrt seine Bahn zieht und den nicht zu interessieren scheint, was andere denken und fühlen, steht viel eher im Verdacht eine schwaches Ich zu haben, auch wenn ein oft nicht unwesentlicher Teil seiner Lebenszeit damit verbracht wird, sich und anderen das Gegenteil zu beweisen. Für ein labiles Ich ist es wichtig niemanden zu brauchen, weil der Gedanke Hilfe annehmen und dankbar sein zu müssen, unerträglich ist. Hilfe nehmen Menschen mit schwachem Ich zwar gerne an, aber nur, wenn es eine ist, die eigentlich nicht wichtig war, für die sie also meinen, nicht dankbar sein zu müssen. (Die Höflichen unter ihnen äußern zwar zuweilen Dankbarkeit, aber diese kommt eher artig, auswendig gelernt und routiniert abgespult daher, echte Freude oder Wärme bemerkt man nicht.) Die Sortierarbeit für Doofe, das was jeder kann, zu dem man selbst aber keine Lust oder keine Zeit hat, weil man sich um die wirklich bedeutenden Dinge kümmert.
Menschen mit Ich-Schwäche enthalten anderen die Anerkennung vor, die sie selbst so dringend brauchen und, um das Ganze nicht zu einfach zu machen, von der sie nicht zugeben können (und es oft auch nicht wissen), wie dringend sie sie, sowie die Anerkennung und das Lob der anderen selbst brauchen.
Narzisstische Kränkungen
Wer also mit einem pathologischen Größenselbst unterwegs ist und das Gefühl hat, irgendwie die wichtigste Person der Welt zu sein, ist natürlich in einem hohen Maße darauf angewiesen, dass andere Menschen seine Bedeutung ebenso einschätzen, wie er selbst. Das ist durchaus nicht immer der Fall und das merkt auch jemand mit einem pathologischen Größenselbst durchaus und so entstehen eine ganze Reihe skurriler Kompensationsmechanismen.
Anders gesagt: Wer besonders glänzen will, macht sich besonders abhängig. Genau das können Menschen mit narzisstischer Pathologie aber nicht ertragen und so wollen sie Lob und können es doch nicht annehmen, weil sie anerkennen müssten, dass der andere damit über eine Eigenschaft verfügt, die sie nicht haben: Sich mit anderen freuen und sie von Herzen loben und anerkennen zu können. So beißen Narzissten ständig die Hand, die sie füttert und sind gezwungen, diejenigen, die sie loben entwerten zu müssen, als ahnungslose Leute, die überhaupt nicht zu beurteilen vermögen, was man da geleistet hat. Und schon ist das erhaltene Lob nichts mehr wert. Nur von einigen handverlesenen Menschen, die sie idealisieren, möchten sie gelobt werden, die Freude und das Lob „des Durchschnitts“ lässt sie, aus genannten Gründen, kalt.
Paradoxerweise ist es aber zudem so, dass, wenn sie nicht ausreichend, also eigentlich immer, gelobt und beachtet werden, wenn man sie nicht ihrem gefühlten Status entsprechend behandelt, die Situation nicht besser wird. Sie fühlen dann sich schnell und stark gekränkt und beruhigend wirkt hier wiederum nur, wenn sie sich einreden können, dass derjenige, der sie nicht hinreichend beachtet oder gar kritisiert hat, ja ein kleiner Idiot ist, der von der Welt im Allgemeinen und dem was er kritisierte im Besonderen, keine Ahnung hat.
Warum will man so wichtig sein?
Das ist zwar einigermaßen kompliziert, aber auch nicht so kompliziert, dass man es nicht verstehen kann. Auf unsere Kränkungen bezogen heißt es: Wer groß oder bedeutend sein will, ist schnell gekränkt. Nämlich dann, wenn die anderen den gefühlten Erwartungen, die eigene Bedeutung betreffend, nicht erfüllen, weil sie sie nicht teilen. Es wäre logisch, die Ansprüche und Erwartungen einfach herunter zu drehen, frei nach dem Motto: Wer nichts erwartet, kann nicht enttäuscht werden.
Allein, die Aussicht keine herausragende Rolle zu spielen – und oft ist es nur eine phantasierte – ist noch kränkender, als die Enttäuschungen, die man als vermeintlich besonderer, aber unbeachteter Mensch ertragen muss. Einer von vielen zu sein, das geht nicht. Das pathologische Größenselbst ist ja bereits eine Kompensation, eine Antwort, ein Kunstgebilde was von der Psyche gegen das Grundgefühl der Kleinheit und Ohnmacht installiert wird. Klein, unbedeutend, unwichtig, ein Niemand zu sein und vor allem Ohnmacht zu erfahren, das ist etwas, was wir überhaupt nicht gut ertragen können.
Lieber beginnt man über die eigene Größe und Bedeutung zu phantasieren, als sich einzugestehen hilflos zu sein oder wieder werden zu können. Das ist verständlich und ein Überlebensmechanismus der Psyche. „Wenn ich von den Eltern nie beachtet werde, dann vielleicht deshalb, weil ich besondere Fähigkeiten habe, vor denen sie Angst haben.“ Das könnte so eine Phantasie sein, die dann immer mehr zu einem ganzen Ideengebäude ausgebaut wird. Da diese Phantasiewelt oft keine Rückmeldung durch die Eltern fand und die Umgebung findet, müssen die Phantasien – und damit auch die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit – immer mehr ausgeschmückt werden. Das könnte so aussehen, dass jemand in puncto Stärke, Schönheit, Intelligenz, Originalität so weit über den anderen zu stehen meint, dass diese die Überlegenheit gar nicht mehr erkennen können. „Ich bin so krass, so anders, das kann keiner verstehen.“ Nun wird man vielleicht immer noch nicht gewertschätzt, hat aber zugleich eine Erklärung dafür, warum dies nicht so ist. Man spielt einfach in einer eigenen Liga, da kommen die anderen nicht hin, darum können sie nicht verstehen, wie ich bin. Damit lässt es sich leben und damit lassen sich Kränkungen kompensieren.
Nur hat man sich jetzt in eine Situation gebracht, in der man aufpassen muss nicht mit der Realität in Kontakt zu geraten. Denn, wenn ich mich übermäßig talentiert fühle, aber an einfachen Aufgaben scheitere, ist das wiederum kränkend. Narzissten meiden daher oft das, was ihnen schwer fällt und wo sie Mühe und Anstrengung investieren müssten (wie alle anderen, auch dies kränkt sie) und fokussieren sich statt dessen auf Bereiche, die ihnen leicht fallen, in denen sie tatsächlich talentiert sind. Da das eben nur Teilbereiche des Lebens sind, werden diese als besonders wichtig angesehen, als das, was im Leben wirklich zählt, während alles andere, wo sie nicht so gut sind, entwertet wird. „Was will man denn damit? Wozu soll das gut sein, dieser Quatsch?“
Alexithymie oder emotionaler Analphabetismus
Die Gefühlswelt dieser Menschen ist von der der meisten anderen abgeschnitten, soll heißen, bei Menschen mit einem pathologischen Größenselbst finden wir eher simple Emotionen, solche die um grobe Kategorien von Erfolg und Niederlage, Gut und Böse, wertvoll und wertlos kreisen und in deren Weltbild es keine Graustufen oder Zwischentöne gibt. Die Emotionen anderer können sie nicht erfassen, darum sind sie unempathisch. Ihr Gefühlsleben wirkt zuweilen extrem und bombastisch und sie interessieren sich oft auch stark für extreme Erfahrungen. Aber auch das ist oft eine Kompensation, weil sie das reichere Gefühlsleben anderer Menschen nicht erfassen. Viele Gefühle, die andere haben, kennen sie nicht und so müssen sie diese wiederum entwerten und in ihre Gefühlswelt übersetzen. Doch mit Schwarz und Weiß lassen sich Farben nicht darstellen, es bleibt ein Abklatsch. Auch das ist kränkend. Die anderen haben ihren Spaß an so blödsinnigen Sachen. Doch wie sehr man sich auch müht und zuweilen mitmacht: Denselben Spaß, dieselbe ausgelassene Freude oder emotionale Ergriffenheit … man kann sie einfach nicht empfinden. Und falls doch, ist einem das peinlich, weil man den Verlust der Kontrolle befürchtet und obendrein, wie die anderen ist.
Alexithmyie wird diese emotionale Armut auch genannt. Wenn man von den Gefühlen anderer und auch eigenen Empfindungen abgeschnitten ist, springt oft der Körper ein. Dieser macht dann deutlich, was man emotional nicht zu empfinden vermag. Das gebrochene Herz gibt es im übertragenen, aber durchaus auch im konkreten Sinn. So ist die Hypochondrie auf eine bestimmte Art nichts anderes als ein Selbstgespräch, das die Buntheit der Welt auf „meine Körperreaktionen auf die Welt“ reduziert. Der Anteil narzisstischer Kränkungen als Auslöser psychosomatischer Reaktionen einerseits bekannt, aber andererseits „relativ wenig beachtet worden.“[2]
Was hier besonders deutlich wird, betrifft uns alle. Wir sind alle kränkbar, haben Erwartungen, die enttäuscht werden können, haben unsere Kompensationsmechanismen und eine Durchlässigkeit und Wechselwirkung zwischen Emotionen, mentalen Konzepten und Körperreaktionen. Je breiter unser emotionales Spektrum, umso besser unsere Möglichkeit mit Kränkungen umzugehen und umso weniger grandios muss unser Selbstbild sein. Auch die Therapie der Hypochondrie bedeutet, wieder mit der Welt in Kontakt zu treten, Realität gegen Phantasie, Dialog gegen Selbstgespräch einzutauschen. Alles hängt hier eng mit einander zusammen.
Elegante und weniger elegante Lösungen bei Kränkungen
Kränkungen sind vom Selbstbild abhängig stellten wir fest. Neutral betrachtet, also, wenn man die emotionale Ebene mal ausblendet, ist eine Kränkung ja erst mal eine neue und unerwartete Information. Ich sehe es so, ein anderer teilt diese Auffassung nicht und sieht es anders. Eine Ent-täuschung im wahrsten Sinne des Wortes. Weiterhin neutral oder ideal betrachtet könnte man für die Enttäuschung dankbar sein. Man hatte sich offenbar geirrt, jetzt weiß man es besser. Der andere freut sich gar nicht so über das Geschenk. Mein Chef sieht mich gar nicht als besten Mitarbeiter des Unternehmens. Ich bin nicht für alle der attraktivste Mensch.
Aber, wie wir alle wissen ist der Mensch nicht einfach nur eine Rechenmaschine, die Fehler optimiert und es beim nächsten Mal besser macht, sondern die Enttäuschung bedingt ab und zu, dass wir schwer angeschlagen sind. Vor allem dann, wenn unser Welt- oder Selbstbild tangiert wird. Änderungen im Detail nehmen wir relativ leicht hin (außer Menschen mit zwanghaftem Charakter), aber fundamentale Änderungen stellen uns vor größte Schwierigkeiten. Weil unser Selbstbild mit Emotionen verknüpft ist. Doch dies ist kein Nachteil, wie man glauben könnte, denn Emotionen machen nicht starr, sondern beweglich. Es kommt nur auf die Art und Qualität der Emotionen an.
So wäre die elegante Lösung bei einer größeren Kränkung ein kurzer Moment des Bedauerns, manchmal auch der Trauer, je nach dem, als wie gravierend die Kränkung empfunden wird. „Schade“, ist so eine Reaktion auf eine Situation, die anders gelaufen ist, als man es gerne gesehen hätte. Eine elegante Lösung, die die Mischung aus Ärger und Trauer beinhaltet und relativ undramatisch auf den Punkt bringt und verarbeitet.
Amoklauf
Uneleganter ist der Amoklauf. Die psychologischen Muster bei Amokläufen sind immer ähnlich. Ein Mensch, der nicht besonders auffällig ist, oft ein stiller und etwas zurückgezogener Außenseiter, vielleicht etwas linkisch, aber alles in allem oft kein extremer Sonderling, tendenziell sogar eher brav und angepasst, greift irgendwann zur Waffe und ist „Held“ für einen Tag, oft nur für ein paar Stunden seines, aus seiner Sicht, durch und durch verkorksten Lebens.
Bei der Ursachenforschung sieht man die anderen oft ratlos. Ja, der war schon komisch, aber dass er zu so etwas fähig ist, hätte niemand gedacht. Aus Sicht des Amokläufers finden wir einen oft über lange Jahre gekränkten Menschen. Eigentlich läuft es bei ihm vielleicht nicht anders als bei vielen anderen auch, aber vielleicht fehlen Freunde, ein offenes familiäres Umfeld, ein Hobby, bei dem man auch seine dunklen Seiten ausdrücken kann. Oft fehlt die Fähigkeit zu trauern und dazu stehen zu können. Denn das wäre eine Form der Schwäche, wie überhaupt Emotionen oft als eine Form von Schwäche gesehen werden.
Wenn schon, dann müssen es die ganz großen Emotionen sein, das Unvergleichliche, Erhabene, das, was man nicht teilen kann, während die kleinen Emotionen, das Gewusel im Alltag, Menschen mit einem pathologischen Größenselbst oft unendlich langweilt. Wie kann man sich nur mit dem unwichtigen Kram durchschnittlicher Leute abgeben und daran auch noch Spaß haben? Sie können das nicht nachvollziehen, weil sie diesen Spaß nicht empfinden und das kränkt sie erneut. Kompensatorisch werden die anderen entwertet, die belanglosen Freunden des Durchschnitts, des Pöbels. Sie haben auch den emotionalen Zugang zum anderen nicht, der aus diesem einen interessanten und spannenden Menschen machen würde. Die Eckdaten sind schnell abgecheckt: Ist der andere gefährlich, mächtig, einflussreich, originell? Dann gibt man sich mit ihm ab. Ist er einfach nur nett, solide und unauffällig, ist er langweilig. Das Interesse am anderen, die Fähigkeit sich mit ihm zu freuen und zu trauern, mitzufühlen, das alles kommt ja in der Welt eines narzisstischen Menschen nicht vor. Hier herrscht der Wunsch vor, im Mittelpunkt zu stehen, zu dominieren und zu kontrollieren und einen schnellen Eindruck von den Stärken und Schwächen es anderen zu gewinnen, um im Zweifel über den anderen triumphieren zu können (oder mit ihm zu verschmelzen und ihn zu idealisieren). Viel mehr findet da nicht statt und diese emotionale Begrenztheit ist die eigentliche Schwäche der Narzissten, die sie aus eigener Kraft nicht überwinden können.
Ein Mensch, der diesen Zugang zu anderen gerne haben würde, aber in der Realität nie erlebt, ist immer mehr darauf angewiesen in Phantasiewelten, in ideale Welten mit idealen Begründungen und Konstruktionen abzudriften. Nicht im Sinne einer Psychose mit Realitätsverlust, sondern was die Erklärungen der Motive anderer angeht. Eine beliebte Phantasie gegen Ohnmacht, Kleinheit, Kränkung und Zurückweisung ist „in Wirklichkeit“ stark und mächtig zu sein. Das ist auch vollkommen in Ordnung und eine gelinde Selbstüberschätzung ist im Leben sogar hilfreich, Tagträume sorgen dafür, dass wir besser und zufriedener leben, nur darf die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht zu groß werden. Wir sehen dem anderen auch nicht an, wie bedürftig er ist, wir wissen nicht, wie viele Demütigungen und Kränkungen er schon erfahren musste, ja häufig ist der Außenseiter auch noch derjenige, der oft gehänselt wird. Es ist vielleicht keine besondere Kränkung, die das Fass zum überlaufen bringt, die dafür sorgt, dass Phantasien der Rache immer konkreter werden und wenn der Vater dann noch Sportschütze ist. Es ist einfach die gefühlte Grundüberzeugung, dass die anderen ja gar nicht wissen, mit wem sie es hier zu tun haben, wer man eigentlich ist und dass man es ihnen irgendwann, auf irgendeinem Weg zeigen wird. Das kann dazu motivieren, der beste Sportler zu werden oder ein Konzernchef, aber eben auch ein Amokläufer. In ihrer Biographie findet man so gut wie immer eine lange Kette von Kränkungen, die nicht verarbeitet werden konnten, aber wir sehen eben nicht so leicht, wie jemand innerlich gestrickt ist.
Irgendwo zwischen „Schade“ und einem Amoklauf befinden wir uns auch und der beste Weg mit Kränkungen umzugehen, ist über viele und tiefe emotionale Antworten zu verfügen. Über eine reiche Zahl an verinnerlichten Objektbeziehungen, die wohlmeinend sind, also über innere Freunde, die einem helfen, sich realistischer und konstruktiver Kritik zu stellen und diese anzunehmen und die gleichzeitig auch einen Schutz vor unfairer und exzessiver Kritik bieten.
Deutungen sind konstruktive Kränkungen
Letzten Endes sind ja auch psychologische Deutungen Kränkungen. Diese Deutungen stellen ja ganz bewusst unser bisheriges Selbst- und Weltild infrage und bieten eine alternative Version an. Näheres dazu in: Wie wirken psychologische Deutungen? Das ist durchaus verwirrend, manchmal ein Ärgernis, mit Trauer verbunden, also eine Kränkung. Man unterstellt dem Therapeuten in der Regel nur, dass er es gut meint und idealerweise finden Therapeut und Patient in der Therapie eine tragfähige Basis damit dieses Band auch dann hält, wenn der Patient sich zwischenzeitlich falsch verstanden und gekränkt fühlt, weil der Therapeut notwendigerweise sein bisheriges Weltbild hinterfragt.
Die Kränkung als solche ist also nicht schlimm, sondern jede Revision unseres Selbst- und Weltbildes stellt notwendigerweise eine kleinere oder größere Kränkung dar. Viel wichtiger als die gefühlte Kränkung zu klären, oder ob überhaupt die Absicht bestand jemanden kränken zu wollen ist die Frage, wie jemand mit diesem Gefühl zurecht kommt. Kann er es konstruktiv nutzen, wie wir es bei einer Psychotherapie erwarten und erhoffen, ist ein kurzes Gekränktsein zu vertreten. Wenn sich jemand schnell berappeln kann, Enttäuschungen und Kränkungen nach einem kurzen „Schade“ oder einer Phase der Trauer tatsächlich hinter sich lassen kann, ist alles in Ordnung. Türmen sich die Kränkungen jedoch zu einem inneren Gebirge auf, ist das im schlimmsten Fall gefährlich und für den Betreffenden immer ein Aufruf sein Selbstbild zu überprüfen.
Quellen:
- [1] http://www.zeno.org/Adelung-1793/A/Kr%C3%A4nken?hl=krankung
- [2] Carl Eduard Scheidt, Alexithymie und Narzissmus in der Entstehung psychosomatischer Erkrankungen, in: Otto F Kernberg (Herausgeber), Hans P Hartmann (Herausgeber), Narzissmus: Grundlagen – Störungsbilder – Therapie, Schattauer 2009, S. 564