Per Striche verbundene Symbolfiguren


Unsere Beziehungen verbinden uns mit uns selbst und dem Leben. © Jayne K under cc

Die Formulierung Beziehungen und Ich erscheint ungewohnt, weil man eigentlich vom Ich und seinen oder mir und meinen Beziehungen spricht.

Die Psychologie und hier vor allem die Objektbeziehungstheorie hat als eine ihrer wesentlichen Erkenntnisse den Spieß umgedreht und die fundamentale Bedeutung von Beziehungen für die Entstehung des Ich erkannt. Das ist bis heute etwas was unseren Vorstellungen widerspricht, weil man als einzelner Mensch das Gefühl hat, man sei im Großen und Ganzen schon immer so gewesen, wie man ist. Man hat natürlich was dazu gelernt, das Ich konnte sich mangels der Fähigkeit zu sprechen noch nicht ausdrücken, aber das hat man dann irgendwann gelernt und so konnte sich das, was immer schon da war, das Ich, irgendwann artikulieren und Eindrücke sammeln.

Affekte

Ein häufiger Fehler ist, das Ich entweder sehr ausschließlich kognitiven oder Denkprozessen zuordnen zu wollen oder auf der anderen Seite sehr ausschließlich Affekten, Gefühlen oder Emotionen. Aber kognitive und affektive Prozesse durchdringen einander, während der ganzen Phase der Entwicklung.

Dabei sind Affekte oder Basisemotionen unsere Grundlage, die wir ins Leben mitbringen. Affekte liegen als Dispositionen, als Reaktionsmöglichkeiten vor. Auf Reize können wir sofort affektiv reagieren, unsere Stimmung ausdrücken. Die Mutter hat die Möglichkeit diese zu verschiedenen Reaktionen zu verstehen und sich um die Bedürfnisse des Kindes zu kümmern. Die Fähigkeit Affekte auszudrücken und zu verstehen, sowie die Schwelle, ab der ein Kind affektiv auf Reize reagiert, wie heftig und wie lange, ist uns angeboren. Schwelle, Intensität und Dauer der Affekte werden Temperament genannt.

Das Angebot der Reize wird zunächst ganz einfach sortiert in jene, die ein Säugling mag und mit denen er sich wohl fühlt. Die Nähe zur Mutter, das Nuckeln an der Brust, Ruhe, Wärme, Weichheit, sexuelle Stimulation und die Sicherheit, dass Mutter immer da ist. Das Baby sucht diese Erfahrungen und möchte sie wiederholen. Auf Trennung, Kälte, Hunger, und Schmerz reagiert das Kind mit Angst, Ärger, Wut, Ekel und dergleichen. Es möchte sie vermeiden und nicht wiederholen. Aus der andauernden Konfrontation mit angenehmen und unangenehmen Erfahrungen entstehen innere Ballungen und damit das innere Konzept von gut und böse.

Da die meisten Erfahrungen des Säuglings aus der Begegnung mit Mutter resultieren, kommt ihr eine zentrale Rolle zu. Das Konzept von gut und böse wird daher auf die Mutter übertragen und es kommt, im Kind zu einer Spaltung des Mutterbildes in eine nur gute Mutter und eine nur böse oder schlechte. Nach einer gewissen Zeit kommt das Kind in eine Phase in der es tolerieren kann, dass die gute und die schlechte Mutter eins sind und die Spaltung wird nach und nach aufgehoben.

Bei wiederholten und schweren Traumatisierungen in dieser Zeit – durch physischen oder sexuellen Missbrauch, dem Erleben müssen von physischer oder sexueller Gewalt, sowie schwerer Vernachlässigung – wird die Spaltung nicht überwunden und das Konzept von nur guten und nur bösen/schlechten Eigenschaften bleibt bestehen und wird fortan auf andere Beziehungen projiziert. Ebenfalls von weitreichender Bedeutung ist der emotionale Missbrauch und die emotionale Vernachlässigung, wenn das Kind mit seinen eigenen Bedürfnissen nicht wahr- und ernstgenommen wird. Das wird nicht dadurch verhindert, dass man dem Kind umgehend jeden Wunsch erfüllt, sondern dadurch, dass man die Bedürfnisse des Kindes erkennt und ihnen Raum gibt. Dabei kann und sollte man eigene Grenzen setzen, aber jene des Kindes eben auch achten und zu erkennen versuchen.

Ich-Identität

Werden die Grenzen chronisch misschatet wird das Bild verinnerlicht, dass der eigene Körper, die eigenen Bedürfnisse nichts wert sind und dieses Bild verfestigt sich im Kind zum Selbstbild, wird Teil seiner Ich-Identität. Zum einen dadurch, dass diese Wertlosigkeit einfach unbewusst übernommen wird, zum anderen dadurch, dass dieser gefühlten Nichtswürdigkeit ein grandioses Ich als Kompensation entgegen gesetzt wird, was ungefähr dem Unterschied zwischen einer Borderline- und narzisstischen Persönlichkeitsstörung einspricht.

Nicht nur das Ich wird, in einem häufigen Wechsel mal großartig, mal als vollkommen wertlos erlebt, was ausgesprochen verunsichernd ist. Das gut/böse Konzept wird auch auf andere Menschen übertragen. Alle Beziehungen, sofern man sie zulassen kann, werden auf der einen Seite extrem idealisiert und wenn sie nicht länger als perfekt verkauft werden können, schnell vollkommen entwertet. Auch das ist verstörend und verunsichernd.

Das Ich entsteht aus einer Achse, deren eines Ende aus einem integrierten Selbstkonzept und auf der anderen aus einem integrierten Konzept von anderen Menschen besteht, jener Menschen, die für das eigene Leben bedeutsam sind. Ein integriertes Konzept heißt unter anderem und vor allem, dass man andere Menschen und sich selbst als eigenständig in Gedanken, Gefühlen, Einstellungen, Träumen, Wünschen, Ängsten und Absichten erkennen und tolerieren kann. Das scheint einfach zu sein, doch man erlebt immer wieder, dass Menschen entweder sich selbst oder sehr nahe andere Menschen nicht so beschreiben können, dass sich ein anderer ein ungefähres Bild von ihnen machen kann. Die Beschreibungen bleiben flach, oberflächlich, allgemein und austauschbar, obwohl man sich Jahrzehnte kennt. Das heißt aber, dass ihnen die Eigenständigkeit der anderen nicht zugänglich ist, technisch ist das eine Identitätsdiffusion.

Aber ein integriertes Bild kann sich nur aufbauen, wenn das Verhalten der engsten Menschen, bei und mit denen man aufwächst, die Grenzen und Bedürfnisse anderer respektiert. Ansonsten verinnerlicht man, dass es normal ist, andere zu missachten – im schlimmen, manipulativen Fall sogar vorzugeben, besonders rücksichtsvoll zu sein –, was die so ausgelieferten Menschen zu Gebrauchsgegenständen macht. So fühlt man sich dann auch, benutzt, egal auf welcher Ebene, so sieht man andere und leider geht man später auch so mit ihnen um. Wolfgang Schmidbauer sagt treffend: „Der Wiederholungszwang ist kein Sparringspartner.“ Begriffe von Liebe, Respekt, Wertschätzung und so weiter können überhaupt nicht verstanden werden, weil man sie in der Praxis nie erfahren hat.

Erfährt man sie bei oder von anderen, empfindet man sie als fremd, bedrohlich und argwöhnt, was wohl als nächstes kommt. Im besten Fall werden sie als absolute Ausnahme angesehen, der eine Heilige in einer Welt voller Monster. Die gute Nachricht ist, dass man es später noch lernen kann, anderen Menschen zu vertrauen.

Die Gesellschaft in der man lebt und der aktuelle Zeitgeist, setzten weiteren Rahmen. Die Sprache, die wir sprechen, die Sprachspiele, durch die bestimmte gesellschaftlich Einstellungen transportiert und andere ausgelassen werden (manchmal einfach indem ein Begriff fehlt, ein anderes Mal in dem man Themen umschifft), werden vom Ich aufgenommen und zu Bausteinen die zu den engen Beziehungen hinzu kommen und eingeflochten werden. Die Blicke und Bemerkungen der anderen ermöglichen uns erst zu erkennen, wer wir sind und wo wir selbst anders sind und abweichen.

Beziehungen und Ich in Philosophie, Spiritualität, Körper und Natur

Kurz und gut, durch den verstehenden Erwerb der öffentlich vorhandenen Sprachspiele erschließen wir unser eigenes Inneres. Durch andere lernen wir uns selbst kennen. Aus familiären und in gesellschaftlichen Konventionen geronnenen Beziehungen und Erfahrungen in Peergroups und Freundschaften erfahren wir uns selbst. Doch das ist keine Einbahnstraße. Bei hinreichender Entwicklung und wenn es gelungen ist die Spaltung zwischen Kognition und Emotion, sowie gut und böse zu schließen, können wir komplex genug denken, um dann ein integriertes Ich zum Ausgangspunkt von Reflexionen werden zu lassen, die wiederum ihrerseits in die Gesellschaft hinein reichen.

Diese Ideen, dass Beziehungen die Grundlagen des Ich sind, mindestens aber, dass es sehr verschiedene Grade des Ich gibt, ist keinesfalls allein eine Sicht der Objektbeziehungstheorie. Wittgenstein, Heidegger, Austin, Strawson und Habermas sind Stimmen aus der Philosophie, die das Ich als etwas ansehen, was aus Beziehungen entstanden ist.

Beziehungen sind vielfältiger Natur. In den letzten Jahren wird, auch mittel bildgebender Verfahren immer mehr klar, dass wir Beziehungen nicht nur zu anderen Menschen aufbauen können, sondern dass, gerade wenn die Beziehung zu Menschen gestört ist, andere Anknüpfungspunkte denkbar sind. Wir können Menschen, Ideen, Tiere, Gott, di Wissenschaft lieben und unsere Spiegelneuronen werden auch beim Kontakt mit der Natur aktiv. Es gibt viele Punkte der Anknüpfung an Beziehungen zur Welt. In der Spiritualität kann es gelingen, Beziehungen zu dem Sein im Ganzen, zum Kosmos einzugehen. Jede Art der gelungenen Beziehung zur Außenwelt wirkt auf die Beziehung zu sich und zum eigenen Körper zurück.

Freud: Irrtümer und Wahrheiten

Die Objektbeziehungstheorie ist über Freud hinaus gegangen, der noch davon ausging, dass es ein fixes Ich gibt, das entweder sich oder andere narzisstisch besetzen, also in dem Fall wertschätzen kann. Die Liebe zu sich schwächt, nach dieser Idee, die Beziehung zu anderen und die zu anderen, jene zum Ich. Doch das Verhältnis von Beziehungen und Ich ist ein anderes: Wenn es gelingt andere zu lieben, profitiert das Ich davon. Beziehungen machen das Ich stärker, sie schwächen es nicht.

Je vollständiger die Liebesbeziehungen sind, umso besser. Vollständig heißt, das (bei intimen Zweierbeziehungen) erotisches Begehren, Zärtlichkeit und Eigenschaften und Einstellungen, die man beim anderen bewundert, also Werte, die man teilt, im besten Fall zusammen kommen. Es gibt jedoch auch andere Arten der Beziehungen und Freuds Einsicht, dass der Leidensdruck darüber entscheidet, was behandlungswürdig ist, bleibt richtig. Das heißt aber auch, dass man es den Menschen selbst überlässt, wie sie ihr Leben empfinden. Wenn sie mit ihrem Lebensansatz zufrieden sind, ist das unbedingt zu respektieren, selbst wenn man das Gefühl hat, es sei mehr drin.

Beziehungen stärken das Ich und im Grunde ist jede Art der Verbindung mit dem Leben, die nicht eigennützig ist, etwas, mit dem man über sich hinaus gelangt. Das tut dem Ich gut, weil es den Narzissmus abstreift. Wo, wie und wie sehr man sich auf die Welt einlässt, bleibt jedem selbst überlassen. Aber es ist gut zu wissen, dass die Hilfsangebote, therapeutischer und außertherapeutischer Art und die Koordination zwischen ihnen immer besser werden.

Beziehungen und Ich hängen von einander ab. Tiefe und verlässliche Beziehungen fördern die Ich-Stärke, chaotische, ausbeutende, sadistische oder rein funktionalistische Beziehungen schwächen es. Wenn wir lieben, werden wir stärker. Aber wir können nicht alle und jeden lieben und nicht erwarten, von jedem geliebt zu werden, den wir lieben. Der Liebe zu allen fehlt irgendwann die Völlständigkeit, sich auf die drei Aspekte der Liebe, erotisches Begehren, Zärtlichkeit und gemeinsame Wertvorstellungen gleichmäßig und dauerhaft einlassen zu können.

Die Liebe zu Ideen, zur Menschheit, zur Natur, zu Familienmitgliedern ist anderer Natur doch auch hier kann man sich mit Gewinn für die Ich-Stärke engagieren. Auch hier wir eine zu große Breite vermutlich irgendwann auf Kosten der Tiefe gehen, könnte oberflächlich werden, das wäre wieder ein Trend in die narzisstische Richtung. Ebenso ist ist, wenn man fanatisch eine Idee über alles andere stellt, die dann überwertig wird. Das Glück liegt vermutlich darin, wenige, exklusive und tiefe Beziehungen einzugehen. Beziehungen und Ich werden dann beide stärker, freier und komplexer.