
Der Eros. Wenn man von ihm getroffen wird, ist man verloren. © It’s No Game under cc
Wie damals und dort so unterliegen die Liebesbeziehungen in der heutigen Zeit einem Wandel. Kann man absehen, wohin die Reise geht?
Liebe ist heute einerseits omnipräsent. In Filmen, Serien, Büchern, aber auch in unseren privaten Gesprächen und Träumen dreht sich vieles um die Liebe. Das ist nicht neu, denn die Liebe ist ein Dauerbrenner in den Künstn der Welt. In unserer Zeit wird der Fokus oft auf neue Formen der Liebe gelegt und heiß diskutiert. Für die einen eine lange überfällige Überwindung letzter gesellschaftlicher Schranken, für andere ein Affront und eine Verrücktheit, die als zerstörerisch oder pervers empfunden wird.
Auch bei der Überwindung von Grenzen, die die heteronormative Gesellschaft setzt, geht es um Liebe. Nämlich um den Wunsch nach Anerkennung, dass eine Liebe, die nicht den bei uns üblichen Mustern entspricht, dennoch echte Liebe ist und nicht ein Modell zweiter Klasse oder gar pathologisch. Ein kontrovers und emotional diskutiertes Thema in das Weltbilder und Selbstbilder einfließen, wie auch bei anderen Themen. Um zu sehen, wohin die Reise vielleicht geht, ist es gut zu wissen, wo sie her kommt.
Das Versorgungsmodell
Liebesbeziehungen waren in der europäischen Vergangenheit stark von einem Versorgungsmodell beeinflusst. Bis weit in die europäische Geschichte zurück, herrschte das Modell des Versorgers vor, der deshalb das Sagen hatte, weil er der Versorger war. Anders als das Klischee es will, ist vor allem die christliche Religion ein wesentlicher Faktor, der die schroffe Asymmetrie der Zeiten des alten Griechenlands und Roms schrittweise abbaute, wenn auch nicht vollständig und nicht ohne eigene Verirrungen.
Dann wurde der Staffelstab an die Aufklärung weiter gegeben und Gunnar Heinsohn erzählt eine Variante der Fortsetzung:
„“Was ist wirklich abgelaufen? Frauen, die ihre Jungfernschaft bewahren, haben über ein paar Jahrhunderte europäischer Geschichte eben dadurch Aussichten auf einen ehelichen Versorger. Dieser benötigt eine eindeutige Beziehung zum Erbsohn und deshalb die Garantie, dass der einzige Sexualpartner seiner Gattin er selbst ist. Das weibliche Geschlecht muss sich Sexualunterdrückung gefallen lassen, aber im Gegenzug gibt es – ungeachtet der Vertragsunmündigkeit – einen Status als versorgte Ehefrau.
Der Kontrakt „züchtige Hausfrau“ gegen Versorgung unterminiert schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts die Transformation des europäischen Arbeitslebens in eine mehrheitlich von Lohnabhängigen bestimmte Welt. Diese haben kein Eigentum bzw. keine eigene Wirtschaft, die ihnen im Erbkontrakt mit dem übernehmenden Sohn Alters- und Krankheitsversorgung einträgt. Rein „ökonomisch“ verliert diese zur Mehrheit werdende Schicht das Motiv zur Fortpflanzung, die sich nun in eine bloß noch emotionale und biographische Option verwandelt. Entsprechend beginnt gegen 1875 in Europa der moderne Geburtenrückgang. Da auch bei „nur“ drei oder vier, statt bisher sechs oder acht Kindern pro Mutter eine Bevölkerung weiter kräftig zunimmt, bedarf es gegen 1900 eines regelrechten Entdeckers (Wolf, 1931, 61), um das Phänomen ins öffentliche Bewusstsein zu heben, indem es bis heute eine gänzlich ungebrochene Rolle spielt.
Seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zeigen Untersuchungen, dass zunächst die höheren Angestellten nach einer Partnerin suchen, die bereit ist, selbst zu verdienen und bei der Fortpflanzung in der Tendenz gegen Null zu gehen. Da diese Berufsgruppe um die attraktivsten Arbeitsplätze kämpft, versuchen ihre Mitglieder sich dadurch Konkurrenzvorteile zu verschaffen, dass sie Zeit, Energie und Geld nicht für Familien, sondern für Qualifikation einsetzen. In dem Maße in dem diese Gruppe wächst, nimmt die Zahl männlicher Versorgungsangebote an potenzielle Ehefrauen ab. Wollen diese Frauen gleichwohl überleben, müssen sie selbst erwerbstätig werden können, also Arbeits-, Miet- und Kaufverträge abschließen dürfen. Dafür ist die Gleichberechtigung zu erkämpfen. Sie besagt nichts anderes, als dass Frauen dieselbe Vertragsmündigkeit gewinnen wie Männer. Dieser Prozess wird in der Ersten Welt noch im 20. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen.
Seitdem entwickeln Frauen zunehmend dasselbe Verhaltensmuster wie Männer. Um Konkurrenten – jetzt beiderlei Geschlechts – für attraktivere Karrieren ausstechen zu können, suchen sie eher bestmögliche Qualifikationen als eheliche Versorger. Dieser Kampf um materielle Gleichberechtigung – begonnen von den sozial ranghöheren Frauen – ist ungebrochen im Gange. Von 1875 (Deutsches Reich) bis 1975 (Westdeutschland) sacken die Geburtenzahlen pro 1000 Einwohner von 40 auf 8 herunter. (…) Der überkommene weibliche Verzicht auf voreheliche Sexualität wird mit dem Entfallen männlicher Versorgungsangebote hinfällig. Für eine Jungfernhaut bietet kaum noch jemand etwas. Also rebellieren die Mädchen gegen die herkömmlich Sexualerziehung und die Jungen profitieren ebenfalls davon. Das gegenwärtige Paradox, von den reichsten Territorien der Erde, die nicht imstande sind, sich aus eigener Fortpflanzung zu reproduzieren, löst sich also darin auf, dass Erwerbsquoten von Männern und Frauen von über 80 Prozent zwar den Reichtum steigern, aber die Verausgabung gerade der konkurrenztüchtigsten Lebensjahre für Vermehrung und Erziehung so gut wie unmöglich machen.“[1]
Das romantische Modell
So oder so, der Weg war frei für ein romantisches Modell der Liebesbeziehungen, bei denen einzig die Liebe zwischen den Partnern das entscheidende Motiv war. Es ging um alles oder nichts, das große Gefühl, vor allem auch der Männer, stand im Zentrum. Das Schmachten, das Sehnen, die Idealisierung bis zur Vergötterung, die es dem geliebten Menschen mal zu leicht machen kann, weil ja alles idealisiert werden kann und ein anderes mal zu schwer, weil die idealen Erwartungen schnell enttäuscht werden können. Wenn die Idealisierung zu groß ist und der idealisierte Mensch, als realer anderer gar nicht gesehen wird. Wenn sich also die Idealisierung um sich selbst dreht, verfehlt das romantische Modell sein Ziel, weil der andere Mensch aus dem Blick gerät. Es geht Schmachtenden nicht immer um den anderen, sondern zuweilen um das eigene große Gefühl.
Aber das romantische Modell hat eine Tür zu einer bestimmten Seite der Liebe geöffnet, die keineswegs neu ist, da die Erzählungen und Kunstwerke der Welt voll von der Stimme der Liebe sind, die immer sehr ähnlich klingt und sich selten abspeisen lässt, sondern oft aufs Ganze geht. Tod oder Glück, manchmal beides, die Leidenschaft der romantischen Liebe ist kompromisslos.
Nicht mehr der gesellschaftliche, ständische oder familiäre Nutzen entscheidet, einzig die Liebe, die innige Zuneigung zweier Menschen ist das, was zählt. Es gibt den Ausdruck, Liebe sei eine Revolution zu zweit. Liebe hat das Potential sich gegen alle Normen und Konventionen zu stellen, was nicht zuletzt daran liegt, dass Liebende und insbesondere verliebte Menschen einander selbst genügen. Alles ist schön, solange der Partner dabei ist, egal was man macht. Der Rest der Welt findet dann auch noch statt, ist aber Nebensache, die durchaus auch mit einer gewissen Leichtigkeit erledigt werden kann.
Wir wissen, dass diese Phase vorbei geht. Manche wollen sie konservieren und suchen immer wieder den Kick der Verliebtheit. Doch dann wird es wieder selbstbezogen, was dem Wesen der Liebesbeziehung widerspricht. In der richtigen Dosis zieht das romantische Modell der Liebe sowohl der Selbstbezogenheit, als auch dem Funktionalismus den Stachel. Das ist einer der Gründe, warum Liebe einerseits ersehnt wird, vermutlich von fast allen Menschen und andererseits gefürchtet, von jenen, die Menschen in Systeme einspannen wollen. Um das zu tun, muss man Menschen bestimmte Versprechungen machen, die oft an Bedingungen geknüpft sind. Liebe ist aber eine Versprechung die sich selbst erfüllt und das ganz augenblicklich, dadurch, dass zwei Menschen einander lieben. Diese Privatheit ist jenen, die andere einspannen wollen, suspekt, weil sie unkontrollierbar ist.
Die goldene Mitte
Sie ist kein schmaler Steg, sondern breit. Im Versorgungs- und romantischen Modell finden wir die beiden Aspekte der intimen Liebesbeziehungen, die Leidenschaft und die Sorge. Die romantische Idealisierung ist daher ein Aspekt, der in der Liebe immer vorkommt. Die Sorge bezieht sich nicht nur auf den oben dargestellten äußeren Teil der Versorgung, sondern meint wirklich die Sorge, das zärtliche Besorgtsein und ein echtes Interesse am anderen, den man zwar idealisiert, dennoch als eigenständigen Menschen sieht. Zugleich verschmilzt man mit ihm immer mal wieder, aus den Individuen, die aus anderen Beziehungssystemen und Konstellationen kommen wird eine Zweierbeziehung und auch die Sorge um diese Beziehung und die Bereitschaft Verantwortung für sie zu übernehmen finden wir in der goldenen Mitte.
Aus dem Miteinander zweier eigenständiger und sich wechselseitig respektierender Partner kann eine Gemeinschaft werden, die im besten Fall, was ihr Privatleben angeht, nur einander verpflichtet ist und eigene Regeln und Grenzen aufstellt. In der Sexualität können sie gemeinsam regredieren, sich sogar kurzfristig nur als Objekt betrachten, ekstatische Momente erleben und sich kurze Zeit später nicht nur als liebend verschmolzene, sondern auch wieder als eigenständige Partner wahrnehmen, von denen jeder auch seine eigenen Vorstellungn, Absichten, Empfindungen, Stärken und Schwächen hat, die man wechselseitig kennt, respektiert und schützt. Die Integration von Leidenschaft und Sorge heißt, dass sich beides nicht ausschließt und dass es dem Paar gelingt beide Aspekte zu leben, statt die Partnerschaft nur auf einen zu reduzieren.
Wo sich Funktionalismus und Narzissmus gute Nacht sagen
Wenn das Schiff der Liebe intakt ist, dann ist es sehr stabil und das auch in hoher See. Es besteht aus einer milden Form der Idealisierung, aus sexueller Leidenschaft und Zärtlichkeit, Sorge und dem Gefühl der Verantwortung für den Partner und die Partnerschaft und einem gleichberechtigten Miteinander im Alltag. Die Kritikfähigkeit muss erhalten bleiben, auf der Basis eines wechselseitigen Wohlwollens. Wenn etwas davon fehlt, bekommt das Schiff Schlagseite oder wir haben es mit anderen Modellen der Liebe zu tun, wie der Mutterliebe, die andere Aspekte betont, von Natur aus asymmetrisch angelegt ist und sein muss. Das Geschriebene gilt also vor allem für intime Liebesbeziehungen.
In der zu weit gehenden Idealisierung, zu der Narzissten neigen, wird der auserwählte Partner zunächst auf Händen getragen, doch im Schatten der Idealisierung lauert stets die Entwertung. Wer den idealen Ansprüchen nicht mehr genügen kann, weil man eben nicht immer Held oder Engel ist, fällt mitunter erschreckend schnell, tief und dauerhaft der Entwertung zum Opfer. Näheres dazu und weitere Varianten in Narzissmus in der Liebe. Wenn die Sexualität versiegt, wird das Schiff beschädigt. Da das nicht selten ist, bemüht man sich den schrittweisen Wegfall im kulturellen Klischee als Normalfall darzustellen: Weil man sich ja nun mal kennt, alles was man sich im Bett zu probieren traute nun probiert hat, das Alter, der Alltag und sowieso ist das ja auch nicht so wichtig. So versucht man sich zu beruhigen und ist auffallend verständnisvoll, wenn ein Paar bei dem es anders ist, endlich auch seine Krise hat. Dann kann man bei der Idee bleiben, dass das eben einfach so ist. Man braucht das Paar, dem die Revolution zu zweit gelingt, um selbst einen Ausblick darauf zu haben, dass es auch anders geht und es theoretisch auch wagen zu können. Aber man ist doch auch froh, wenn es von der Normalität eingeholt wird.
Werden Zärtlichkeit und Sorge nicht gelebt, kann das eine sehr leidenschaftliche Affäre sein, aber oft sterben diese daran, dass sie manchmal über Jahre im Status der Affäre bleiben, auch wenn manchmal – meistens einseitig – mehr gewünscht wird.
In der Polyamorie wird die Zweierbeziehung oft a priori als Mangelmodell betrachtet. Es ist ja logisch, dass man nicht mit einem Partner alles erleben kann. So wie man am Wochenende mit den Freunden Fußball spielt und das im Grunde doch auch kein Problem ist. Wenn man krank ist, zum Arzt geht und auch nicht zum Partner, so kann man ja durchaus noch andere Funktionen weiter aufteilen. In der Wikipedia werden neben der Abgrenzung der Polyamorie von der freien Liebe auch die Werte in der Polyamorie aufgeführt und diskutiert.
In „Schwere Persönlichkeitsstörungen“ beschreibt Otto Kernberg unter ‚Die Leugnung moralischer Verantwortung‘ den Fall einer narzisstischen Patientin, ohne antisoziale Tendenzen, die eine Beziehung zu einem Mann hat, dem sie versichert, er sei der einzige Mann in ihren Leben. Wenige Tage später geht sie eine weitere Beziehung mit einem anderen Mann ein, dem sie dasselbe versichert. Auf Kernbergs Frage ob sie darin kein Problem sähe, antwortet sie, nein, denn die Männer wüssten nichts von einander. Als er weiter nachfragt, ob sie selbst darin kein Problem sähe, verneint sie auch das, da sie aufrichtig versichert, ihre Gefühle würden sich ändern und wären, wenn sie bei dem jeweiligen Mann wäre völlig authentisch, so dass jeder der Männer sich ihrer Liebe sicher sein könne.
Kernberg führt aus, die Frau habe nicht bewusst gelogen, aber ihre Affekte seien von einander abgespalten, so dass sie keinen moralischen Druck empfindet. Sie erlebt sich selbst ganz offen und ehrlich und ist es auf eine Art auch. Das Konzept der Polyamorie ist anders. Hier wird offen kommuniziert, alle Partner sollen von einander wissen, es soll mit Respekt und verschiedenen Formen bewährter Ansätze aus der Kommunikationspsychologie auf Schwierigkeiten der Beteiligten, wie Eifersucht eingegangen werden. Ein nicht besitzergreifendes Partnerschaftsmodell gilt als eines der polyamoren Ideale. Aber Eifersucht ist nicht schlecht, nichts was zu überwinden wäre, sondern ein Signal und Aspkt der Sorge. Es ist so, dass das Fehlen von Eifersucht einen pathologischen Wert hat und auf eine narzisstische Problematik verweist, bei der dieses Fehlen typisch sein kann und die narzisstische Angst ausdrückt, von einem anderen Menschen abhängig zu sein, So wie man es ist, wenn man liebt.
Einerseits nimmt die polyamore Bewegung für sich in Anspruch, dass Gefühle eben hinfallen, wo sie hinfallen und nicht kontrolliert werden sollten, andererseits wird dem Eifersüchtigen tendenziell geraten, zu lernen mit seinem Gefühl selbst klar zu kommen. Die emotionale Beschränkung, die dem einen nicht zuzumuten ist, dem anderen dann abr doch? Das mögen Spitzfindigkeiten sein. Ist der wesentliche Unterschied nicht der, dass bei der Polyamorie alle Beteiligten freiwillig mitmachen und niemand hintergangen wird?
Fragmentierte Beziehungen
Die entscheidende Frage ist vermutlich, ob es möglich ist, mehr als einen Menschen zu lieben, ohne in eklatante Widersprüche zu geraten, bei denen man sich oder dem/n anderen etwas vor macht. Der Unterschied zwischen Polyamorie und freier Liebe ist, dass in der Polyamorie Wert darauf gelegt wird, mehr als nur sexuelle Beziehungen einzugehen, sondern die Ganzheit aus Sexualität und Leidenschaft, Sorge und Zärtlichkeit, sowie Verliebtheit zu leben und zu respektieren. Dies soll ein Ideal sein, aber ist es ein gutes Ideal?
Zwar wünschen sich die meisten Menschen Liebesbeziehungen zu zweit, aber das könnte einfach eine kulturelle Konvention sein, schließlich gibt es auch andere Modelle. Dass sie natürlicherweise in der Mehrheit sind, ist als Argument ein naturalistischer Fehlschluss. Warum also nicht einfach das, was wunderbar an der Liebe ist, vervielfältigen?
Wenn die Polyamorie sich gegen die freie Liebe abgrenzt, weil man ihre vermeintliche sexuelle Offenheit als einen Mangel erkannt hat, dann ist das ein guter Schritt. Der Mangel liegt darin, dass dort wo ein Aspekt der Liebe überbetont wird, sich die unter zwei Menschen mögliche Liebe nicht voll entfalten kann. Bei der freien Liebe wird der sexuelle Aspekt betont, die gemeinsamen Werte und der gemeinsame Alltag leiden darunter.
Doch zu Liebesbeziehungen gehört auch die Idealisierung. ‚Ich liebe dich über alles, zumindest bis Mittwoch‘, das klingt seltsam. ‚Ich liebe dich total, Maik und Saskia aber auch‘, auch das stellt die Idealisierung infrage. Liebe ist ja radikal, wenn man so will, radikal ungerecht. Man will genau diesen Menschen und keinen anderen. Da hilft es wenig, wenn man einem unglücklich verliebten Menschen sagt, dass es da noch jemanden gibt, der ähnlich aussieht und auch total nett ist. Dass die Zeit alle Wunden heilt oder andere Mütter auch schöne Töchter oder Söhne haben.
Die Liebe eines anderen Menschen ist eine Auszeichnung, gerade weil und wenn er nur mich meint. Damit zeigt er mir, dass ich ein einzigartiger Mensch bin, wert geliebt zu werden. Fällt diese idealisierende Ausschließlichkeit weg, wird die Liebe um eines ihrer Elemente beraubt und das verunsichernd.
Ein ebenfalls häufig übersehener Punkt ist, dass die Zweierbeziehung unter dem Aspekt des Mangels betrachtet wird. Was geht mir alles durch die Lappen, wenn ich mich auf diesen einen Menschen beschränke? Sicher kann man das machen, aber man kann auch die gegenteilige Frage stellen, was denn nur mit dem Partner möglich ist. Mit einem, den man lange kennt, zu dem die Vertrautheit wächst, mit dem man durch Höhen und Tiefen geht, den man im Alltag kennt, in der Sexualität und in seinen Einstellungen. Daraus entsteht eine Geschichte, die exklusiv, die unsere ist.
Die Gefahr besteht, dass sich polyamore Beziehungen im Laufe der Zeit selektieren, in jene Menschen, mit denen man vorrangig Sex oder eine bestimmte Art von Sex hat. Mit anderen kann man wunderbar reden, mit wieder anderen tolle Wochenendunternehmungen durchführen. Die einen kochen und die anderen kuscheln gerne, warum soll man etwas von jemanden verlangen, der da gar keine Lust drauf hat?
So steht der andere und die Beziehung zu ihm beständig in der Gefahr funktionalisiert zu werden. Es klingt so vernünftig mit jedem das zu tun, was er am liebsten will, weil man das ja auch am liebsten will, für jedes Bedürfnis, was man hat, einen dazu passenden Menschen. Doch das lässt andere zu Dienstleistern in eigener Sache werden, ein Modell, was wir aus der missverstandenen Esoterik der 1980er kennen. War man mit der Religion der Gesellschaft aus der man stammte nicht einverstanden, so konnte man entweder Atheist werden oder meinte in der Esoterik die Lösung gefunden zu haben. Man bastelt sich seine Religion einfach selbst. Yoga meets Buddhismus, dazu ein paar Spritzer Hexenkult und Schamanismus, plus die Gesundheitsrezepte eines Naturvolkes und fertig ist der Gemischtwarenladen für alle Fälle des Lebens. Leider tötet das die Heilskraft, weil nun die Religion oder auch die Spiritualität, in der man etwas Größeres finden könnte, als das eigene Ich und der man sich hingeben könnte, funktionalisiert wird und zum Teil des eigenen Ichs gemacht wird. Man nimmt sich, was man braucht und wann man es braucht.
Auch Liebe lebt davon, dass man sich ihr hingibt und das hat immer etwas Schicksalhaftes. Liebe trifft einen, der Eros mit dem Pfeil, man kann sie sich nicht aussuchen. Die Gefahr in der die Polyamorie meines Erachtens steht, ist, dass sie genau das kopieren könnte, Liebe mit dem unzureichenden Werkzeug der instrumentellen Vernunft auf eine komplexere Dienstleistung reduziert und somit den Zauber der Liebe tötet.
Es klingt so vernünftig und durchdacht. Wenn auch der Rekurs auf die natürlicherweise häufig gewählte Zweierbeziehung ein Fehlschluss ist, so folgt daraus nicht – auch das wäre ein Fehlschluss, ein falscher Umkehrschluss – dass sie ein falsches Modell wäre. Der Verlust von Zärtlichkeit und Sorge in der freien Liebe ist ein Problem, der Verlust der Idealisierung ist jedoch auch eines. Die Möglichkeit ganz im Moment immer jemand anders zu lieben, betrachtet Kernberg als Leugnung moralischer Verantwortung. Ich glaube, dass das stimmt, denn ein zentraler Wert der polyamoren Liebe ist das nicht besitzergreifende Verhalten, doch diese fast politisch anmutende Forderung steht quer zur Idealisierung in der Liebe, die natürlich in extremer Weise wertet. Nur die oder der soll es sein.
Indem man Wertungen verweigert, verweigert man Festlegungen und meint, so aus dem Schneider zu sein. Zu Verwirrungen führt dies, weil der Partner anders empfinden könnte und polyamor lebende Menschen es offenbar auch tun. Die Leugnung moralischer Verantwortung funktioniert nur auf dem Boden eines erodierenden Wertesystems. Aber die Integration eines intakten und stabilen Wertesystems, eines Gewissens, ist ein fester Bestandteil eines gesunden und stabilen Ichs.
„In ihrem grundlegenden Werk „Kreativität und Perversion“ (1984) beschreibt Chasseguet-Smirgel die „perverse“ Lösung von Kindheitserlebnissen, die die traumatischen Implikationen, die Teil der gewöhnlichen menschlichen Entwicklung sind, in hohem Maße potenzieren. Ausgehend von der ödipalen Situation als universalem menschlichen Konflikt beschreibt Chasseguet-Smirgel zunächst das narzisstische Trauma des Kindes, von den intimen Beziehungen der Eltern ausgeschlossen zu sein und nicht in der Lage zu sein, mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil um den andersgeschlechtlichen Elternteil zu rivalisieren. Dieses Trauma wird durch die universale Verführbarkeit verstärkt, deren Ursprung in den unbewussten erotischen Strömungen liegt, die das Kind mit dem andersgeschlechtlichen Elternteil verbinden, sowie der Kastrationsangst als archaischer Ausdrucksform der unbewusst gefürchteten Bestrafung für die ödipalen Wünsche, zu denen Inzest und Mord gehören. Die außergewöhnlich starke Wirkung dieser Traumata im Falle schwerer Entwicklungspathologien mündet, so Chasseguet-Smirgel, in die „perverse Lösung“:
- Verleugnung des Geschlechtsunterschiedes, um die Kastrationsangst abzuwehren;
- Verleugnung des Altersunterschieds, um Inzest zu legitimieren; und
- Verleugnung der privilegierten Funktionen der Genitalien.
Diese abwehrbedingte Verzerrungen führen dazu, dass nunmehr alle körperlichen Aspekte gleich sind: Es gibt keine Alters-, Geschlechts- und Organunterschiede. Diese universale Gleichwertigkeit zerstört jedes Gesetz und jede Ordnung, sie leistet einer mit Sexualität verdichteten Aggression sowie einer „analen“ Verwandlung der Objektbeziehungen Vorschub, in dem Sinne, dass die Beziehung zu einem Objekt eine völlig undifferenzierte, entwertende und ausstoßende Qualität enthält.“[2]
Die angestrebte, nicht besitzergreifende und damit nicht auswählende Gleichwertigkeit zerstört damit und dadurch jedoch auch das Fundament jener ethisch hohen Werte, denen sich die Polyamorie verpflichten möchte.
Wohin geht die Reise?
Warum so viel über die Polyamorie? Der Anteil der Menschen, die bei uns so leben und lieben, wird extrem gering sein. Aber vielleicht ist die Polyamorie, die sich durchaus widerständig gibt, ja mehr als ihre Anhänger selbst glauben möchten Teil einer verbreiteten Einstellung, die von einem Funktionalismus auf allen Ebenen gespeist wird. Dieser ist nicht allein auf die Liebe beschränkt, aber er macht vor ihr nicht halt. In Es ist nicht so, wie Du denkst führten wir aus, dass Geld sozial distanziert, weil man nicht mehr nett und hilfsbereit sein muss, sondern sich zur Not alles kaufen kann. Alles? Sex kann man kaufen, Sorge in Form von Zeit und Pflege auch, aber Idealisierung? Sicher, auch einen Motivationstrainer, der einem täglich erzählt, dass man der Größte ist, könnte man sich mieten, aber das ist eine falsche Idealisierung.
Echte Idealisierung ist das Gefühl der authentischen Bewunderung, des Anhimmelns. Das Gefühl, dass die Welt in Ordnung ist, weil es diesen anderen Menschen gibt und dass sie großartig ist, weil ich Zeit mit ihm verbringen darf. Man weiß, dass zu viel Idealisierung schlecht ist, weil die Symmetrie zwischen den Partnern zerbricht. Dann wird nur einer bewundert, das ist das Modell Motivationstrainer. Den idealisiert man nicht, man bezahlt ihn, damit er es mit uns tut. So gut wie immer merken wir den Unterschied. Es verunsichert und tut weh, nicht die Zuneigung zu bekommen, die man braucht. Dagegen hilft das falsche Größenselbst der Narzissten, das sich halbwegs erfolgreich einreden kann, niemanden zu brauchen oder Geld, das den Schmerz vermindert.
Geld ist ein heikles Thema. Es bringt einige dazu den Kapitalismus anzuklagen, alles zur Ware machen zu wollen oder gemacht zu haben. Vieles daran mag stimmen, dennoch ist es zu kurz gesprungen, denn der Trend zum Funktionalismus entstand vermutlich zugleich mit dem, was wir heute hoch schätzen. Mit der Aufklärung, dem konsequenten Materialismus und dem Naturalismus. Alles wurde auf Funktion und Nutzen reduziert, Sinn, Wert und Ziel wurden zunehmend als veraltet dargestellt oder zu etwas erklärt, was einen sozialen Nutzen hat. Darüber hinaus sei da aber nichts ist, was man ernst nehmen muss. Etwas ironisch formuliert: Weil man es nicht messen kann.
Und so wird erklärt und erklärt, was Liebe (angeblich) wirklich ist und worum es in Wahrheit geht. Um die Sicherung der Fortpflanzung, wobei wir wissen, dass Liebe und Sex sich längst radikal von diesem biologischen Programm abgekoppelt haben. Um irgendeine Suche von ihm, um sich zu schmücken und von ihr, um sozial aufzusteigen. Um Versorgung, Macht und Immunsysteme, die gut zueinander passen. Es geht um Statistiken, soziologische Erhebung, Koitusfrequenzen und Durchschnittsmaße, die historische Betrachtung, dass die Sexualität mal sehr offen gelebt und dann wieder schamhaft versteckt wird. Alles wird irgendwie sehr technisch, wobei – erneut: nicht nur in der Liebe – die innere Seite zu kurz kommt.
Da macht es dann schon fast nichts mehr, wenn die Liebe weiter geschreddert wird zwischen Dating-Apps, Pornos und neuer Verklemmtheit. Denn das Thema ist in allen Fällen gleich. Ob Liebe als Ware und Dienstleistung daherkommt, als evolutionsbiologisches, neuronales Programm oder gesellschaftliche Nützlichkeit, in allen Fällen wird das Innen übergangen und eine der Nützlichkeiten wird von ihren Anhängern als die wichtigste heraus gegriffen.
Durch viele Varianten, die mit allerlei Konventionen brechen wollten und wollen, wie der freien Liebe oder der Polyamorie, wird der Funktionalismus und Narzissmus, die einander ohnehin bedingen, weil Narzissten gute Opportunisten sind und Kontrolle für beide Genannte interessant ist, weiter verstärkt. Der Kapitalismus mengt sich elegant darunter, ist ein weiterer Verstärker, aber nicht die alleinige Ursache. Das Zweckdenken ist an sich kein Übel, die Reduktion innerer Beziehungen und äußerer Abläufe allein auf dieses Zweckdenken das Problem.
Es begegnet uns in vielen Bereichen, die wir würdigen, in der Wissenschaft, der Wirtschaft und immer mehr bis hinein in die Beziehungen zu Familie, Freunden und in unsere Liebesbeziehungen. Das Problem sind die vielen kleinen Schritte, in denen diese Wendung des Blicks und der Einstellungen Normalität geworden ist.
Liebesbeziehungen in der heutigen Zeit: Wohin geht die Reise? In Richtung einer immer stärkeren Fragmentierung, Isolierung von Gefühlen und Gedanken. Dagegen steht manches. Viele haben keine Lust mehr auf diese Art zu leben. Immer mehr Menschen begreifen die komplexen Zusammenhänge dahinter. Nicht zuletzt redet die Liebe noch ein kräftiges Wort mit. Sie ist, wie sie ist und an ihr haben sich schon viele zu Zähne ausgebissen. Liebe als Revolution zu zweit ist noch immer eine reale Option.
Quellen:
- [1] Gunnar Heinsohn, Söhne und Weltmacht, 2003, Orell-Füssli, S. 44Ff
- [2] Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression – Ein unzertrennliche Beziehung, Schattauer 2014, S. 325f