Im Gegensatz zu den qualitativen Richtlinien, denen ein Psychotherapeut genügen sollte, sind sexuelle Grenzüberschreitungen im Rahmen einer Psychotherapie oft ein Tabuthema. Betroffene Klienten sind sich nicht selten unsicher, inwiefern es sich bei den Näherungen des Psychotherapeuten tatsächlich um sexuelle Übergriffe in der Therapie handeln könnte. Außerdem wissen sie nicht, an wen sie sich wenden können, wenn sie Anzeichen einer sexuellen Übergriffigkeit wahrnehmen.

Sexuelle Übergriffe in der Therapie ernst nehmen

Problematisch wird es, wenn die Übergriffe vom Therapeuten selbst – so man ihn zur Rede stellt – oder gar von Institutionen heruntergespielt werden. Schnell sind vor allem die weiblichen Patienten verunsichert und glauben, sich alles nur eingebildet zu haben. Zunächst einmal ist es für die Betroffenen wichtig, sich über die entsprechenden Beschwerdewege zu informieren. Darüber hinaus kann es hilfreich sein, die stattgefundenen Übergriffe für sich zu notieren, um etwaigen Verwaschungen der Wahrnehmung durch andere entgegenzuwirken.

Frau mit Brille und Mann tauschen Blicke aus

Sexuelle Übergriffe in der Therapie: Wie nah ist zu nah? © Bernt Sønvisen under cc

Sexuelle Übergriffe in der Therapie sind eine dramatische Form des Vertrauensmissbrauchs, wie der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Dr. Werner Tschan in seinem Buch Missbrauchtes Vertrauen beschreibt. Schließlich soll sich der Klient in einer Therapiesitzung seelisch öffnen, seine Ängste und Schwächen vorbehaltlos preisgeben. Schutzwälle und Hemmungen werden abgebaut. Das Therapeut-Klient-Verhältnis wird zu einer sehr persönlichen, fast abhängigen Dyade, die eine hohe Verletzlichkeit für den Klienten mit sich bringt. Professional Sexual Misconduct, also sexuelles Fehlverhalten im Therapiekontext, kann erhebliche Folgen für die Opfer haben. Sie leiden unter Umständen noch Jahre später an Depressivität, missbräuchlichem Substanzkonsum, Ängsten und sozialer Isolation.

Welche Anzeichen für sexuelle Übergriffe in der Therapie?

Sexuelle Übergriffe im Rahmen des psychotherapeutischen Kontextes sind immer und zu jeder Zeit tabu. Selbst wenn der Klient sich seinerseits mit eindeutigen Signalen an den Therapeuten richtet, liegt die Verantwortlichkeit, auf diese Annäherungen einzugehen, beim Therapeuten. Zu einer Grenzüberschreitung gehören bereits zu enge Kontakte außerhalb des therapeutischen Settings. So sind Kontakte via Telefon, Mail oder Messenger, die nicht unmittelbar in Zusammenhang mit therapeutischen Absprachen stehen, ein Warnzeichen für einen zu intimen Kontakt. Sobald ein Therapeut sich nicht an den Bedürfnissen des Klienten orientiert, sondern den therapeutischen Rahmen für seine emotionalen, psychischen, körperlichen und sexuellen Bedürfnisse missbraucht, reden wir von einer Übergriffigkeit. Das Machtungleichgewicht in der Therapeut-Klient-Dyade wird ausgenutzt.

Welche weiteren Anzeichen für intime Übergriffe in der Therapie gibt es?

Emotionaler Missbrauch in der Therapie

Die Übergriffe müssen nicht zwingend sexuell geartet sein. Emotionale oder seelische Übergriffe, die auf die Manipulation der Psyche des Klienten abzielen, können gesondert stattfinden oder aber den sexuellen Übergriffen vorausgehen.

  • Der Klient dient der Selbsterhöhung und Bewunderung des Therapeuten. Er hat das Gefühl, ihm gefallen zu müssen und sich dessen Wohlwollen sichern zu müssen.
  • Abstrafende Blicke, Missbilligung und eventuell Maßregelungen finden statt, wenn der Klient sich nicht nach den Vorstellungen des Therapeuten verhält.
  • Eine stark vertrauliche, fast familiäre/freundschaftliche Atmosphäre wird geschaffen, wie beispielsweise Therapiestunden, die in den privaten Räumlichkeiten des Therapeuten stattfinden, Geschenke und andere Aufmerksamkeiten.
  • Es gibt vertrauliche Informationen vom Therapeuten hinsichtlich seiner familiären Situation, partnerschaftlicher Probleme etc. Oder auch sein Einbringen persönlicher, wenn nicht sogar sexueller Erfahrungen.

Nichtwahren des Therapiekontextes

Wenn es im therapeutischen Setting zu Abschottungen während der Sitzungen kommt, sollten Klienten hellhörig werden. Andersherum aber auch, wenn die Grenzen zwischen Therapie und Privatem fließend zu sein scheinen.

  • Das Behandlungszimmer wird abgeschlossen während der Sitzung.
  • Der Klient erhält vorzugsweise Termine am Abend oder gegebenenfalls auch am Wochenende.
  • Das Anbieten von persönlichem Kontakt außerhalb der Therapiesitzungen wird vom Therapeuten als unverfänglich und harmlos dargestellt.
  • Es wird von der Therapiesitzung in ein privates Treffen übergeleitet und vielleicht sogar Alkohol angeboten.
  • Der Klient erhält eine bevorzugte Behandlung, indem die Sitzungen zeitlich überschritten werden, bei Privatzahlern Ermäßigungen gewährt werden oder kostenlose Extrasitzungen angeboten werden.
  • Eventuell finden Bitten um kleinere Gefälligkeiten oder Dienstleistungen für den Therapeuten statt (irgendetwas abholen oder mitbringen, auf jemanden aufpassen etc.).

Sexuelle Übergriffe während der Therapie

Frau mit blonden Haaren vor Bild mit Mohnblumen

Unabhängig von der Therapieform: Das Hilfesuchen wird von professionellen Therapeuten niemals ausgenutzt. © Tom Britt under cc

Sexuelle Übergriffe in der Therapie fangen häufig mit kleineren Anzeichen an. Es wird sozusagen ausgelotet beziehungsweise sich vorgetastet, in welcher Art der Klient auf die Anzüglichkeiten des Therapeuten reagiert.

  • Es gibt tiefere Blicke oder kleinere Flirts mit dem Klienten oder zweideutige Aussagen.
  • Außerdem gibt es Komplimente zur Kleidung oder dem Erscheinungsbild des Klienten.
  • Das Thema wird immer wieder auf die Sexualität gebracht (Erfahrungen, Bedürfnisse etc.), obwohl es inhaltlich nicht von Bedeutung ist.
  • Es gibt Annäherungen über Kosenamen wie Liebchen, Spatz, Kleines etc.
  • Das Trösten erfolgt über Körperkontakt. Auch sonst finden vermehrt Berührungen statt.
    (Bei körperbetonten Therapieformen ist die Grundlage des Körperkontaktes immer das therapeutische Mittel und niemals eine emotionale oder sexuelle Annäherung. Die Therapieform und die Art des Kontaktes wird im Vorhinein besprochen.)

Annäherungen oft subtil

Nicht alle genannten Anzeichen müssen zutreffen. Selbstredend ist die Aufzählung nicht erschöpfend und dient nur einer ersten Richtungsweisung. Therapeuten, die sich mit der Absicht von sexuellen Übergriffen in der Therapie dem Klienten nähern, tun dies oft subtil. Es geschieht mehrdeutig und scheinbar wie ganz nebenbei. Manchmal ist es nur ein flüchtiger Augenblick oder eine kurze Berührung und ehe der Klient sich fragt, ob eine sexuelle Komponente mitschwang, ist der Moment auch schon vorüber. Diese Perfidität ist es, die das Erkennen von sexuellen Übergriffen in der Therapie so schwierig macht. Es kann helfen, sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen und sich nach der Sitzung Notizen über das Geschehen zu machen. Oft spürt man schon ganz intuitiv, dass etwas nicht stimmt.
Viele Klienten wagen es nicht, sich gegenüber dem Therapeuten zu positionieren. Ein klares Nein und ein »Ich möchte nicht, dass Sie mich anfassen« oder ein »Ich möchte nicht über meine Sexualität sprechen« ist eine deutliche Grenzziehung, die vorgenommen werden kann. Schlussendlich hilft das Informieren bei den entsprechenden Stellen in Bezug auf sexuelle Übergriffe in der Therapie – und bei einem anhaltend schlechten Bauchgefühl der Wechsel des Therapeuten.