Wie objektiv kann eine Diagnose sein?

Hat man erst mal ein System gewählt, folgt aus einem Impuls auch etwas. Evonne under cc

Eine schwierige Frage, bei der man genau werden muss. Man muss erklären was man mit objektiv meint. Einmal meint objektiv so viel wie neutral und unvoreingenommen, was die Skizzierung eines Ideals darstellt, aber als Menschen hat man immer irgend einen Standpunkt oder eine Perspektive und sei sie aus der Methode, die man verwendet, geboren.

Insofern lautet die andere Definition für objektiv, im Grunde, dass man seine Methode, sein Vorgehen, für alle nachvollziehbar, veröffentlicht. So habe ich es gemacht, dabei bin ich zu diesen und jenen Ergebnissen gekommen. Wenn man sich auf eine Methode und damit auch theoretische Lesart festgelegt hat, dann folgen daraus auch logische Folgerungen, theoretischer und praktischer Art.

Aber es gibt nicht die eine, über alles erhabene Methode, die in allen Fällen richtig ist. Für die Psychiatrie sind es oft fehlgeleitete Neurotransmitter, für die Verhaltenstherapie ist es falsch erlerntes Verhalten, was man wieder abtrainieren kann, für die Psychoanalyse sind es unbewusste Antriebe, das sind schon an der Oberfläche sehr verschiedene Theoriegebäude und man geht heute pragmatisch vor und schaut, was, bei welcher Symptomatik am besten hilft, sofern man das beurteilen kann.

Objektivität ist hier also immer nur eine relative, auf das gewählte System bezogene Größe, denn auch was Gesundheit oder Normalität ist, ist keineswegs klar und unumstritten. Aus der Vielfalt der Ansätze resultieren dann auch Formen der Leugnung, in dem man sagt, die seien sich ja selbst nicht einig, was einerseits stimmt, aber andererseits folgen aus einer ersten pragmatischen Festlegung dann auch weitere Schritte, das heißt, wenn ich psychische Probleme als falsch erlerntes Verhalten ansehe, ist es folgerichtig, das richtige oder erwünschte Verhalten zu trainieren.

Doch es gibt auch Vorbehalte ganz anderer Art gegen die Psychodiagnostik, denen wir uns jetzt widmen wollen.

Ideologische Einwände gegen Psychodiagnosen

Psychodiagnosen treffen in aller Regel auf zwei konträre Einwände, die ich exemplarisch einmal am Christentum festmache (man kann dies auf andere, vor allem monotheistische Religionen und konservative Postionen ausweiten), auf der anderen Seite stehen marxistische und ideologisch linke Einwände. Kurz gesagt, ist den eher ideologischen Anhängern des Christentums vor allem Freuds Psychoanalyse zu liberal, weil es hier auch um eine Bewusstwerdung sexueller Antriebe geht, denen nach einer konservativen Auffassung des Christentums ein klarer Platz zukommt: Sie dienen der Fortpflanzung und sollten jenseits dieses Nutzens möglichst wenig betrieben und erwähnt werden. Dass es gerade in den Kirchen zu Fällen systematischer sexueller Übergriffe gekommen ist, macht diese Lesart etwas brisant. Wohl nicht nur, aber auch deswegen, schwinden die Mitgliederzahlen der Kirchen seit Jahrzehnten, zumindest bei uns.

Aber auch darüber hinaus, vertritt die konservative Auffassung von Religion ein patriarchales Weltbild und Freuds Analyse verweigert sich der Koalitionsbildung. Freud war stolzer Atheist, schätzte nach heutigem Kenntnisstand die Religionen falsch ein, aber in seiner Analyse hatten Verbrüderungen mit dem Eltern- oder Über-Ich keinen Platz. Die Psychoanalyse sollte weltanschaulich neutral sein, man sollte sich nicht mit dem strengen Über-Ich gegen das Es, das rebellische Kind, gegen kreative, spontane und sexuelle Impulse verbünden.

Genau diese Einstellung machte die Psychoanalyse in den 1960er Jahren und danach interessant für die marxistischen und linken Interpreten, die sich mit Freuds Analyse gerne gegen das Patriarchat, das Über-Ich, den Vater, den Staat und alle Autoritätsfiguren verbünden wollten. Ein Missverständnis, denn auch die Koalitionsbildung mit dem Es ist eine Positionierung die bei Freud nicht vorgesehen war. Äquidistanz war sein Stichwort, eine gleichbleibende Distanzierung von dem Es und dem Über-Ich des Patienten und damit auch von der ideologischen Einstellung, die dahinter steht. Das strenge Über-Ich sieht überall nur ungezogene Kinder, das Es sieht überall nur Drangsalierung und Unterdrückung. Zu Beginn der 1980er ging diese Koalition zwischen Psychoanalyse und Marxismus in die Brüche, weil Psychoanalytiker feststellten, dass der abwesende Vater und die damit verbundene Unterstrukturierung, zu viel gravierenderen Problemen führte – nämlich zu schweren Persönlichkeitsstörungen – als der strenge Vater – nämlich tendenziell zu neurotischen Störungen.

Für politisch Linke war Freuds Analyse dann fortan zu bürgerlich und es wurde und wird Analytikern und darüber hinaus der Psychotherapie und Psychiatrie in Gänze vorgeworfen systemerhaltend, statt systemkritisch zu agieren. Was ungefähr heißt, dass Psychotherapeuten ihre Patienten vornehmlich fit für den Arbeitsmarkt machen und ihnen jedes nicht konforme Verhalten austherapieren wollen. Einer der wenig reflektierten Aspekte hierbei ist, dass das was systemstabilisierend ist, manchmal auch das ist, was ichstablisierend ist, zum Beispiel Arbeit. Die Betonung der Beziehungsfähigkeit, die andere Seite von Freuds pragmatischem Ziel, wird manchmal, aus linker Sicht, als Besitzdenken interpretiert. Besser sei die freie Liebe der 68er oder neuerdings das Konzept der Polyamorie. Hier sollt man jedch die Argumente auch der Psychologie ernst zu nehmen: Eine Weigerung oder Unfähigkeit sich festzulegen und damit auf Verantwortung für die ernsthaften Gefühle des anderen zu übernehmen, geht oft mit dem Bild einer schweren Persönlichkeitsstörung einher und es ist nicht einzusehen, warum die linkstheoretische Interpretation a priori richtiger sein sollte, als eine psychologische. Ob die Freiheit der Borderline-Störung sich dann wirklich immer so frei anfühlt, kann meines Erachtens nur der behaupten, der die Symptomatik unzureichend kennt. Dass sich andererseits viele Narzissten an prominenten Positionen die Freiheit nehmen und unbeeindruckt von Kritik tun, was sie wollen, ist nun auch nichts, was allgemeinen Jubel auslösen muss.

Die Probleme der Diagnostiker

Andere Probleme haben Diagnostiker, die in Gerichtsprozessen oder bei inhaftierten Straftätern die Gefährlichkeit und die Möglichkeit einer Wiederholungstat einschätzen müssen. Diese Menschen sind nicht zu beneiden, weil Fehler bei der Einschätzung mitunter gravierende Folgen haben. Es ist eine Katastrophe, wenn jemand, dem eine gute Sozialprognose attestiert wird, unmittelbar nach einer Entlassung rückfällig wird. Diese Fälle, je gravierender und medial interessanter, umso mehr, gehen natürlich rauf und runter durch die Presse, eine gelungene Resozialisierung ist keine Zeile wert.

So kommt es, dass psychologische Gutachter tendenziell eher konservativ agieren, was natürlich für Menschen, die sich wirklich geändert haben, ungeheuer enttäuschend ist. So kommt es zu Fällen, in denen Gutachter eher auf der sicheren Seite sein wollen und ab und zu zu Skandalen, in denen es echte Opfer des Gutachterwesens gibt, bei denen Gutachten über Menschen verfasst werden, die der Gutachter nie gesehen hat.

Doch Diagnosen aus dem Rechtswesen sind eher Sonderfälle, eine andere Frage ist, ob der Patient seine Diagnose, gerade weil sie jemanden herunter ziehen kann, überhaupt wissen muss. Die Antwort ist tendenziell pragmatisch, es ist sinnvoll, wenn der Patient – der natürlich das Recht hat, seine Diagnose zu erfahren – therapeutisch von dem Wissen profitiert. Wo dies nicht der Fall ist, kann man einfach schauen, ob sich jemand im Laufe der Zeit besser fühlt, denn das ist ja das Ziel der Therapie.

Tipps für Diagnosen

Man kann Diagnosen im Einzelfall begründet misstrauen, aber ein generelles Misstrauen ist nichts, was einen weiter bringt. In der Mehrzahl der Fälle will man ja etwas von dem Therapeuten und man darf Therapeuten guten Gewissens unterstellen, dass sie – bis zum Beweis des Gegenteils – das Beste für ihre Patienten wollen. Schwierigkeiten im Verlauf einer Therapie sind der Normalfall, da Therapie in jeder Hinsicht herausfordernd ist, hier gehen wir gesondert auf Probleme in der Therapie ein.

Ein Punkt ist mir durch die Jahre immer wichtiger geworden: Misstrauen Sie definitiven Prognosen! Insbesondere im Bezug auf eine (un)mögliche Heilung. Man soll Patienten nicht unrealistisch das Blaue vom Himmel versprechen und oft ist mir eine bodenständige Auffassung sympathischer als eine überschwängliche. Realismus ist der eine Punkt, er kann aber auch in Sadismus übergehen, besonders dann, wenn betont wird, dass ein Krankheit unheilbar sei, man immer etwas zurück behalten werde und man sich darauf für den Rest des Lebens einstellen müsse. Menschen sind nicht nur körperlich unterschiedlich gestrickt, sondern auch psychisch und so leicht man unter vermeintlichen Lappalien zusammenbrechen kann, ebenso sehr ist unsere Psyche resistent und mit einer Kraft zur Gesundung ausgestattet, über die man oft nur staunen kann. Es gibt sehr sehr wenige Erkrankungen, die nach heutiger Auffassung unheilbar sind und deren Lebensqualität sich nicht bessert, ansonsten kann man sogar manchmal inmitten und durch psychische Erkrankungen einen ganz anderen Zugang zum Leben finden, es muss nicht der schlechtere sein.

Vertrauen Sie sich selbst! Leichter gesagt, als getan, vor allem, wenn die eigene Welt gerade einstürzt. Es ist keine Schande zwischenzeitlich Hilfe zu brauchen, es ist gut, wenn man diese annehmen kann, aber letztlich lebt man immer auch sein Leben und kann für dessen Qualität viel tun. Auch vermeintlich schwere Erkrankungen, wie Psychosen haben faszinierende Momente, Stavros Mentzos spricht von der schöpferischen Kraft der Psychose, aber jede innere Spannung kann eine Quelle der Kunst sein. Tipps, Hilfen, Deutungen und Trainings sind immer nur Krücken, um es letztlich zu schaffen mit seinem Leben wieder klar zu kommen, da Therapie so gut wie immer ein Bewusstwerdungsprozess ist, oft besser, als vorher klar zu kommen. Das muss nicht immer ein therapeutischer Weg sein, erinnern Sie sich an Dirks Geschichte, eine, wie es zunächst scheint, voller Entbehrungen, doch Dirk findet sein neues Leben besser, als sei altes. Aber das eigene Leben nimmt einem niemand ab.

Es besteht jedoch kein Grund eigenes Wohlbefinden, gegen die Anprangerung diverser Missstände auszuspielen. Man muss nicht depressiv sein, um die Lage der Welt halbwegs klar zu analysieren. Man ist kein schlechter Mensch, wenn man sich in der Welt und seinem Leben wohl fühlt, lassen Sie sich das nicht einreden.

Wer einmal durch die Maschen fällt, sei es durch eine falsche Diagnose oder auch durch eine richtige, hat es schwer manchmal wieder auf die Beine zu kommen, weil Stigmatisierungen durchaus real sind. Schauen Sie, wem Sie vertrauen können, gar nicht so selten kann man den Eindruck gewinnen, dass ein Leben abseits der Norm durchaus nichts Schlechtes sein muss, Normalität muss einen nicht immer begeistern.

Stimmt meine Diagnose? Gehen Sie, wenn nicht gravierende Gründe dagegen sprechen, davon aus, sehen Sie es als Auftakt zu einer längeren Reise in die eigenen Innenwelten und legen Sie vor allem wert darauf, dass Sie am Ende der Reise reifer, weiter und im besten Fall glücklicher sind.