Ist das heute eigentlich noch so?

Baumarktgang

Der kühle Funktionalismus der Baumärkte, den auch immer mehr Frauen für sich entdecken. © Kai ‚Osawald‘ Seidler under cc

Nein. Eine uns alle verbindende Normalität gibt es in vielen Bereichen des heutigen Lebens nicht mehr und etliches von dem, was früher als normal galt, hat sich geradezu radikal verändert. Um nur einige Bereiche aufzuzählen: Die digitale Revolution ist wohl tatsächlich eine, sie hat unseren Alltag und unser Sexual- und Kommunikationsverhalten radikal verändert, noch ist unklar, ob dies nur eine Verzerrung gängiger Stil ist oder eine neue Art einer permanenten Gesellschaft zu leben.

Unser Bild von Familie, der Bedeutung von Mann und Frau und Fragen nach der sexuellen Orientierung haben sich radikal gewandelt. Aber auch die Grenzen zwischen Mann und Frau, Mensch und Tier, Privatheit und Öffentlichkeit unterliegen einer stark veränderten Betrachtung. Das Ansehen der Kirchen sinkt, wie das der Volksparteien und anderer Großorganisationen, dafür wird an der einen oder anderen Stelle die Macht des Einzelnen[link] oder kleiner Gruppen spürbar. Aber auch der Glaube an kollektive Mythen wie sichere Renten, blühende Landschaften oder Geld durch kluge Anlagen zu verdienen, zerbricht. Konjunktur hat die Überzeugung, dass die Zeit drängt und wir etliche Probleme nicht mehr aufschieben können gleichzeitig existieren neue Technoutopien, die von Unsterblichkeit[link] und einen vollständig durchoptimierten Leben künden.

Letzteres ist Zukunftsmusik, ganz gegenwärtig sind jedoch die beschriebenen Umbrüche und damit kommen wir zu der alles entscheidenden Frage, wie gut oder schlecht, folgenreich oder folgenlos dieser Wandel ist. Inmitten der Veränderungen kann man nicht absehen in welche Richtung sie gehen werden, aber da es sich um schleichende Prozesse handelt, die mitunter schon seit Jahrzehnten laufen, kann man Tendenzen beobachten.

Diverse Normalitäten – Bereicherung oder Gefahr?

Viele Veränderungen betreffen unser Verständnis ganz elementarer Dinge, Sachverhalte und Beziehungen. Das gilt für deren kollektive Ebene der Neubewertung etwa in Fragen der Geschlechterverhältnisse und sexueller Ausrichtungen, aber ebenso, für den privaten Bereich und das Welterleben von Kindern.

Bei vielen Betrachtungen über Eltern und ihre Kinder, Nutzen und Risiken von Kitas, werden die psychoanalytischen Erkenntnisse außen vor gelassen. Es wird geschaut, wie die Kinder sich entwickeln, ob sie gravierende Schäden davon tragen und immer wieder kommt heraus, dass die Kinder sich auch dann mehr oder weniger problemlos entwickeln, wenn sie weit weniger Kontakt zu ihren Eltern haben, als früher, weil diese getrennt leben oder beide arbeiten müssen oder einer von ihnen weit weg ist. Doch was heißt es eigentlich, sich gut zu entwickeln? Reibungslos in der Gesellschaft zu funktionieren und sich dort wohl zu fühlen, ist sicher ein Kriterium, kaum diskutiert sind aber bestimmte psychische Schutzfunktionen klassischer Konstellationen, die es heute immer weniger gibt, der andere Punkt ist ein gewisse Kritikfähigkeit gegen Fehlentwicklungen in der Gesellschaft zu behalten. Die Macht der Normalität besteht auch darin diese Schutzfunktionen zur Verfügung gestellt zu haben.

Klassisch der Ödipuskomplex, der abnimmt, weil die Rolle der Väter eine andere ist. Der Mann ist generell abgewertet, viele Ehen sind geschieden, manche Männer die soundsovielten ‚Väter‘, die das Kind erlebt oder es lebt in Patchworkfamilien. Der Ödipuskomplex ist ein neurotischer Konflikt, der sich in klassischen Familien nahezu zwingend ergab, indem der Vater vom kleinen Jungen (und im Elektrakomplex, die Mutter vom kleinen Mädchen) als übermächtige Konkurrenz angesehen wird, sowohl, was sexuelle Phantasien angeht, als auch in anderen Bereichen, bei denen die das Kind überragenden Fähigkeiten der Erwachsenen deutlich werden. An diesem Konflikt mussten sich die Kinder später abarbeiten, was gelingen oder scheitern konnte. Gelang es den Vater in sich, sein internalisiertes Bild, zu töten, also zu überwinden, war man selbst erwachsen, da man in der Regel von einer umsorgenden Mutter aufgezogen wurde, war auch deren Bild, Rolle und ihre Normalität verinnerlicht.

Die Struktur dieser Beziehung war klar hierarchisch, die Eltern waren die Chefs, der Vater vielleicht noch einmal besonders, es gab recht klare Regeln und im Zweifel hatten die Eltern recht, auch wenn sie sich irrten. Im Laufe der Zeit lernten Kinder über Freunde und deren Familien andere Lebensmodelle kennen, die der Eltern zu hinterfragen, irgendwann recht radikal und am Ende steht zumeist eine eigene Synthese, in der neue Ansätze und Inspirationen mit alten Normalitäten fusionieren.

Der Weg, den ödipalen Konflikt zu überwinden erscheint mühsam und daher könnte man meinen, es sei ein Vorteil, wenn er einfach wegfällt. Wenn Kinder von Anfang an viele Meinungen, Möglichkeiten und Lebensansätze kennen lernen, kann das nur ein Vorteil sein, warum soll man erst etwas lernen, was man nachher wieder verlernen muss und was obendrein noch als problematisch bewertet wird, nämlich Hierarchie und Asymmetrie. Doch genau diese Asymmetrie bildet auch den Schutz, denn da gibt es jemanden, dessen Meinung mehr wert ist, als die aller anderen. Manche kennen das noch, als die Aussage: „Solange du deine Füße unter meinen/unseren Tisch streckst, wird hier gemacht, was ich/wir sage(n).“ Frustrierend, aber auch klar, wenn die Regeln sich nicht täglich ändern und die Eltern sich nicht dem sadistischen Genuss hingeben, ihre Kinder aus purer Lust zu demütigen. Das andere Problem tritt auf, wenn die Kinder die kleinen Könige und Prinzessinnen sind und die Eltern gegen einander ausspielen oder von diesen idealisiert werden.

Der innere Weg der Kinder

Mindestens einige Aspekte der Kindheit werden als nahezu paradiesisch angesehen, darunter das Leben im Mutterleib. Auch das ist wohl hier und da stressig, in der Regel aber ein wohltemperiertes Dasein, bei gedimmtem Licht, in dem man für nichts sorgen kann, es aber auch nicht muss, nicht mal atmen, essen und trinken muss man selbst. Das ändert sich mit der Geburt, nun muss man selber ran und ist von der Mutter leiblich getrennt, doch in aller Regel sind Mutter und Kind éng verbunden und die Mutter spürt oft intuitiv, wann sie nach ihrem Kind schauen muss.

Da Mutter oft wie gerufen kommt, hat das Kind den Eindruck, geradezu magisch mit ihr verbunden zu sein, ein Bild, was sich Kinder nicht nehmen lassen und wenn Mutter nicht wie vorgesehen und gewünscht erscheint, kann es sich bei ihr nicht um die gute Mutter handeln, so entsteht neben der allgemeinen Gut/Böse Dichotomie oder Polarität, das Bild der nur guten und der nur bösen Mutter, als Blaupause für spätere nur gute und idealisierte oder nur böse und entwertete andere.

In der nächsten Phase glauben Kinder nicht mehr, dass sie selbst magische Fähigkeiten haben – schon Piaget wies nach, dass Kinder in einem magischen Weltbild leben – aber weiterhin, dass es solche besonderen Menschen gibt, darunter ihre Eltern, die allerlei Fähigkeiten haben, die die Kinder nicht verstehen können. Oder besser gesagt, auf ihre Art deuten, nämlich so, dass die Eltern über magische Kräfte verfügen müssen, bei all dem, was sie können. Manchmal scheinen sie Gedanke lesen zu können und sind an Kräften und Möglichkeiten dem Kind weit überlegen. Eine schöne, klare, manchmal frustrierende, aber auch sichere Welt, wenn man weiß, dass man letztlich unter dem Schutz dieser Halbgötter steht.

Was hier noch mal aus einer anderen Sicht erzählt ist, mündet letztlich recht organisch in die Vorstellung vom Ödipuskomplex, nur wird hier eben auch der Nutzen dargestellt Halbgötter als Eltern zu haben, die dann nach und nach entzaubert und zu Menschen werden, mit all ihren Stärken und Schwächen. Eine Sicht, die das Kind lernen muss zu ertragen, denn je menschlicher die Eltern werden, desto eigenverantwortlicher und erwachsener muss das Kind sein.

Aber aus dieser Sicht sieht man schöner, was passiert, wenn die Eltern sich nicht als Götter oder wenigstens überragend starke Wesen präsentieren, zu denen man aufschauen kann. Das Kind bleibt dann sozusagen in magischen, präodipalen Struktur stecken und bleibt auch dabei sich allmächtig und großartig zu fühlen. Eine der Krankheiten unserer Zeit (das Prinzip Narzissmus), auch wenn sie aus einer Ich-Schwäche erwachsen.

Eine weitere Ausprägung des Narzissmus ist, dass man sich opportunistisch an alles anpassen kann, weil echte innere Überzeugungen fehlen. Jene Überzeugungen, die das Kind aus der eigenen Familie aus der stillen und erstaunlichen Macht der Normalität kennen könnte, indem es nach und nach den Regeln hinter den konkreten Taten und Worten erkennt. Falls es da etwas gibt, was zu erkennen ist, wo Regeln diffus oder widersprüchlich sind, sind Kinder gezwungen ihre eigene Weltsicht zu konstruieren, in der sie dann oft im Mittelpunkt stehen, aus Not, mangels Alternative.

Dies ist die persönliche Seite der Überangebote in denen Vater und Mutter ihrer privilegierten Stellung beraubt sind und alle Geschichten und ihre Erzähler annähernd gleichberechtigt sind. Es folgt die kollektive Seite.