Der Sinn der Psychotherapie ist nicht allen bekannt, was auch in der Natur der Sache liegt. Die Natur der Sache, das sind verzerrte Sichtweisen, die Patienten, aber auch Therapeuten haben können, beide haben ihren jeweiligen Anteil am Gelingen oder Misslingen einer Therapie. Ein Nervenkitzel, oft für beide Seiten.

Wir alle wollen Aufmerksamkeit, in der Psychotherapie bekommen wir sie dann. Damit könnte man bereits in der ersten Stunde einer Therapie am Ziel sein, denn die ungeteilte Aufmerksamkeit eines anderen ist eine Situationen, die man im Leben nicht oft erlebt. In der frühen Phase der Liebe, der Verliebtheit kann das der Fall sein, oder wenn man eine Person des öffentlichen Interesses ist: Politiker, Showstar, Sportler, manchmal auch Künstler, Intellektueller oder Wissenschaftler. Aber die frühe Phase der Liebe endet über kurz oder lang und selbst öffentliche Menschen werden irgendwann zu privaten und können damit nicht immer gut umgehen. Aufmerksamkeit kann auch eine Droge sein, mitsamt der Problematik beim Entzug.

Im normalen Leben haben wir gelernt, dass wir uns Aufmerksamkeit oft verdienen müssen. Durch besondere Leistungen, manchmal auch durch besondere Anfälligkeiten. Hier nun bekommen wir sie einfach so und können damit zumeist nicht viel anfangen. Einfach so ist natürlich übertrieben, man muss schon was mitbringen, ein Problem. Und eine für viele hohe Hürde überspringen, nämlich Hilfe zu brauchen, alleine die Lösung des Problems nicht zu finden. Aber das ist klar, sozusagen die Grundbedingung dafür zum Psychotherapeuten (hier ist stets auch die weibliche Form, Psychotherapeutin/Therapeutin mitzudenken und gemeint, gleiches gilt für „den Patienten“) zu gehen.

Da hat man sie also nun, die ungeteilte Aufmerksamkeit. Der Sinn der Psychotherapie ist unter anderem dem Patienten diese Aufmerksamkeit wirklich zukommen zu lassen, ganz für ihn da zu sein, während der Zeit der Sitzung. Manche können diese kleine Bühne nutzen, fassen Vertrauen und können sich in dem geschützten Raum der therapeutischen Begegnung endlich mal Luft machen und die Seele ausschütten. In diesen Fällen ist das schon fast die Therapie. Man kann noch ein wenig ordnen und unterstützen, bei seiner Intuition zu bleiben, doch wenn der Knoten mal geplatzt ist, ist es die vornehmste Aufgabe demjenigen, der für sich das Problem benennen und vielleicht sogar schon eine Lösung in Sicht hat, nicht im Weg zu stehen. Das gibt es, einige Therapieformen sind sogar darauf angelegt, dass der Patient stets genügend Kompetenzen besitzt sich selbst zu helfen. Manchmal ist das auch so, zuweilen aber auch nicht.

Übertragung

Alte Dame als Negativ

In der Übertragung erscheint der andere auf einmal merkwürdig verändert. © Enrico under cc

Dann kommt es zu dem Phänomen, dass man mit der ungeteilten Aufmerksamkeit zunächst nichts anfangen kann, sich unter Druck fühlt oder sogar argwöhnisch wird. Unter Druck, die Stunde füllen und irgendwas Interessantes bieten zu müssen: „Ich bin so unglücklich, aber eigentlich auch nicht wirklich, ich weiß ja, dass es anderen viel schlimmer geht, aber trotzdem geht es mir auch nicht gut, aber vielleicht bin ich auch nur undankbar und ich weiß gar nicht, ob ich hier überhaupt richtig bin …“ . So und ähnlich schwirren Patienten oft zermürbende Gedanken voller Zweifel durch den Kopf, auch den Druck den Therapeuten nicht zu langweilen.

Der Argwohn liegt in plötzlich aufkommenden Zweifeln über die Motive des Therapeuten. Der macht das doch nicht einfach nur so, mir zuzuhören. Das macht niemand. Warum macht der das eigentlich? Ist der überhaupt wirklich an mir interessiert? Oder nicht vielmehr an dem Geld was er bekommt? Dann heuchelt der doch nur Interesse. Nach mir kommt irgendeine Frau Meier, dann ein Herr Schulze, man kann sich ja nicht für alle interessieren.

Und so erscheint vielleicht schon nach sehr kurzer Zeit der Therapeut in einem ganz anderen Licht. Gar nicht mehr interessiert an mir, sondern am Geld oder seinem Ruf oder einfach gelangweilt, als jemand, der es gelernt hat, seine Zeit mit interessiertem Gesichtsausdruck abzusitzen. Das sind in aller Regel Übertragungen. Übertragungen sind im Grunde Projektionen, also Motive, die man anderen, in dem Fall Therapeuten in die Schuhe schiebt, ohne es zu wissen.

Doch diese Übertragungen sind nicht schlecht, falsch oder böse, sondern genau das, was man haben will. Denn der Therapeut macht in aller Regel etwas sehr Ungewohntes, er deutet. Deutet, aber bewertet dabei nicht. Das kennen wir nicht. Deutung ist im normalen Leben so gut wie immer (und abhängig von der Herkunft) mit Wertungen verbunden. Das ist an sich auch nicht falsch, weil Kinder Deutungen, Erklärungen und Bewertungen brauchen, um ihre Welt zu verstehen und einzuordnen. Kinder sind noch nicht in der Lage, das was sie hören, erleben und das, was generell nicht erwähnt wird, kritisch für sich zu sortieren und so kommen im normalen Leben Deutungen und Bewertungen sehr häufig zusammen vor. In 10.000en kleiner und größerer Erfahrungen verinnerlicht man dann im Laufe der Zeit das, was als gut und schlecht gilt. Das gibt uns eine erste Struktur und Möglichkeit die Welt zu verstehen, aber nicht immer ist diese erste Struktur für den Rest des Lebens ausreichend, denn man entwickelt Schritt für Schritt eine eigene Persönlichkeit und kommt mit anderen Ideen von Welt in Kontakt. Durch Freunde und Bekannte, Bücher, Filme und so weiter.

Die ersten Welterklärungen sitzen sehr tief und man streift sie nicht einfach so ab, im Gegenteil, durch ihr Verinnerlichen werden sie zu „meiner Weltsicht“, obwohl sie oft weitreichend übernommen ist. Die so gelernten Regeln sind oft brauchbar, da man sich ja im Kreise der Herkunftsfamilie bewegt und eben in jener Gesellschaft, aus der auch die Herkunftsfamilie stammt. Sie passen nur nicht auf alle anderen Mitglieder der Welt, die ja ihre jeweils eigene Herkunft haben.

Phantasien über den Therapeuten sind Übertragungen, in denen alte Muster aktiviert werden. Das geschieht, weil der Therapeut zwar deutet, aber nicht beurteilt. Das heißt in der Welt des Patienten fehlt irgendwie die zweite Hälfte, die Be- und manchmal auch Verurteilung. Die denkt der Patient dann mit, der vielleicht als Deutung „Neid“ angeboten bekommt und gleicht mitdenkt, dass der Therapeut ihn jetzt verurteilen wird, weil man nicht neidisch zu sein hat, weil Neid schlecht ist. Und wenn der Therapeut das nicht sagt, so nicht deshalb, weil er es nicht denkt, sondern weil er es verschweigt. So fühlt man sich nicht aufgehoben, sondern hintergangen.

Ein mutiger Patient könnte dann irgendwann fragen: „Wieso sagen Sie mir eigentlich nicht, dass Sie mich unmöglich finden?“ und der Therapeut könnte antworten: „Wieso glauben Sie, dass ich Sie unmöglich finde?“ und könnte erklären, dass es nicht seine Aufgabe ist, den Patienten zu verurteilen oder zu bewerten, sondern ihm zu helfen, mit dem Leben besser klar zu kommen. Doch die ersten Missverständnisse sind nicht leicht auszuräumen und der Sinn der Psychotherapie ist es auch nicht, dies zu tun und eine oberflächliche heile Welt zu etablieren, in der man sich nett und mit Floskeln über wechselseitige Gemeinsamkeiten austauscht. Die Aufgabe der Therapie ist es diese Ebene zu zerstören und weiter zum Kern der Überzeugungen des Patienten durchzudringen. Und wenn der nach einiger Zeit zu der Überzeugung gelangt, der Therapeut sei doch im Grunde ein Mensch wie jeder andere, von den gleichen Motive durchdrungen und mutig genug ist, das auch auszusprechen, ist das kein Fehler, sondern großartig. Die Übertragung läuft, der Patient ist bei dem gelandet, wo man therapeutisch hin möchte, etwa zu der Frage: „Wie sind die denn so, alle anderen?“ Dann hat der Patient die Chance zu erzählen, wie er die Welt sieht und je mehr ihm im Laufe der Zeit klar wird, dass er sich dafür nicht rechtfertigen muss, umso mehr wird er offen erzählen.