Zu sich finden und stehen: Manches kann man gut, anderes nicht
Eigentlich ist auch das so banal, wie es klingt. Doch der Umgang mit eigenen Schwächen gelingt den Starken nicht, zu stark die Scham und das Misstrauen den anderen gegenüber. Und auch die Schwachen scheitern hier, indem sie das, was sie nicht können, oft maßlos überbewerten und damit ein eigenes Fortkommen verhindern. Wenn ich nicht in ein Flugzeug steigen kann, ist mein Leben nichts wert, meint man dann.
Die gesunde Wurschtigkeit der Normalen ist es, die ihnen hier abgeht. Wer sich in der Mitte der Gesellschaft stehend fühlt, profitiert von dem sicheren Gefühl, dass man völlig normal ist. Die Schwachen fühlen sich der Normalität nicht gewachsen und die Starken hassen sie. Der Vorteil der Normalität ist, dass man in aller Bescheidenheit eine sehr große Spannbreite des Lebens leben kann. Man darf an dem vermeintlich Banalen und Durchschnittlichen Freude haben und sich kopfüber hinein stürzen. Manche Menschen, die sich als normal empfinden, haben mindestens so große reale Probleme wie manche „Unnormale“, sie leben nur mit der inneren Überzeugung, normal zu sein.
„Mein Mann muss immer mit, wenn ich ins Kaufhaus gehe, alleine kann ich das nicht“, kann man dann hören, von Menschen, die das nicht sonderbar finden. Es ist halt einfach so. Zu dieser soliden und irgendwo auch selbstbewussten Wurschtigkeit kann man hinfinden und der Eintrittspreis sind die nächsten Extrawürste, die man gerne hätte und auf die man verzichten muss. Auch wenn es viele Individualitäten und Details gibt, die in einer Therapie besprochen und erarbeitet werden sollten: dies ist eine Art Zwischenziel und einer von vielen zu sein und die Normalität verkörpern zu können, wenn man will, ist ungeheuer entspannend. Man steht nicht ständig im Fokus, wie die Ich-Schwachen es von sich meinen. Doch die Starken wird das nicht überzeugen, sie können den Verlockungen der Normalität in aller Regel so gut wie nichts abgewinnen. Sie müssen anders motiviert werden und ein wenig Glück haben.
Der Schock

Der Schock einer plötzlichen Erkenntnis kann helfen. © Casey Fleser under cc
„Der Schatten ist die Hölle. Ist wirklich der Abgrund schlechthin“, sagt Thorwald Dethlefsen, der für klotzige Bilder bekannt geworden ist.[1] Und er führt weiter aus, dass die Erkenntnis des Schattens kein kleines Nebenthema ist, was man im Fernsehsessel und ein paar Erkenntnissen über sich abhakt. Nein, von Zeit zu Zeit kann ein Fenster aufgehen und man kann begreifen: Das bin ja ich. Meistens ist es der Bereich, zu dem man eine besondere Affinität hat, mit dem man in der Projektion und bei Menschen mit Ich-Schwäche viel häufiger, in projektiver Identifikation, verbunden ist.
In der Projektion schiebt man sein Thema einem anderen in die Schuhe und ist es dann auch wirklich los, zumindest was das Empfinden angeht. Bei der projektiven Identifikation ist das Thema nicht einfach irgendwo geparkt, sondern man bleibt mit dem anderen und damit mit der eigenen Emotion gefühlsmäßig verbunden. Wenn alle aggressiv, neidisch oder durchtrieben und manipulativ sind, ist das mein Thema. Ein finsteres Thema, aber eines, vor dem man in der Regel gut geschützt ist, die anderen sind es ja, die so sind. Kompliziert daran ist, dass das, was man einigen anderen da unterstellt, durchaus stimmen kann. Das lässt oft Fragen und Streitereien aufkommen mit dem Inhalt: Ist es nun (m)eine projektive Identifikaion oder ist er / sie wirklich so? Das eine schließt das andere nicht aus.
In aller Regel funktioniert die Verinnerlichung von dem, was später projiziert wird, so: Man ist als Kind bestimmten Bedingungen gegenüber ausgeliefert. Nun gibt es leider auch Eltern, die ihre Kinder schlecht behandeln. Man braucht nicht darüber zu reden, welche verheerenden Folgen sexueller Missbrauch oder chronische Gewalt anrichten können. Aber darüber hinaus gibt es noch andere zerstörerische Angewohnheiten. Wenn Regeln ständig und nach willkürlichen Launen geändert werden. Wenn Kinder nur Aufmerksamkeit bekommen, wenn sie irgendwelche tollen Leistungen bringen, sie ansonsten aber nicht stören dürfen. Wenn Kinder ausschließlich gelobt werden. Wenn man Kindern gegenüber seine Macht und Überlegenheit genüsslich demonstriert. Passiert das häufig, haben die Kinder die Idee, dass die Welt eben so ist. Sie verinnerlichen ihr Erlebtes als normal und gehen mit dieser Einstellung auch in die Welt. Die Dauer und Intensität des Erlebten und das Temperament des Kindes sind dabei mitentscheidende Faktoren.
Sind diese Erlebnisse erst einmal verinnerlicht, steht für die Kinder fest, dass die Welt ganz einfach so ist. Wie sollte sie auch sonst sein, eine Alternative kennen sie nicht. Lernen sie Alternativen kennen, kommen ihnen diese eher merkwürdig bis falsch vor, lernen sie andere kennen, die genauso so agieren, wie sie es kennen, fühlen sie sich eher in deren Gegenwart zu Hause und es ist bestätigt, dass die Welt eben so ist. Das mag nicht schön sein, aber konstant und verlässlich. Es gehört nicht viel Phantasie dazu sich auszumalen, wie die Geschichte nun weiter geht. Immer wenn das Kind ein bekanntes Muster sieht und erkennt, fühlt es sein Weltbild bestätigt, abweichende Muster kommen ihm fremd und komisch vor, in denen bewegt es sich auch nicht geschickt, es eckt dort an und wird eventuell verstoßen, aber kalte Ablehnung, Desinteresse oder sogar aggressive Zurückweisung durch andere, die es dann erlebt, kennt es wieder und fühlt sich erneut bestätigt: Die Welt ist so.
Mir ist dieser Punkt sehr wichtig, weil in ihm viele Mechanismen zusammen laufen, die man verstehen muss, will man unschöne Diskussionen vermeiden. Man muss verstehen, dass man es an der Stelle manchmal und leider mit Menschen zu tun hat, die einen ideologisch motiviert bewusst falsch verstehen wollen und mit anderen, die einen nicht richtig verstehen können, dennoch ist es wichtig, hier am Ball zu bleiben. Wenn ein Kind, das zu Hause dauerhaft abweisend, kalt und aggressiv behandelt wurde, sich in emotional wärmeren und offenen Konstellationen bewegt, wird es sich dort fremd fühlen und linkisch verhalten und eventuell das Verhalten agieren, unter dem es selbst leidet. Wenn es daraufhin ausgegrenzt wird, so ist das einerseits selbstverschuldet (auch die anderen Kinder oder Eltern, Kindergärtnerinnen reagieren ja nur) und andererseits schicksalhaft, das Kind kann nicht anders, es hat nie normales Verhalten lernen können.
Andererseits fühlt sich das Kind in kalten und aggressiven Strukturen auch eher „wohl“ als in warmen und mitfühlenden, denn die kennt es nicht und ist das Muster von Kälte, Manipulation oder gar Sadismus internalisiert, wird es auch diesen empathischeren Strukturen misstrauen. Das ist ab einem bestimmten Punkt nicht mehr mit ganz viel Liebe, Wärme und Bindung zu kompensieren, so gut gemeint dieser Ansatz auch sein mag und so gut er bei anderen auch klappen kann. Das Kind wird auch diesen Strukturen gegenüber misstrauisch und aggressiv sein. Der Einzelfall entscheidet hier und dabei die Frage, wie tief Aggressionen in die Psyche eindringen konnten und als normaler Umgang empfunden wird.
Mit dieser misstrauisch-aggressiven Deutungsweise ausgestattet, blickt man in die Welt und sieht natürlich in jedem und allen Aggression, Manipulation und Machtgelüste. In einigen Fällen sind diese Beobachtungen durchaus real und man fühlt sich wieder bestätigt: So ist die Welt eben. Andere funktionieren wiederum ganz anders, sie sind empathisch, wohlmeinend, freuen sich mit anderen, doch in den Augen eines Menschen, der viel Kälte, Desinteresse, Entwertung und Aggression erlebte, ist das fremd. Und er interpretiert dieses Verhlten als Heuchelei, als Trick, wird es skeptisch und abfällig betrachten und sich misstrauisch und linkisch verhalten, wenn er mit normal netten Menschen konfrontiert ist. Denn er „weiß“, die Rechnung kommt später. Ohne Hintergedanken oder Manipulation macht kein anderer Mensch irgendetwas. Das ist die tiefgefühlte Überzeugung und da endlose Monate und Jahre, in denen man Spitzenaffekten ausgesetzt war, unendlich mehr die Psyche beeinflussen als warme Offenheit und Normalität, die man später sicher auch mal kennen lernt, ist klar, was hier in der Psyche dominiert. Mit dieser Überzeugung wird man groß und die legt man so schnell auch nicht mehr ab. Jede bestätigende Erfahrung wird zum „Siehste, hab‘ ich doch immer gesagt“, jede abweichende Erfahrung wird uminterpretiert: „Klar, der tut so nett. Das tun alle, die was im Schilde führen.“
Doch in all dem Elend kann es sein, dass irgendwann später mal, in einer Therapie, weil man ein Buch liest, sich intensiv unterhält, man träumt oder meditiert, ein Fenster aufgeht und in einem Moment der Klarheit die Erkenntnis vor einem steht: „Verdammt, das wogegen ich so kämpfe, das bin ja ich.“ Die Ambivalenz liegt darin, dass es in mir liegt und ich dennoch nichts dazu kann. Man ist an diesem Punkt Täter und Opfer, eingespannt in eine tragische Schuld, die man sich so gewiss nicht gewünscht hat. Diese Ambivalenzen sind schwer zu ertragen und noch viel schwerer ist zu ertragen, was die Folgen sind: Dass ich keine Schuld habe, dass es so gekommen ist, aber Verantwortung dafür, wie es weiter geht. Dass die Prämissen meines ganzen Lebens vollkommen anders sind, als ich bislang aus tiefster Überzeugung dachte und fühlte. Man muss, kurz und gut, noch einmal sein gesamtes Leben umschreiben, die Geschichte des eigenen Lebens neu erfinden und erzählen und das ist nicht die Korrektur einer Hausaufgabe, die man noch mal eben überarbeitet, sondern es rührt an den Grundfesten.
Der Schock, und wohl nur er, ist der Moment, in dem diese festgefahrene Geschichte kippen kann und es ist der Moment, der kaum zu ertragen ist, weil so viel daran hängt: Tausend Ereignisse, in denen man erkennt, was man anderen angetan hat und in denen etwas von Ferne dämmert, was man sonst nicht kannte: Das schamhafte Gefühl, ein Trottel zu sein, mischt sich mit Trauer und Mitgefühl über das, was man anderen all die ganzen Jahre angetan hat. Das ist das Gefühl, was nun kaltes Entsetzen auslöst, aber eben auch diese andere Seite anrührt: Trauer, Bereuen, den Wunsch nach Wiedergutmachung. Dieser Moment kann nur ein Schock sein und man braucht Glück dazu. Er ist eine der schönsten Hilfen auf dem Weg zur Ich-Stärke. Man darf ihn nicht verklingen lassen, sonst wird er begraben und vergessen. Er ist eine Chance zu einem Neubeginn, auch in Fällen, in den man oft denkt, es gäbe keine mehr.
Vorsicht vor Instrumentalisierungen
Wo das Erleben deutlich weniger als ein Schock ist, ist es in aller Regel nicht echt. Der Schock bringt gerade mit seinem Entsetzen den Schub an Motivation, der einem hilft, den beschwerlichen und unattraktiven Weg in Angriff zu nehmen. Die intelligente Variante unter den Menschen mit Ich-Schwäche lernt recht schnell, was andere erwarten und erfüllen diese Erwartungen brav, routiniert und ohne emotionale Beteiligung. Mit entsprechend schauspielerischem Talent kann man auch Reue und dergleichen anknipsen und eine großartige Show abliefern, stets auf den eigenen Vorteil abzielend. Da wird geweint, versprochen und alle Schuld der Welt auf sich genommen, nur damit alles wieder gut wird und gut heißt dann oft, manipulativ wie eh und jeh, ob klein und schwach oder stark und böse. Tief innen von der Überzeugung getrieben, dass die Welt ein Spiel ist oder ein Kampf mit allen Tricks und dass man auf dieser Ebene der überlegene Spieler ist. Man kann die anderen um den Finger wickeln, weil man so böse und mächtig ist, oder so klein und schwach.